Der Alkohol und wir

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Der Alkohol und wir

Gut, dass ich ein Problem mit Alkohol habe, haben wir jetzt geklärt (wer nochmal nachlesen will: Der Alkohol und ich).

Aber es wird dich weder schockieren, noch überraschen oder verwundern wenn ich dir mit diesem Post sage, dass ich damit gar nicht so alleine bin.


Dieser Artikel soll keine Erklärung, keine Entschuldigung und auch keine Schuldzuweisung sein – er ist viel mehr die logische Fortsetzung meines »Coming-Out«-Posts.

Denn ja, bei der Beschäftigung mit meiner Krankheit schaue ich mir natürlich auch die Umstände an. Meine ganz persönlichen, aber auch die erweiterten. Und in gewisser Weise gehört ihr alle mit dazu.

Soviel schon mal vorweg: klar ist, dass es keine Borderline Persönlichkeitsstörung braucht, um sich selber gesellschaftlich anerkannt kaputt zu machen.

 In guter Gesellschaft

Ihr kennt das: die Aufmerksamkeit steuert die Wahrnehmung. Wenn ich auf der Suche nach neuen Schuhen/einer neuen Frisur/einem neuen Auto bin schaue ich im Alltag bei anderen Menschen verstärkt auf diese Dinge. Wenn mein Bein in einem Gips steckt, fällt mir erst so richtig auf, wie unbeschwert alle anderen durch den Alltag gehen. Wenn ich auf Kohlenhydrate verzichten möchte, stechen mir die vielen Bäckereien und Leckereien allerorten besonders ins Auge.

Und so ging es mir in den letzten Wochen mit Alkohol. Durch meine Krankheit, oder noch mehr durch meinen Entschluss, ihr den Kampf anzusagen und nicht mehr zu konsumieren, fällt mir auf, wie präsent Alkohol in unserer Gesellschaft ist.

Er ist sogar praktisch omnipräsent. Alkohol gehört dazu. Im Alltag, beim Essen, im Kino, beim Feiern, im Büro – ein (»guter«) Grund zu trinken ist leicht gefunden. Alkohol ist überall erhältlich, kostet nicht viel und schmeckt meistens ganz gut. Und vor allem: sein Konsum ist gesellschaftlich anerkannt, wird teilweise geradezu erwartet oder sogar honoriert.

Lange Zeit fand ich das alles richtig gut. Jemand hat um 11 Uhr vorgeschlagen aus irgendeinem Grund mit Prosecco anzustoßen? Super! Fünf Minuten Zeit bevor die S-Bahn kommt? Der nächste Kiosk mit gekühlten Dosen ist bestimmt nicht weit! Du kannst als Mädchen eine Halbe Bier in sechs Zügen leeren? Anerkennendes Schulterklopfen, vor allem von männlichen Bekannten.

Kurzgesagt: es wird einem in diesem unseren schönen Deutschland gar nicht so schwer gemacht, ein Problem mit Alkohol zu haben. Oder anders: viele Deutsche trinken zu viel, zu oft und aus den falschen Gründen.

 Selber Schuld?!

Natürlich ist deswegen nicht gleich jeder abhängig. Aber immerhin 1,6 Millionen Menschen in Deutschland trinken missbräuchlich – und 1,7 Millionen sind alkoholabhängig. Jedes Jahr sterben in Deutschland 74.000 an den Folgen von Alkoholkonsum – das sind 200 Menschen jeden Tag. Je. Den. Tag.

Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit. Sie ist keine Schwäche, keine Willenlosigkeit. Sondern eine Krankheit. Es sind weder nur die Gene noch nur die Umwelt, die zu ihrer Entstehung beitragen.

Obwohl die Alkoholabhängigkeit bereits seit 1968 als Krankheit anerkannt ist, die Behandlungskosten übernommen und die Behandlungsmöglichkeiten immer besser werden – die Lage für die Betroffenen ist auch fast 50 Jahre nach diesem wichtigen Schritt geradezu katastrophal.

Wie wenig andere Patienten werden süchtige Menschen für ihre Lage verurteilt und verantwortlich gemacht. Treibst du 20 Jahre lang keinen Sport, tust nichts für deinen Körper und hast deswegen einen Bandscheibenvorfall, bekommst du Hilfe, Mitleid, Unterstützung. Hast du dich dein halbes Leben nur von Fast Food ernährt und dein Herz kapituliert eines Tages anfallartig vor den Fettmassen in deinem Körper – Krankenhaus & Co sind eine Selbstverständlichkeit.

Man wird dir vielleicht für keines von beidem gratulieren – aber man wird sehr wahrscheinlich nicht hinter deinem Rücken über dich herziehen, dich ausgrenzen, dich verurteilen, dich in einem neuen Licht sehen, sich in deiner Gegenwart anders verhalten und den Kontakt mit dir meiden.

