Geschenk an mich

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Geschenk an mich

Ein Artikel für mich. Von mir. Dass ich gerade erst Geburtstag hatte, hat mit diesem besonderen Geschenk an mich selbst wenig zu tun. Genau so gut hätte ich ihn mir zu jedem anderen Tag des Jahres überreichen können. Denn eigentlich hab ich jeden Tag Grund zu feiern.


Bin ich also wieder ein Jahr älter geworden. Schlimm? Nö, überhaupt nicht. Aber halt doch irgendwie nicht ganz so ein Tag wie jeder andere. Und auch wenn ich eigentlich lieber verschenke als geschenkt zu bekommen hab ich mir gedacht, ich schenke mir mal was. Und zwar einen richtig positiven Artikel. Über mich.

Nennt es Rückblick, nennt es Zusammenfassung. Nennt es wie ihr wollt. Ich werde versuchen, keine Relativierungen, Abers und KleinMachungen zu benützen. Mal sehen, wir gut mir das gelingt =)

 Schlüssel der Veränderung

In meinen wöchentlichen Therapiesitzungen geht es viel darum, dass ich einfach kein positives Haar an mir selber lassen kann. Für alles, für wirklich jeden Punkt findet mein Kopf Gegenargumente. Und dabei muss es nicht um die großen Dinge gehen.

Sätze wie «Dommi, du bist ein wertvoller Mensch» funktionieren einfach nicht, weil daraufhin nur ein schallendes Gelächter in meinem Kopf ertönt. Also hab ich mich an immer kleineren Dingen versucht. Zum Beispiel «Du hast einen guten Uni-Abschluss» oder «Du bist einen Marathon gelaufen» oder «Dein Englisch ist super» – da kommen dann Argumente wie «Das machen so viele andere auch» oder «Andere laufen viel schneller als du» oder «So besonders ist das jetzt auch nicht».

Egal mit was ich es versuche, nichts hat eine Chance gegen meinen selbstkritischen oder eher selbsthassenden Kopf. Selbstliebe? Selbstmitgefühl? Selbstakzeptanz? Alles Dinge, die mir so richtig fremd sind. Nicht nur beim Artikel über die Selbstverletzung hatte ich ja schon mal erwähnt, dass eine ordentliche Portion Selbsthass eine ziemlich große Rolle in der Misere spielt.

Und dann, eines Tages – ich glaube, es war während einer Morgenmeditation – hatte ich plötzlich diesen einen Satz im Kopf: «Ich hab mich verändert.» Könnte man im ersten Moment natürlich auch negativ auffassen. Veränderung ist für mich aber generell sehr positiv belegt, daher funktioniert dieser Umweg bei mir wohl. Denn dass ich mich verändert habe, das kann selbst mein übermächtiger Kopf nicht leugnen. Das ist eine Tatsache. Das ist so.

 Dommi 2.0

Dieser Satz ist für mich jetzt zu einem Schlüssel geworden. Vielleicht kann ich (noch) nicht mit echter Überzeugung sagen, dass ich mich selber mag, oder dass ich wertvoll bin oder was auch immer. Aber das Erkennen, wie wenig ich noch mit dem Menschen vor – sagen wir 5 – Jahren gemein habe, ist schon mal ein ganz schöner Hammer. Und in vielen Momenten in den letzten Jahren hab ich mir nicht mal erträumen können, dass ich eines Tages so weit kommen würde. Dass ich zu der Dommi werden würde, die ich heute bin.

Im normalen Treiben und Trubel des Alltags vergesse ich aber leider gerne, wie viel ich schon erreicht habe. Wie viel ich geschafft habe. Wie sehr ich mich verändert habe.

Der Fokus liegt einfach leider – wie wohl generell im Leben und bei vielen Menschen – viel zu sehr auf dem Negativen, dem Schlechten, dem Baustellen und Mängeln. Bei mir heißt das dann eben, dass Rückschläge und Löcher im Verhältnis viel zu viel Aufmerksamkeit bekommen. Und all die Fortschritte, Lichtblicke und Highlights gehen unter.

Das will ich mit diesem Artikel ändern! Will mir meine Veränderung bewusst machen. Nicht so nebenbei, bisschen hier, bisschen da. Für die Dauer dieses Artikels meine kleinen und großen Ziele und Errungenschaften feiern – vielleicht ja sogar darüber hinaus.

Deswegen: Dommi – Aufgepasst! Jetzt geht’s um dich und was für ne tolle Socke du bist!

