Versuchskaninchen in Mannheim

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Versuchskaninchen in Mannheim

Wie es sich anfühlt, drei Tage lang in einer fremden Stadt Versuchskaninchen zu sein. Warum ich zwar nichts Neues über mich erfahren, trotzdem aber viel über mich gelernt habe. Und was die Mannheimer mit Hobbits zu tun haben.


Die letzte Studie ist geschafft. Das letzte Kreuzchen ist gemacht. Die letzte Frage ist beantwortet – jetzt darf der Kopf abschalten. Wenn man mich hier so sitzen sieht, Sonnenbrille im Gesicht, FlipFlops an den Füßen, Kaffee auf dem Tisch – man könnte fast denken, ich sei im Urlaub. Von oben scheint die Sonne, vor mir das bunte Treiben auf dem Mannheimer Marktplatz.

Ich bin ganz froh um diese Auszeit. Die letzten Tage waren doch ziemlich anstrengend. Auf jeden Fall mehr Arbeit als Urlaub. Und nun habe ich noch etwas Zeit, bevor mein Zug zurück nach München fährt. Also kann ich ein bisschen Gedanken sortieren.

Mein Weg nach Mannheim

Aber von vorne: Mannheim? Ja, richtig gelesen. Diese Stadt ist sowas wie der Hotspot Deutschlands wenn es um die Borderline Persönlichkeitsstörung geht. Also, was die Forschung dazu angeht. Warum Mannheim? Keine Ahnung, liegt vielleicht an Martin Bohus, den ich mal als die Koryphäe Deutschlands bezeichnen möchte, wenn es um Borderline geht. Und der sitzt eben hier.

Wie ich auf die Seite der klinischen Forschungsgruppe 256 gestoßen bin, weiß ich gar nicht mehr so richtig. Jedenfalls saß ich vor einigen Wochen an meinem Rechner vor einem Formular, mit dem man sein Interesse verkünden konnte, bei klinischen Studien zur Erforschung der Borderline Persönlichkeitsstörung teilzunehmen. Da ist die Dommi natürlich sofort dabei! Also, Formular abgeschickt. Dann folgten einige E-Mails und Telefonate und schließlich stand fest, dass ich im September für einige Tage zum Zentralinstitut für Seelische Gesundheit nach Mannheim fahren würde,um an diversen Untersuchungen und Studien teilzunehmen.

Seit ich auf den Link gestoßen bin habe ich keine Sekunde drüber nachgedacht, nicht wenigstens zu versuchen an den Studien teilzunehmen. „Kein Fortschritt ohne Forschung“ – würde ich mal meine Einstellung zusammenfassen. Eines meiner Ziele ist, die Situation für mich und alle anderen Betroffenen zu verbessern. Dazu gehört ein immer besseres Therapieangebot. Und das wiederum braucht eine Grundlage. Daten, Ergebnisse aus denen gelernt und dank derer die Behandlung immer gezielter, umfassender und erfolgreicher werden kann.

Und dafür braucht es eben uns Borderliner. Wahrscheinlich werden viele der Ergebnisse – so was kann ja leider Jahre dauern – mir selber gar nicht mehr zu Gute kommen. Aber all den Borderlinern, die nach mir kommen werden – und das werden leider ziemlich viele sein – denen können wir helfen, indem wir heute den Forschern Einblick in unsere Köpfe, den Mechanismen und Abläufen darin geben.

Und deswegen bin ich also am Dienstag Morgen am Hauptbahnhof in München in den Zug gestiegen. Um meinen Kopf der Forschung zur Verfügung zu stellen. Mit allem was da drin so abgeht.

Studien im Quadrat

Die Studien an sich will ich euch hier gar nicht im Detail nacherzählen – weiß auch gar nicht, ob ich das eigentlich dürfte. Ich saß auf jeden Fall viel über Fragebögen aller Art, habe Kreuzchen gemalt wie eine Weltmeistern. Saß vor Bildschirmen und Tastaturen, habe Kopfhörer aufgesetzt bekommen und mir wurde eine stumpfe Klinge samt Kunstblut auf den Arm gedrückt. Was genau welche Studie untersucht, worum es jeweils ging – keine Ahnung. Aber ist wahrscheinlich auch ganz gut so, denn sonst hätte ich vielleicht nicht mehr „echt“ agiert.

Alle Termine fanden in den Quadraten, also der Innenstadt von Mannheim statt. Nicht nur die forschenden Abteilungen sondern auch die psychiatrische Klinik an sich sind hier in der Innenstadt. Ziemlich ungewöhnlich, werden doch gerade diese Abteilungen gerne an den stadtrandigsten Stadtrand verbannt. Hier aber gilt: mittendrin statt nur dabei.

