„Es geht bergauf, es geht bergab“

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„Es geht bergauf, es geht bergab“

Ein Gespräch mit dem Bergsportler Alexander Huber. Wir reden über die Angst als Begleiter, über Stigmatisierung psychischer Krankheiten und auch darüber, was ihm geholfen hat und hätte.


Seine Heimat ist das Berchtesgadener Land, sein Arbeitsplatz die Berge und Felswände dieser Welt –heute sitzen wir mit Alexander Huber im Clubhaus Schwalbennest in München und reden über Angst.

Wir, das sind Vera Hahn vom Clubhaus und ich. Vera und ich kennen uns von ZehnZehn – dem Münchner Aktionsbündnis für seelische Gesundheit. Bereits im sechsten Jahr organisiert ZehnZehn auch 2018 am World Mental Health Day wieder eine große Kundgebung samt anschließendem Solidaritätsmarschin und durch die Innenstadt. Dieser Welttag der seelischen Gesundheit wurde von der WHO auf den 10. Oktober gelegt. Daher auch der Name, ZehnZehn. Vera ist die Koordinatorin dieses Bündnisses aus mehr als einem Dutzend Trägern, Einrichtungen und Unterstützern. Ich bin seit diesem Jahr dabei, um die Seite der Betroffenen mit in die Vorbereitungen und die Veranstaltung zu bringen.

Auf Alexander Huber sind wir gekommen, weil er professioneller Bergsteiger und Extremkletterer sowie einer der wenigen Prominenten in Deutschland ist, der offen damit umgeht, eine schwere Angststörung durchlebt zu haben. Vor wenigen Jahren begann er offen über seine Erfahrungen mit einer Angststörungen zu sprechen. Seitdem hat er dem Thema nicht nur ein Buch mit dem Titel «Die Angst, dein bester Freund» gewidmet. Außerdem engagiert er sich für Angst-Selbsthilfe e.V.sowie den Krisendienst Psychiatrie, dessen flächendeckende Einführung in Bayern mittlerweile beschlossen wurde. Und heute hat er sich für uns Zeit genommen.

 Dem Stigma entgegentreten

Bergsportler Alexander Huber | Foto: Robert Brembeck

Bergsportler Alexander Huber | Foto: Robert Brembeck

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass einen psychische Probleme nicht davon abhalten müssen seine Ziele zu erreichen, in der Gesellschaft zu funktionieren, «erfolgreich» zu sein. Wie das bei und für jemandem aussieht, der seinen Lebensunterhalt mit einem Extremsport verdient, ist aber natürlich auch für mich spannend.

Wenn es bei mir «die Leute» schon überrascht, dass ich Depressionen habe – obwohl ich doch «gar nicht so aussehe» – dann muss das für jemanden wie ihn, der in einem Sport unterwegs ist, für den man mentale Stärke braucht, ja erst recht so sein. Und er bestätigt, dass die Leute eher mit einem «Was? Du?» reagieren, wenn sie von seiner Erkrankung erfahren. Aber genau das nutzt er: «Als derjenige, den man dafür kennt, dass er im Berg mental besonders stark ist – und der dann im normalen Leben ein Problem kriegt. Aber genau deswegen kann ich dem Stigma so kraftvoll entgegentreten. Ich kann sagen, dass ich es bereits erlebt habe, psychisch schwer erkrankt zu sein und diese Erkrankung aber heute überwunden habe. Oder noch präziser gesagt: dass ich diese Erkrankung soweit durchlebt und überwunden habe, dass sie mein Leben nicht mehr beeinträchtigt

Alexander kämpft seit 1997 gegen und mit der Angst. Ist, wie er sagt, «sehenden Auges in die Erkrankung gelaufen» und hat sich erst Hilfe geholt, als es «schon lichterloh gebrannt hat». Das Klettern und Bergsteigen sieht er persönlich nicht als Ursache oder Auslöser seiner Erkrankung. Viel mehr den Druck, der mit der Entscheidung, Profi zu werden, einher ging. Plötzlich war es nicht mehr nur Hobby, sondern etwas, dass ihm und seiner Familie den Lebensunterhalt bringen musste. Eine ganz neue Welt.