Hast du eines dieser besagten Leiden wirst du einen Teufel tun, deinen Mitmenschen irgendwelche Lügen aufzutischen. Dein Rücken/Herz ist kaputt. Aus. Fertig. Aber wehe, das Problem ist im Kopf. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen lieber einen Gehirntumor hätten, als offen zuzugeben, dass in ihrem Kopf, in ihrem unsichtbaren Inneren, etwas nicht stimmt.

 Bei Unsicherheiten und Hilflosigkeiten …

Wenn sich Betroffene nach langem Kampf mit ihrer Sucht dazu entschließen, Hilfe zu suchen und anzunehmen, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie Bekannten, Kollegen und Nachbarn nicht die Wahrheit sagen werden. »Mal ein paar Wochen zur Kur fahren.« oder »Der Arzt hat gemeint, ich soll mal ein bisschen mehr auf meine Ernährung achten.« heißt es dann.

Ich glaube, dahinter stecken ganz schön viel Unsicherheit und Hilflosigkeit. Auf allen Seiten. Sowohl bei den Betroffenen selber, als auch bei den Angehörigen. Wie darüber reden? Wie damit umgehen? Welche Fragen stellen?

Ist der Körper kaputt, so kann man als Außenstehender erahnen, wie es sich anfühlt. Wie es sein muss, plötzlich einen Arm nicht mehr benutzen zu können; wie sehr es den Alltag verändert, wenn man auf seine Zuckerwerte achten muss. Und weil wir es uns vorstellen können, haben wir auch eine Idee davon, was helfen könnte.

Anders bei psychischen Krankheiten. Was nicht sichtbar ist können wir schwerer verstehen und nachvollziehen. Dabei ist Hilfe auch bei psychischen Krankheiten kein Hexenwerk. Man muss kein mehrjähriges Studium absolvieren oder unzählige Bücher lesen, bevor man Betroffene unterstützen kann (auch wenn Psychoedukation aller Beteiligten ein wichtiger Bestandteil einer gelungenen Behandlung sein kann). Ich hab es schon oft geschrieben, aber werde es wieder und immer wieder tun: da sein hilft. Zuhören hilft. Offen sein hilft.

Sich näher mit einer »unsichtbaren« Krankheit wie Sucht, Depression, Borderline & Co auseinanderzusetzen braucht Willen, Energie und Zeit. Schweigen und ignorieren sind definitiv die einfacheren Optionen. Auch wenn sie die Situation für keinen der Beteiligten besser machen.

 Tabu Thema hoch zwei: Alkoholsucht

Unsicherheit und Hilflosigkeit allein erklären aber noch nicht, warum das Stigma bei Alkoholabhängigkeit besonders groß ist. Fast alle anderen Süchte und Drogen, ob legal oder illegal, genießen selbst in Form einer Abhängigkeit einen besseren Ruf.

Meine Vermutung: die Konfrontation mit der Themenkombination Sucht und Alkohol bringt Menschen dazu, über den eigenen Konsum nachzudenken. Und das wiederum kann auch für viele »gesunde« eine ganz unangenehme Sache sein.

Ich bin nicht alleine damit, dieses Zeug dafür einzusetzen, mich zu entspannen, zu belohnen, lockerer zu machen, mir weniger Gedanken zu machen. Ab und zu mag das ganz ok sein. Aber wenn es ohne Feierabendbier irgendwann nicht mehr geht, der Griff zum Weinglas ohne Nachdenken erfolgt und kein Abend mehr ohne Lockerungsgetränk abläuft, dann stimmt einfach was nicht.

Unterbewusst wissen vermutlich viele Menschen, dass Alkohol eine zu große Rolle in ihrem Leben, im Alltag, in unserer Gesellschaft einnimmt. Aber da alle mitmachen lässt sich das Problem so schön ignorieren. Das schlechte Gewissen ist schnell beiseite geschoben wenn man sich sagt »Aber hier trinken doch alle!«

Wie beim Zucker, beim FastFood, beim Fernsehen und vielen anderen Dingen wissen wir: weniger wäre gut. Nur leider spielt unser Verstand in einer anderen Liga als unser Handeln, unser Körper, unsere Biologie. Das funktioniert so lange, bis uns jemand konfrontiert, uns den Spiegel vorhält. Dann erst entsteht der Konflikt. Und dann tun wir einiges dafür, das Problem schnell wieder aus dem Blickfeld zu bekommen.