Von meinem Hotel direkt am schönen Wasserturm gelegen hab ich alles fußläufig erreichen können. Mehr als 20 Minuten war ich nie unterwegs. Und manchmal ganz dankbar für die Verschnaufpausen. Generell hatte ich zwischen den Terminen immer Gelegenheit, ein bisschen abzuschalten.

Die Organisation war wirklich super. Ich hatte eine sehr nette Ansprechpartnerin, die sowohl im Vorfeld als auch während meines Aufenthaltes für mich da war, mich am Bahnhof empfangen hat, die wichtigen Orte gezeigt und mein Feedback entgegen genommen hat. Auch alle anderen Menschen, die hier mit mir zu tun hatten, waren äußerst nett und immer darum bemüht, dass es mir gut geht.

Was die Kosten angeht: da hab ich natürlich keine. Von der Zugfahrt übers Hotel und den Eisbecher in der Mittagspause wird alles vom ZI übernommen. Darum muss man sich also keine Gedanken machen. Das heißt jetzt nicht, dass ich im teuersten Lokal vor Ort den Kaviar in rauen Massen bestellt habe. Aber es ist schon angenehm, sich nach der ein oder anderen intensiven Einheit mit einer Kleinigkeit selbstverfürsorgen kann, ohne ans Geld denken zu müssen.

Leben im Quadrat

Mannheim ist schon irgendwie eine abgefahrene Stadt. Das liegt hauptsächlich daran, dass es in der Innenstadt – den Quadraten – keine Straßennamen sondern nur Nummerierungen gibt. Ein bisschen wie beim Schiffe versenken. Das sieht dann so aus. Man wohnt hier also nicht in der Hauptstraße 7, sondern in M2. Das gilt zwar wirklich nur für die Innenstadt, aber die ist gar nicht mal so klein.

Der Stadtkern ist eine Mischung aus arabischen Supermärkten, der klassischen westlichen Einkaufsmeile mit H&M & Co, schicken und nicht so schicken Wohnhäusern und schön-schicken alten Gebäuden. An den Rändern kommen ein paar historische Prachtstücke wie das Schloss – in dem sich heute die Uni befindet – oder der Wasserturm dazu.

Und dann natürlich Wasser. In Form von Flüssen. Die Ufer von Rhein und Neckar werden nicht nur von mir zum Laufen benutzt. Naherholung vom Feinsten. Und perfekt um am Mittwoch zu Sonnenaufgang mit einer schönen 8-Kilometer Runde den Tag zu begrüßen. Am Horizont geht die Sonne auf, irgendwelche mittelgebirgigen Hügel am Horizont, der Fernsehturm wird nach und nach immer mehr angestrahlt – einfach toll.

Neben der höchste Dönerbuden-Dichte die ich je gesehen habe ist mir vor allem die Buntheit der Stadt aufgefallen. Definitiv laufen hier mehr Migrationshintergründe rum, als ich es aus München gewohnt bin. Ob das daran liegt, dass der Anteil hier so viel höher als in München ist oder weil die Stadt so viel kleiner ist, kann ich nicht sagen. Hier konzentriert sich eben alles auch auf einen kleineren Raum. Das ist mir aber eher so am Rande beim Rumschauen aufgefallen.

Von Hobbits und Elben

Viel mehr aufgefallen ist mir die gefühlte Offenheit. Ganz Reiseverrückte und Entdeckerin die ich nun mal bin habe ich die Zeit vor, zwischen und nach meinen Terminen genutzt, um die Stadt zu erkunden. Gehend, laufend, sitzend. Und dabei ist mir diese Atmosphäre immer wieder aufgefallen. Der entspannte, freundliche Umgang miteinander – da merkt man erstmal, wie zugeknöpft so ein durchschnittlicher Münchner eigentlich ist.

Irgendwie sind die Leute „normaler“ hier. An den Tischen um mich rum, die Menschen auf der Straße – wo ich jetzt so drüber nachdenke muss ich an die Hobbits denken. Nicht so geschniegelt und poliert wie die Münchner Elben. Sondern echter. Vielleicht einfacher, vielleicht auch ein bisschen rauher. Aber auch echter. Eben mehr wie die gutmütigen, lebensfrohen Bewohner des Auenlandes.

Und ich hab mal wieder gemerkt, wie sehr das schöne München mich verwöhnt – oder verzogen – hat. Mit seiner großstädterischen Art und Weise. Wie, es gibt nicht an jeder Ecke Bioläden und alternative Cafés?Aber ich hab auch gemertk wie schön es ist, mal aus der Münchner-Hipster-Blase raus zu sein. Keine Haidhausen-Mamis, die einen mit ihren Lastenrädern fast umfahren. Keine hinter riesigen Sonnenbrillen versteckten Gesichterhaufen. Hat halt alles so seine Vor- und Nachteile. Auch das Leben in der schönen Großstadt München.