Bei Projekten, Vorträgen und Gesprächen ziehe ich immer wieder den Vergleich zu körperlichen Krankheiten. Eine Parallele die auch Alexander zieht, um zu verdeutlichen, dass wir nicht alles mit uns selber ausmachen müssen: «Und auch hier wieder die Parallele zwischen psychischen und körperlichen Erkrankungen: es gibt Menschen, die haben vorbelastete Körper in die einfach Grundproblematiken eingebaut sind. Aber wenn man sich rechtzeitig drum kümmert, dann lässt sich meistens ein lebenswertes Leben damit erreichen. Und auch im psychischen Bereich gibt es genetisch bedingte Grunderkrankungen, an denen du rein prinzipiell erstmal nichts ändern kannst. Wenn du dich aber aktiv mit dieser Erkrankung auseinandersetzt, kannst du trotzdem ein lebenswertes, schönes und gutes Leben führen. Wenn du dagegen vor der ganzen Sache immer davon läufst, weil du es nicht erkennst oder weil du es nicht erkennen willst, dann lebst du ständig mit dem Problem

Auseinandersetzen – je früher desto besser

Ebenso wichtig, wie den Leuten bewusst zu machen, dass eine psychische Krise jeden treffen kann, ist Alexander daher auch die

Botschaft, dass es besser werden kann. Und zwar je früher desto besser. «Aber so ist eben auch mein Credo: Angststörungen, Depressionen, psychische Erkrankung im Allgemeinen – es kann jeden erwischen! Aber es gilt wie bei anderen Krankheiten auch: es ist behandelbar, es geht bergauf, es geht bergab. Das ist eben auch das normale Leben. Das Wichtige ist nur, dass man sich damit auseinandersetzt. Und wenn die Gesellschaft einem hier hilft, indem die Krankheit eben nicht stigmatisiert ist, dann ist die Bereitschaft bei den Leuten, sich damit auseinanderzusetzen, am größten.»

Dass Angst in unserer Gesellschaft so einen schlechten Ruf hat, stört Alexander. «Wenn Manager bei wichtigen Entscheidungen von Respektsprechen, dann steckt da nichts anderes als Angst dahinter». Genau so wichtig, wie seine Ängste ab und zu zu überwinden ist es, auf die Angst zu hören. Eine von seinen Paradedisziplinen ist das Free Solo-Klettern, bei dem man ohne Sicherung und Hilfsmittel Felswände hinaufklettert und bei dem es unter einem schon mal hunderte Meter senkrecht in die Tiefe gehen kann. In solchen Momenten «wenn ich ohne Sicherung in der Wand drin hänge, dann sorgt die Angst dafür, dass ich permanent konzentriert bleibe. Und wenn die Angst mich nervös machen würde, dann weiß ich «Ich überfordere mich«. Ich habe nicht das nötige Selbstvertrauen oder das nötige Können, um diese Situation zu meistern. Dann teilt mir die Angst mit «Geh zurück. Dreh um.»

Die Angst heute

Heute nimmt das Thema Angst vor allem durch sein Engagement weiterhin viel Platz in Alexander Leben ein. Aber auch für sich weiß er: sie ist immer noch da. «Ich werde es auch nie vergessen. Ich bin damit generell anfälliger. Weil es immer im Hinterkopf ist. Wenn es in die Richtung geht, ist natürlich gleich eine gewisse Angst da, dass sie wieder so fulminant auftreten kann. Allerdings schützt mich das Ganze auch, weil ich weiß, wie es geht und welche Wege mir zur Verfügung stehen, um da wieder rauszukommen. Generell gilt: umso früher ich mich damit auseinandersetze, umso besser und weniger gefährlich für meine Psyche.»

Mittlerweile kennt er sich, weiß genau wann ein Problem für ihn relevant ist und lässt es dann nicht lange unbearbeitet. Auch generell kann er Dinge inzwischen entspannter sehen und versucht, nicht mehr länger «everybody’s darling» zu sein.