 Healthy Body

Ganz ehrlich: ich war vielleicht nicht fett, aber als mindestens dicklich würde ich mich schon bezeichnen. Sport kannte ich nur aus dem Fernsehen und nach einer Etage Treppen hab ich fies geschnauft. Heute tut es mir Leid, was ich meinem Körper jahrelang angetan habe – aber ich habe aus den Fehlern gelernt und bin heute meistens ziemlich gut zu diesem biologischen Wunderwerk, das ich mein eigen nennen darf:

 Bewegung – fangen wir mit so etwas allgemeinem an. Ja, ich bewege mich heute sehr, sehr viel mehr als früher. Mein Fahrrad ist mein treuester Begleiter, 10.000 Schritte am Tag keine große Sache. Kaum ein Tag an dem ich mir nicht eine Einheit gönne – sei es eben Fahrrad, Bergsteigen, Schwimmen, Workout, Yoga oder…

 Laufen – vor einigen Wochen bin ich meinen ersten Marathon gelaufen. Nach drei halben wurde es erstens Zeit und zweitens stand es auf meiner BucketList, einmal einen zu finishen. Hättest du der Dommi 1.0 erzählt, dass sie 42,195 Kilometer laufen würde – und sogar Spaß dabei hat – hätte sie dich ausgelacht und/oder ungläubig geguckt. Ist natürlich nicht von heute auf morgen passiert. Angefangen mit mehr Gehen als Laufen, ständig mit Stöpseln im Ohr und ALDI-Laufklamotten genieße ich inzwischen die Zeit beim Laufen als Auszeit für Kopf und Körper. Beide dürfen frei drehen. Ohne Berieselung. Und eine ganz ansehnliche Sammlung an Laufklamotten für jedes Wetter hab ich inzwischen auch =) (Und mich auch schon für meinen nächsten Marathon angemeldet: am 8. April 2018 in Paris)

 Yoga – hat mein Leben verändert. Vor drei Jahren hab ich noch verächtlich bis belustigt auf die Damen, die auf dem Fahrrad mit ihrer YogaMatte auf dem Rücken durch die Stadt gondeln. Heute gehöre ich selber dazu. Inzwischen mache ich praktisch täglich Yoga. Und wenn es nur die «10 Minuten Quick Fix»-Session aus der besten Yoga-App ever ist. Sogar ins Studio gehe ich hin und wieder. Und kann mich dabei entspannen. Und ganz bei mir bleiben. Kein «Oh Gott, ich mache das bestimmt falsch, die machen sich sicher alle lustig über mich». Wow! Yoga ist für mich die perfekte Kombination aus Sport, Ruhe, Bewegung, Meditation, Entspannung und Anstrengung – ja nachdem wie ich es gerade brauche.

 Ernährung – krass ausgedrückt: von FertigFraß zu bewusster, ausgewogener, hauptsächlich vegetarischer Ernährung. Kaum noch Convenience Food, dafür viel frisches, unverarbeitetes Zeug. Kohlenhydrate, Zucker, Schlemmereien gibt es nicht so oft, dafür dann aber mit besonderem Genuss. Ich achte darauf, was ich meinem Körper gebe, ohne irgendwelche Nahrungsmittel zu verteufeln – von Verboten bin ich immer noch, generell und auch bei diesem Thema, kein großer Fan.

 Alkohol – von der täglichen Flasche Wodka plus hin zum gelegentlichen Glas und wochen- bzw. monatelangen Pausen. Schon geil, wie ich mein Anspannungsregulationsmittel Nr. 1 vom selbstzerstöerischen Konsum auf so ein Normalmaß runtergeschraubt habe. Respekt! Hier ist der Kampf, nicht zu schreiben dass ja noch lange alles nicht gut ist, besonders groß. Aber ich bleibe bei meinem Vorsatz: nicht relativieren. Fakten auf den Tisch. Und die sind nun mal: ich trinke nicht mehr annähernd in den Mustern und der Menge, wie ich es mal getan habe. Punkt.

 Healthy Mind

 Meditation – vor ein paar Jahren war Stille mein größter Feind. Ohne Fernseher, Hörbücher, Radio oder Musik ging gar nichts. Meine Kopfhörer waren meine ständigen Begleiter. Heute suche ich nicht nur in meiner täglichen Meditation ganz gezielt die Stille, sondern kann sie auch im Alltag viel mehr wertschätzen und genießen. Die Entscheidung, nicht länger vor meinen eigenen Worten, Gedanken, Bildern und Gefühlen wegzurennen sondern mich ihnen auszuliefern war eine der besten Veränderungen, die ich je gemacht habe. Nicht einfach, nicht schön – aber es hat sich gelohnt.