Ich liebe München, nicht falsch verstehen. Aber so aus der Ferne fallen einem wohl einfach so manche Macken der eigenen Heimatstadt nochmal ganz anders auf.

Wer noch einen schönen Artikel über Mannheim lesen will – die ZEIT hat da vor einiger Zeit mal was ziemlich gutes und treffendes veröffentlich: Mannheim – Unterschätzt im Quadrat

Mein Resümee

Drei Tage – zwei Zugfahrten – zwei Nächte. Klingt nicht nach viel. War’s aber irgendwie doch. Denn ich hab nicht nur eine neue Stadt kennengelernt. Sondern auch wieder so einiges über mich gelernt.

Auf der einen Seite war nichts neues dabei. Aus den Diagnostik-Gesprächen hat sich nichts wirklich Neues ergeben. Keine Überraschungen für mich. Alles bekannt Diagnose-Kumpel von mir.

Was ich aber in den zum Teil intensiven Fragestunden quasi nicht mehr übersehen konnte: wie verdammt weit ich in den letzten Monaten gekommen bin! Wie oft habe ich mich in den diversen Interview sagen hören „Ja, früher war das so. Aber inzwischen kann ich damit ganz gut umgehen.“ oder „Ja, kenne ich. Ist aber heute nicht mehr so.“

Vor allem ist mir bewusst geworden, wie viel stabiler meine Stimmungen sind. Wie viel gelassener als früher ich bin. Wie viel selbstsicherer und auch mutiger ich geworden bin. Hauptverantwortliche für diese Veränderungen ist für mich ganz klar die Achtsamkeit. Seit sie und auch die Meditation in mein Leben getreten ist, hat sich so vieles so stark verändert.

So viel von meiner Anspannung, meiner Symptomatik und meinen Problemen hatte den Ursprung darin, dass mein Kopf mich so schnell in die Vergangenheit, die Zukunft, in Gedankenschleifen und Abwärtsspiralen ziehen konnte. Nun bin ich durch viele Stunden Meditation und Achstamkeitstraining also immer besser geworden, Herrin da oben in meinen Gehirnwindungen zu sein. Selber den Ton anzugeben anstatt irgendwelche Kurzschlüsse mein Innenleben bestimmen zu lassen.

Vielleicht darf ich mich also bald von der vollen Borderline- zur Borderline-akzentuierten Persönlichkeit abstufen lassen.

Wie das für mich wäre, was ich darüber denke, was das bedeuten würde – darüber hab ich mich schon so einige Gedanken gemacht. Die euch bald in einem eigenen Post erreichen werden.

Jetzt sitze ich also hier. Die Gedanken sind raus, aufgeschrieben und der Kopf somit ein gutes Stück sortierter. Und mir bleibt immer noch ein bisschen Zeit, bevor mein Zug fährt. Kann ich also wirklich noch ein bisschen Urlaubsfeeling genießen. Und mich und meine Fortschritte unter Mannheimer Palmen sitzend und umgeben von gutmütigen Hobbits zelebrieren.


Du bist Borderliner und möchtest auch deinen Teil zur Forschung beitragen?

Ich kann dir wirklich nur ans Herz legen, auch über eine Reise nach Mannheim nachzudenken. Die Forscher können noch so motiviert sein, ohne uns kommen sie nicht weiter.

Die ganze Teilnahme ist von vorne bis hinten wirklich super organisiert – die machen das dort auch schon eine ganze Weile. Schon im Vorfeld gibt es ausführliche Telefongespräche, in denen man nicht nur alle Fragen loswerden kann sondern bei denen z.B. auch ermittelt wird, für welche Studien genau man in Frage kommt. Die Betreuung vor Ort ist umfassend und professionell. Das sind alles keine Anfänger da. Die wissen, worauf man achten muss.

Und mir wurde immer wieder nahe gelegt, sollte meine Anspannung mal zu hoch sein, ich bei einem Versuch oder einer Frage ein schlechtes Gefühl haben, ich habe jederzeit die Möglichkeit, abzubrechen, abzusagen oder zu pausieren. Ziel des Aufenthaltes ist nicht, möglichst alle Studien abzuhaken oder durchzustehen. Sondern das im eigenen Rahmen mögliche zu tun, um zur Arbeit der Forscher beizutragen. Wie auch immer das aussehen mag.

Kosten wirst du – wie schon im Artikel oben geschrieben – keine haben. Fahrt, Übernachtung, Verpflegung – alles wird übernommen. Sogar Kino wäre mir bezahlt worden – aber dafür war das Wetter zu schön.

Also, hier ist noch mal der Link, diesmal direkt zum Formular https://www.kfo256.de/de/teilnahme/anmeldung/kontaktformular.html. Du kannst dich aber natürlich noch weiter auf der Seite informieren, bevor du es abschickst.