Bevor er seine Erfahrungen in Buchform veröffentlichte, hat er sich wohl überlegt, ob er dafür schon stark genug ist. Denn «man geht nicht mit etwas hausieren, bei dem man sehr potentiell wieder zurück fällt. Ich denke, dass das für mich eine der Grundvoraussetzungen war. Ich fühle mich schon sehr stark gewappnet. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, dass es mir nicht nochmal passiert. So wie sich keiner sicher kann.»

Hinschauen, damit auseinandersetzen statt davon laufen, ignorieren, zudecken – so wie es Alexander lange gemacht hat. So wie ich es lange gemacht habe. Trotz Warnungen des eigenen Körpers einfach weitergemacht. Es jahrelang alleine versuchen, bevor man endlich einsieht und erkennt, dass es so nicht weitergehen kann. In seinem Buch schreibt er dazu: »Mit einem Mal habe ich Angst vor der Angst bekommen. Das war der Zeitpunkt, an dem ich professionelle Hilfe gesucht habe, die mich langsam wieder auf die Spur gebracht hat…«.

Es braucht mehr Menschen, die reden

Alexander Huber im Gespräch | Foto: Robert Brembeck

Alexander Huber im Gespräch | Foto: Robert Brembeck

Auf die Frage, was ihm dabei geholfen hätte früher Hilfe zu holen, antwortet er: «Naja, wenn man eben einfach ein gutes Buch darüber liest oder gute Artikel, die einem diese Symptomatiken nahe bringen. Dass eine Person, der man gerne zuhört, sagt «Das kann auch dir passieren. Mir ist es so gegangen, so war es bei mir, das hab ich gespürt». Vielleicht klingeln dann bei dem ein oder anderen tatsächlich die Alarmglocken.

Aber auch, dass in der Konklusion dann gesagt wird: macht euch rechtzeitig auf den Weg. Schaut, dass ihr jemanden findet, der euch wirklich helfen kann. Ob man den dann Coach nennt oder Mentaltrainer. Und die Leute können dir wirklich helfen». Manchmal braucht man eben den Blick von außen, weil man selber und auch die eigenen Freunde nicht mehr objektiv urteilen können. Da kann es genau das Richtige sein, wenn einem ein Profi dabei hilft, «die Spinnerei mal auseinander zu klauben».

Dass er als Profisportler eine gewisse Breitenwirkung hat, weiß Alexander natürlich. Und auch die regelmäßigen Zuschriften, in denen sich Leser für sein Engagement, seine Offenheit, seine Arbeit bedanken, zeigen ihm, dass es der richtige Schritt war, auch diese Seite von ihm öffentlich zu machen.

Danke

Auch wir sagen «Danke, Alexander». Für die angenehme Gesprächsatmosphäre, den Austausch, die Offenheit, die Zeit und die Einblicke, die du uns in dieser knappen Stunde gewährt hast. Und auch ich ganz persönlich sage «Danke». Zu wissen, dass ich auf meiner Mission zu verändern, dass und wie wir über psychische Probleme reden, solche Mitstreiter habe, tut ganz schön gut. Vieles von dem, was Alexander gesagt hat, kam mir nur allzu bekannt vor. Mich hat beeindruckt zu merken, wie sehr ihm das Thema psychische Krankheiten am Herzen liegt. Und bin mir sicher: gäbe es mehr Leute wie ihn, dann hätte das Stigma bald keine Chance mehr.

Dokumentiert wurde das Treffen mit professionellem Auge: der Fotograf Robert Brembeck hatte schon viele große Persönlichkeiten vor der Linse und sich Zeit genommen, um die Begegnung – pro bono, wohl gesagt – festzuhalten. An dieser Stelle auch dafür nochmal ein großes Danke.

Mehr über Alexander auf www.huberbuam.de.

 Lang lebe das Funktionieren

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Lang lebe das Funktionieren

Ein Artikel, über die Vor- und Nachteile davon, einfach zu funktionieren. Warum ich heute dankbar bin, so lange so gut funktioniert zu haben. Aber auch darüber, dass ich froh bin, heute weniger (gut) zu funktionieren.