 Sucht und Borderline

Vielleicht liegt darin aber auch der Grund, warum es für mich »einfacher« ist als für andere Betroffene, über meine Abhängigkeit zu reden? Weil ich eine Persönlichkeitsstörung als »Grund« für meine Sucht habe?! Es macht mich und dich unähnlicher. Gibt deinem Kopf eine logische Erklärung, warum ich den Alkohol instrumentalisiert habe.

Ja, ich bin sicher, dass meine Borderline, meine Depression und meine Sucht sich gegenseitig verstärkt/bedingt/ausgelöst haben. Ob ich auch ohne BPD abhängig geworden wäre? Keine Ahnung. Lohnt aber auch nicht der Gedankenanstrengung, weil es ist wie es ist. Und das heißt:

Borderline und Sucht sind geradezu ein Traumpaar. Dass ich mich schwer damit tue, das Verhältnis dieser beiden zu verstehen, habe ich schon öfter geschrieben. Dass ich damit aber nicht alleine bin, das habe ich recht schnell verstanden.

Ob es illegale Drogen, Hunger, Essen, Sport oder eben Alkohol ist. Die beiden Diagnosen treten häufig zusammen auf, sind bekannte komorbide Erkrankungen. Auch die Station, auf der ich in Hamburg drei Monate lang zur Therapie war, war eine sogenannte DBT-S-Station – also eine Station, auf der Abhängigkeitserkrankungen mit im Fokus standen.

Borderline ist natürlich nicht die einzig bekannte Verbündete der Sucht. Depressionen sind sicherlich noch viel häufiger mit ihr verbunden – bei mir ja auch –, genau wie Angststörungen, Zwangsstörungen oder andere Persönlichkeitsstörungen.

 Gib mir mehr!

Warum kommen diese Krankheiten so häufig zusammen vor? Nun, ich bin weder Ärztin noch Wissenschaftlerin, aber durch meine Erfahrungen, meine Diagnosen und meine Geschichte bin ich eben doch irgendwie Expertin auf diesem Gebiet. Und ich glaube, dass es daran liegt, dass Süchte dem aus-dem-Gleichgewicht-gebrachten System dabei helfen, wieder etwas Stabilität zu erlangen.

Alkohol, Essen, Hunger, Gras, Sport, Crystal Meth – sie füllen Lücken, welche die Natur oder die Erfahrung hinterlassen haben; sie befriedigen Bedürfnisse, die auf keine andere Weise gestillt werden können; wenn von etwas zu wenig da ist (z.B. Selbstvertrauen, Entspannung, Hoffnung) sorgen diese Mittel für mehr; wenn von etwas zu viel da ist (z.B. Angst, Gefühle, Druck) lassen sie es weniger werden.

Aber all dies natürlich nur an der Oberfläche. Und nur für kurze Zeit. Bis die Wirkung nachlässt. Und man mit seinen Problemen wieder dort angekommen ist, wo man vorher schon war. Oder im schlimmsten Fall noch tiefer drin. Woraufhin man wieder zum Problemlöser greift. Und so weiter und so fort. Herzlich Willkommen in der Suchtspirale!

 Reaktionen auf mein »Coming-Out«

Ich bin also alkoholabhängig. Das wissen jetzt einige Leute. Und ich habe darauf viele Reaktionen bekommen. Und zwar praktisch nur positive, unterstützende, lobende und/oder bestärkende Worte.

Hinter all diesen Reaktionen – für die ich nebenbei wirklich sehr dankbar bin – habe ich aber auch zwei Übergruppen ausmachen können: die Überraschung. Und die Relativierung.

Die Überraschung kann ich noch gut verstehen, nachvollziehen und die ist mir auch schon bekannt (Ich sage nur »Was, du hast Borderline/Depressionen?????«) Ja, wer mich kennt der sieht einen Menschen, der oft lächelt, dessen Leben auf den ersten Blick sortiert und schön aussieht. Mit dem Abziehbild eines psychisch kranken Menschen, das viele Menschen wo-auch-immer her haben habe ich so äußerlich wenig gemein. Daher: die Überraschung verstehe ich.

Was ich schon weniger nachvollziehen kann ist die Relativierung, das Kleinreden-Wollen, der Drang meine Krankheit abzumildern, zu schmälern – sie weniger schlimm zu machen, als sie ist. Beispielsweise durch Sätze wie »Aber, jetzt hast du doch kein Problem mehr mit Alkohol, oder?« oder »So schlimm war das doch bei dir gar nicht, oder?«.

Woher kommt das? Ich schreibe über meine Abhängigkeit nicht zum Spaß. Ich bin krank. Ich habe ein Problem. Ein ziemlich großes. Und ich werde auf diesem Blog nichts übertreiben oder schöner/schlimmer reden, nur damit der Artikel gut wird. Ich schreibe einfach über mein Leben.