 Achtsamkeit – ganz im Hier und Jetzt sein. Den Augenblick genießen. Nicht in Plänen und Sorgen versinken, die in der Zukunft wohnen. Und nicht in Probleme oder Erinnerungen baden, die ich nicht mehr verändern kann. Wie schon im Mannheim-Artikel angedeutet ist dieses mich-in-den-Moment-holen-können eine meiner wichtigsten Waffen gegen meinen Borderline-Kopf.

 Bewertung – damit meine ich vor allem, andere Menschen ständig zu bewerten. Machen wir alle ständig und immer. Schublade auf, Mensch rein, Schublade zu. Unser Hirn ist faul und arbeitet eben gerne so. Das abzustellen bzw. einzugrenzen ist ein gutes Stück Arbeit. Gelingt mir auch beileibe noch nicht immer – aber ich werde immer besser darin. Das kam durch eine Mischung aus DBT-Therapie und Achtsamkeit. Wer bin ich, über andere Menschen zu urteilen ohne nur den Hauch einer Ahnung zu haben, woher sie kommen? Und sobald man weniger bewertet wird man selber auch freier. Macht sich frei von der Bewertung anderer. Wieder ein Wahninns-Gefühl, eine neue Freiheit.

 Gelassenheit – oh ja, ich bin gelassener als früher. Die Wut kann mich nicht mehr so leicht in ihren festen Griff nehmen. Ob anstrengender Gast oder langsame Kassiererin – mir gelingt es inzwischen ziemlich gut, Dingen und Menschen, die ich nicht ändern oder beeinflussen kann, keine so große Kontrolle mehr über mich zu erlauben. Auf jeden Fall eine Nach- bzw. Nebenwirkung von Meditation.

 Hilfe annehmen – ich habe verstanden, dass ich nicht alles alleine schaffe(n kann). Dass ich an manchen Stellen Hilfe brauche. Habe mir nicht nur professionelle Unterstützung in Form von Therapie gesucht, sondern bin auch besser darin geworden im Alltag zu sagen, wenn ich Hilfe brauche.

 Healthy Life

 Fernsehen – von der dauerhaften Hintergrundbeschallung zum verstaubten Möbelstück. So lässt sich in etwa meine TV-Karriere beschreiben. Ich war kurz davor, wirklich alle Folgen von Big Bang Theory, How I Met Your Mother und Co mitsprechen zu können. Heute habe ich gar keinen Fernseher mehr. Schaue weiter Nachrichten, Serien und Filme. Aber selten. Und dann ausgewählt und bewusst. Es gibt einfach so viel sehr viel besseres zu tun. Vor allem Lesen.

 Nachhaltigkeit / Umwelt – Gott war mir das früher egal! Natur? Umweltschutz? Hab ich mal von gelesen. Heute ist mein Bewusstsein dafür enorm groß. Angefangen hat es beim Fleisch, dann kamen Lebensmittel generell, dann Kleidung und jetzt langsam Kosmetikprodukte. Wenn man einfach einmal anfängt, sich mit dem Weg zu beschäftigen, den ein Produkt bis in die eigenen Hände hinter sich hat dann kann man nicht mehr bei H&M einkaufen gehen. Geht einfach nicht mehr.

 Beruf(ung) – ich habe etwas gefunden, für das ich brenne, das mich antreibt. Habe eine Mission für mich entdeckt: Ich möchte (und werde) verändern, dass und wie wir über psychische Krankheiten reden. Merke, dass ich etwas verändern kann, anderen helfen kann – und dabei gleichzeitig mir helfe. Bekomme erste Aufträge als Autorin, arbeite mit Schulklassen, helfe beim Münchner Borderline-Trialog mit, engagiere mich für Mental Health Europe, betreibe, pflege und fülle diesen Blog – und da geht noch so viel mehr!

 Selbstfürsorge – ich gönne mir was. Ich bin es mir Wert, Geld und Zeit in mich zu investieren. Ob das ein gutes Essen ist, eine ausgiebige Massage, eine Stunde Lesen. Ich schaue, dass ich mir ab und zu ganz bewusst irgendwas gutes tue. Oft schreib ich mir das wirklich als Termin in meinen Kalender – wie alles andere auch.

 Healthy Everything =)

 Sozial – auch in sozialen Belangen bin ich gelassener geworden. Und Selbstsicherer. Aus der ausgeprägten sozialen Angststörung ist mittlerweile ein verkümmertes Pflänzchen geworden. Ich brauche keinen Alkohol mehr, um in Gesellschaft essen zu können. Laufe nicht vor Kleingruppenveranstaltungen davon. Die große Partymaschine werde ich wohl nicht mehr werden, habe ich aber inzwischen akzeptiert und kämpfe nicht mehr gegen ein unrealistisches Phantasiegebilde an.