Was ich mit „Funktionieren“ meine? Nun, nicht zufällig ist auf dem Bild zu diesem Beitrag ein Roboter zu sehen. Denn Roboter funktionieren auch. Sie fragen nicht groß, sondern machen. Stellen weder sich selbst, noch ihren Auftrag, noch ihre Umgebung in Frage. Wenn der Befehl lautet: renne 38 Mal im Kreis, dann macht ein Roboter das. Warum 38 Mal im Kreis rennen? Egal. So lautet der Auftrag.

Auch wir Menschen können das. Paradebeispiel sind hier wohl Soldaten, blinder Gehorsam und so. Aber auch im Alltag, im Büro, in der Familie funktionieren wir oft einfach, ohne weiter nachzufragen. Denn im Nachfragen verbirgt sich eine gewisse Gefahr. Wir könnten dabei merken, dass wir vielleicht gar nicht wissen, warum wir dies oder jenes machen (sollten), oder man merkt, dass man das eigentlich gar nicht machen will. Man könnte bemerken, dass man sich sein Leben so niemals vorgestellt hat, aber weil eines zum anderen kam, man das Gefühl hatte, sich nur noch in eine Richtung bewegen zu können, nun dort gelandet ist, wo man nie hinwollte.

So kann eine Frage ein ganzes System instabil werden lassen. Paradebeispiel hierfür: der Familienvater in der Midlife-Crisis, der plötzlich das Gefühl hat, im „falschen Leben “ zu sein und auf der Suche, nach einer Antwort die ganze Familie mit ins Wanken nimmt. Weil er eben nicht einfach immer weiter gemacht hat.

Funktionieren und Ich

Ich habe lange einfach immer weitergemacht. Mache einfach weiter. Und mein hohes Verantwortungsgefühl, meine mir heilige Funktionalität sind dabei eine große Stütze. Das dem so ist hat seine Wurzeln in meinen ganz dunklen Jahren. In denen höchste Priorität war, dass niemand mitbekommt, wie schlecht es mir geht. Nach außen hin musste alles so weiterlaufen, dass niemand verdacht schöpft, auch wenn drinnen die letzte Hoffnung im Sterben lag.

Schule, Arbeit, Studium, Termine – wenn es einen Grund in der äußeren Welt gab, musste die innere Welt mitspielen. Weiter machen einfach nur, damit keine Fragen gestellt werden. Maske auf, Autopilot an, Leben los. Und auch heute noch hilft mir mir die Tatsache, dass es mir oft leichter fällt, für andere zu funktionieren als für mich selbst.

Meine größten Gegner sind leere Tage, ohne Termine, ohne Verpflichtungen, an denen ich nur mir selbst überlassen bin. Wenn der Autopilot im Standby ist legen die Monster in mir los. Inzwischen weiß ich das, kann vorbeugen und gucken, dass solche Löcher nicht vorkommen. Aber hin und wieder sind sie da, packen mich und erst wenn die nächste Frühschicht, der nächste Pflichttermin ansteht, lassen sie mich wieder gehen. Aber das tun sie dann auch.

In meinen ganzen 15 kranken Jahren kann ich mich nur an zwei Vorfälle erinnern, wo der Autopilot sich nicht rechtzeitig eingeschaltet hat, die Monster das Pflichtgefühl besiegt haben: eine Klausur während der Uni, bei der ich definitiv zu betrunken war und eine Schicht im Café, die ich nicht antreten konnte weil ich noch tief im Loch lag. Aber sonst: Danke an das Trio aus Funktionalität, Pflicht und Anspruch!

Funktionieren vs. Leben

Man hört mich heute immer mal wieder sagen, dass ich durch meine Krankheiten Borderline, Sucht und Depression 10 Jahre meines Lebens verloren habe. Das meiste, was zwischen meinem 16. und 26. Lebensjahr passiert ist, kann und möchte ich nicht „leben“ nennen. Das wäre irgendwie unfair gegenüber dem richtigen Leben.

Ja, es hat sehr lange alles sehr wunderbar funktioniert, ich habe wunderbar funktioniert. Mich vom einen auf den anderen Tag gerettet, mich irgendwie durchgebracht, denn die Aufgabe lautete ja: nicht auffallen, die Rolle(n) spielen, egal um welchen Preis. Es gab diverse Aufträge gleichzeitig, die ich erfüllen wollte und musste. Neben den schon inkludierten Familie und Schule habe ich mir aber auch noch mehr Aufträge gesucht, um den Fragen möglichst wenig Platz zu lassen.