Wer den Konsum einer Flasche Wodka plus Nebengetränke pro Tag über Jahre hinweg nicht problematisch findet, der sollte sich sein eigenes Verhältnis zum Thema Alkohol mal näher betrachten.

Und Nein, ich will kein Mitleid. Auch keine Aufmerksamkeit. Jedenfalls nicht für meine Person – aber für das Problem an sich schon gerne.

 Die richtigen Worte

Und dieses Problem fängt ja schon bei der Wortwahl an:

Wer mich kennt und hier schon ein wenig gelesen hat, der weiß, dass Begriffe und Bezeichnungen für mich eine große Rolle spielen. Wie wir Dinge nennen, beeinflusst, wie wir mit ihnen umgehen. Ihr werden mich selten bis gar nicht dabei erwischen, dass ich von mir oder anderen Betroffenen als »Alkoholiker/in« schreibe. Der Ausdruck ist Quatsch, und ich finde mich darin nicht wieder.

Wir sprechen nicht vom Nikotiniker, vom Marihuaniker – aber vom Alkohliker. Und dieser Begriff hatte leider lange Zeit, es sich samt seiner negativen Assoziationen im geteilten Gesellschaftsgedächtnis bequem zu machen. Das soll nichts beschönigen oder kleinreden – ich bin abhängig von dem Zeug. Aber ich mag diesen Ausdruck einfach nicht.

Genau so wenig finde ich mich in »trocken« wieder. Nein, fühlt sich nicht richtig an. Wie so oft blicke ich mal wieder neidisch zu unseren angloamerikanischen Mitmenschen, welche mit den Ausdrücken »addict« und »sober« zwei wunderbare, buchstäbliche Heimaten für die Zustände gefunden haben. Kann an meiner Englisch-Addiction liegen, aber wer weiter liest wird sich an diese Begriffe gewöhnen müssen. Ich bin addict und sober find ich gut.

 Was ich will?

Was ich mit diesem Artikel wohl sagen will: Alkohol wird verharmlost.

Was ich mit diesem Artikel nicht erreichen will: dass auch nur einer meiner Leser denkt »Nur weil die ein Problem mit dem Alkohol hat möchte sie mir jetzt das Trinken vermiesen?!« Nein, das will ich nach wie vor nicht. Es ist dein Leben, dein Körper, deine Entscheidung.

Was ich erreichen will: wie schon im ersten Teil geschrieben fände ich toll, wenn mehr Menschen die Droge, das Nervengift Alkohol bewusster genießen. Nicht automatisch zum Glas oder zur Flasche greifen, sondern vor dem ersten Schluck kurz mal inne halten.

Und darüber hinaus möchte ich natürlich zur Entstigmatisierung der Krankheit Sucht und vor allem Alkoholabhängigkeit beitragen. Auch dadurch, dass ich das »klassische« Bild des »Alkis« aufmische. Menschen jeden Alters, jeder Herkunft, jeden Bildungsabschlusses, jedes Gesellschaftsbereichs, jeden Berufs, jeden Geschlechts sind betroffen. Kein weißer Arztkittel, kein Professorentitel und kein Gehaltszettel schützen vor Sucht. 

Es gibt viele Menschen, die im Alltag funktionieren, Leistung bringen – aber ohne ihren stillen Helfer zusammenbrechen würden.

Ich möchte dazu beitragen, dass mehr Betroffene zu ihrer Krankheit stehen – vor sich selbst und vor anderen. Und somit den ersten, den wichtigsten Schritt in Richtung Besserung gehen. In Richtung Behandlung. In Richtung Hilfe – denn die gibt es. Solange aber die Betroffenen selbst bei der Mystifizierung und somit der Stigmatisierung der eigenen Krankheit mitmachen, weiß ich, dass wir noch ganz am Anfang sind.

Es gibt da draußen viele positive Beispiele von Menschen, die es geschafft haben, die mit ihrer Geschichte Mut machen, die zeigen, dass es auch ohne gehen kann. Ich will einer dieser Menschen sein.

Weiter lesen/schauen

Wer noch nicht genug hat der findet mehr Zahlen, aber auch allerlei überraschendes, informatives und interessantes bei der Aktionswoche Alkohol.

Und wer noch ein wenig tiefer in die Materie einsteigen will, dem lege ich diesen Beitrag in der ARD Mediathek ans Herz. Titel: Genuss bis zur Sucht? – Beschreibung: Wie viel ist zuviel? Ab wann wird Alkohol gefährlich? Der SWR-Reporter Kai Diezemann geht auf die Suche nach der Grenze zwischen Genuss und Sucht.

Und auch einen schönen TED-Talk zum Thema habe ich auf Lager:

Michael Botticelli – Addiction is a disease. We should treat it like one.