 Kommunikation – ich rede (und schreibe) über Dinge, die mich beschäftigen, die mir Sorgen machen. Traue mich, Dinge offen aus- und anzusprechen. Sei es im Privaten oder in anderen Umfeldern. Habe verstanden, dass wir nun mal nicht gegenseitig unsere Gedanken lesen können und es Sprache einfach braucht, um zu verstehen und verstanden zu werden.

 Selbstkenntnis – all diese Sachen haben mich insgesamt sehr viel näher zu mir selbst gebracht. Ich kann mich heute nach meinen Bedürfnissen richten, weil ich endlich merke, dass und welche Bedürfnisse ich habe. Kein blindes funktionieren oder nach fremden Maßstäben handeln mehr. Heute weiß ich, was mir gut tut. Ich werde immer besser darin, auch wirklich nach meinen Gefühlen zu  handeln. Und nicht nach hätte-könnte-sollte-müsste.

 BERGE – und last but not least: ich habe mir die Berge erschlossen! Habe gemerkt, wie viel Kraft sie mir geben. Vom bergauf-schnaufenden-und-schimpfenden-Motzknubbel bin ich zum absoluten Bergmädchen geworden. Würde am liebsten jeden Tag irgendwo rauf. Habe auf Hütten ohne warmem Wasser und mit 20 anderen Menschen in einem Raum geschlafen – und es gut gefunden. Habe mir die Ruhe erarbeitet, den Gipfel, die Ruhe, den Ausblick, das Panorama wirklich zu genießen, anstatt ruhelos und von inneren Kämpfen getrieben gleich weiterzuziehen. Habe viele Momente und Erlebnisse gesammelt, die mir nichts und niemand mehr nehmen kann. Und habe noch lange nicht vor, damit aufzuhören!

 Sag niemals nie

Wow – ganz schöne Liste, die sich da angesammelt hat. Bin selber ein bisschen überrascht/beeindruckt und auch ein wenig gerührt. Und habe immer noch das Gefühl, dass etwas fehlt. Dass ich der Dommi 2.0 noch nicht ganz gerecht werde. Aber es ist auf jeden Fall ein Anfang.

Es geht mir hier nicht darum zu zeigen, wie toll ich bin oder was für ein Übermensch ich geworden bin. Bin ich ja auch nicht. Aber mein Leben hat sich in vielen Bereichen definitiv zum Positiven gewendet. Und darauf kann ich wohl stolz sein.

Natürlich steckt hinter vielem von dem, was ich hier jetzt in einen kleinen Absatz gepresst habe eine Menge, eine Riesenmenge Arbeit. Aber das ist euch ja nicht neu. Nichts von den angesprochenen Punkten kam von heute auf morgen. Kleine Schritte, andauernde Prozesse, stetige (Weiter)Entwicklung.

Vielleicht ist dieser Artikel ja nicht nur ein Geschenk an mich, sondern auch an andere Betroffene – und vielleicht auch einfach an Jeden. Denn er zeigt, dass wir uns ändern können. Dass nicht alles so bleiben muss, schlecht bleiben muss.

Ich versuche inzwischen, das Wort »nie« so gut es geht zu vermeiden. Kein Das werde ich nie tun oder ähnliches. Denn dafür habe ich inzwischen zu viele Dinge, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie mal erreiche/mache/sage/gut finde erreicht/gemacht/gesagt/gut gefunden. Das schöne Sprichwort «Sag niemals nie» hat also mal wieder recht.

Und irgendwie bin ich jetzt schon gespannt, was für einen Artikel ich mir in weiteren fünf Jahren schenken werde.


Kein zurück!

Dies war wahrlich kein einfacher Artikel für mich. Immer wieder bin ich abgedriftet, wollte kleinreden, relativieren, mir selber meine Fortschritte wegnehmen – wie ich es oben ja schon geahnt hatte. Viele Buchstaben, Worte, Sätze und Absätze habe ich wieder zurückgekommen. Manche in einen anderen Artikel verschoben. Andere gelöscht.

Sobald ich diesen Post zu euch rausgeschickt habe, werde ich es bereuen. Werde mich schlecht fühlen. Werde nur das schlechteste von mir denken. Und trotzdem bin ich froh, dass ich ihn mir erkämpft habe. Das ist dann wohl das eigentliche Geschenk an mich.