Auftrag Nr. 1 war glückliche Tochter und funktionierendes Familienmitglied sein. Gleich danach kam eine gute Schülerin bzw. später Studentin sein und gute Noten schreiben bzw. bestehen. Dazu haben sich dann aber schnell Aufträge rund um die Schule (Theatergruppe, Chor, SMV, Sanitätsstab, …) und meine Band gefunden. In all diesen Bereichen hat das Funktionieren ja auch noch eine gewisse Berechtigung. Nach und nach hat es sich aber auch in alle andern Bereiche des Lebens geschlichen.

Auf den Berg rauf gehen war noch ok, da gab es einen Auftrag. Oben auf dem Gipfel aber einfach zu rasten, innezuhalten, den Moment und die Aussicht zu genießen, war praktisch nicht möglich. Das hatte keine Funktion. Und somit hatte ich keine mehr. Also schnell wieder runter, nächster Auftrag, nächste Rolle, nächstes Ziel.

Danke, Funktionieren

Nicht innehalten, immer weiter machen, keine Ruhe einkehren lassen. Dieses Vorgehen hat mich über lange Zeit einfach vor mir selber geschützt, vor meinen dunklen Anteilen. Solange ich einen Auftrag, ein Ziel hatte, hatte ich auch eine Berechtigung zu existieren. Zurück in meinem Zimmer, ohne all das, kam mein Nicht-Leben mit voller Wucht auf mich eingestürzt.

Man kann auf diese Seite von mir schimpfen. Ihr vorwerfen, dass sie mich lange davon abgehalten hat, mir Hilfe zu suchen. „So lange ich alles hinbekomme ist doch alles gut.“ Aber ich versuche, mich auf das positive daran zu konzentrieren und zu sehen, was mein hoher Anspruch an meine eigene Leistung mir ermöglicht hat. Nämlich ein gutes Abitur, ein abgeschlossenes Studium, keine Vorstrafen, Schulden oder ähnliches. Auf dem Papier sieht mein Leben gut aus.

Hätte ich früher nachgegeben, mich ins „Warum“ gesetzt – ich weiß nicht, ob oder wo ich dann heute stehen würde. Dadurch, dass die komplette Kapitulation nie eine Option für mich war (denn dann hätte ja jemand was mitbekommen) gab es immer diese unsichtbare Kraft, die mich dazu gebracht bzw. gezwungen hat, weiter zu machen, nicht stillzustehen.

In diesem Sinne sage ich heute: ja, es war bestimmt nicht gut so lange ein Leben im Stand-By-Modus zu führen. Aber was wäre die Alternative gewesen? Genau, also lieber vom Autopiloten durch die Gefahrenstellen leiten lassen als nicht auf der anderen Seite anzukommen.

Funktionieren für „Normale“

In vielen Gesprächen mit anderen Betroffenen habe ich inzwischen erfahren, dass nicht nur ich eine so innige Beziehung zum reinen Funktionieren habe, sondern dass das nichts ungewöhnliches ist. Vielleicht ist das einfach ein Weg des Kopfes und des Körpers uns durchzubringen, durch schwere Zeiten.

Was ich aber auch gelernt habe ist, dass diese Problem – wie so viele andere Probleme und Phänomene – nicht exklusiv Menschen mit psychischen Probleme vorbehalten ist. Besonders beim Trialog merke ich immer wieder, dass auch die „normalen“ an dieser Front kämpfen. Einmal fiel der Satz  „Ich habe keine Zeit darüber nachzudenken, wie es mir geht.“ Denn das wäre gefährlich. Das könnte alles zum Einstürzen bringen. Warum noch weitere 38 Mal im Kreis rennen? Macht doch gar keinen Sinn. Aber, wenn ich nicht mehr im Kreis renne – was soll ich dann machen? Wie geht es dann weiter? Also wird doch weiter im Kreis gerannt.

Funktionieren heißt für mich, sich mehr nach dem Außen als nach dem Innen zu richten. Es ist wohl eine Art von uns Menschen, mit unangenehmen Dingen klarzukommen. Ob es sich dabei um negative Emotionen, enttäuschte Bedürfnisse oder dunkle Gedanken handelt. Gar nicht erst ins Innen schauen, sondern den Blick einfach draußen lassen.

Dass das auf Dauer keine Lösung sein kann, dass ahnen wir. Dann macht sich das Leben im Funktionieren bemerkbar, durch ein dumpfes Bauchgefühl, einen Hintergrundgedanken, den man nicht zu fassen bekommt. „Ist das wirklich schon alles?“ „Bin ich hier richtig?“ „Geht das jetzt immer so weiter?“

Bedürfnisse für ALLE!!!

Nicht weiter das Außen zu benutzen, um sich durchs Leben leiten zu lassen, kann unter Umständen bedeuten, dass es für eine gewisse Zeit so richtig unangenehm wird. Weil man erst herausfinden muss, was einen von innen heraus eigentlich lenkt und antreibt, welche Bedürfnisse man hat, was einen glücklich macht und wonach man sich sehnt.

Heute sehe ich, dass Bedürfnisse etwas ganz entscheidendes für unser Leben, unser Glück sind. Lange wusste ich nicht mal, dass ich Bedürfnisse habe – außer vielleicht Essen und Schlafen und so. Aber dass ich zum Beispiel ein verdammt großes Bedürfnis nach Ruhe habe, habe ich nicht nur über lange Jahre nicht gewusst, sondern geradezu dagegen gearbeitet. Mit meinem ständigen WeiterWeiterWeiter, der Dauerbeschallung durch Fernsehen und Kopfhörer.

Mein armer Kopf, der sowieso dank der hochsensiblen Filter den ganzen Tag von Reizen überflutet wird, bekommt nicht den Hauch einer Chance, weder diese ganzen Eindrücke noch das, was sie mit mir machen, zu verarbeiten. Die Speicher werden immer voller, irgendwann ist kein Platz mehr, das Notsystem schaltet sich ein und ich schalte mich mit Hilfe von Alkohol und Selbstverletzung komplett aus. Mit dem Ergebnis, das mein Kopf die Ruhe bekommt, die ich ihm so dringend hätte geben müssen, es aber nicht getan habe. Das nur ein Beispiel, wie es aussehen kann, wenn wir unsere Bedürfnisse nicht kennen.

Nach und nach habe ich in den letzten Jahren und auch dank Therapie entdeckt, dass ich Bedürfnisse habe. Der nächste Schritt war dann, herauszufinden, welche das eigentlich sind. Danach kommt, diese Bedürfnisse auch durchzusetzten, mich um sie zu kümmern. Und es dann noch zu schaffen, kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich auf meine Bedürfnisse höre, auch wenn dies bedeutet, anderer Menschen Erwartungen oder Wünsche zu enttäuschen, das ist dann wirklich schon etwas für Fortgeschrittene.

Funktionieren ist doof

Wenn man hier nun so liest, wie und was ich über das Funktionieren schreibe, dann könnte man fast zum Entschluss kommen „Aber was ist denn nun so schlecht daran?“ Nun, wie oben schon kurz geschrieben: wer funktioniert der lebt nicht. Bildlich gesprochen

Zu Funktionieren heißt auch, gewisse Gedanken und Gefühle auszublenden, auszusperren. Aber zu leben heißt, auch mit diesen unangenehmen Seiten unseres Daseins konfrontiert zu sein und: sie zu überwinden. Daraus zu lernen, mit ihnen klar zu kommen, und gestärkt aus der Begegnung heraus zu gehen.

Die liebe Funktionalität. Sie hat mich gerettet. Ich verdanke ihr viel. Aber trotzdem: eine Ideallösung ist sie nicht. War sie nicht. Wird sie nie sein. Nur zu funktionieren, hauptsächlich für andere, muss auf Dauer schief gehen. Wir können nicht ständig gegen uns arbeiten. Weil wir „müssen“. Wir sind keine Roboter. Es geht uns nicht immer gut.

Viele Probleme – nicht nur psychische – entstehen, weil wir zu lange, zu gut, zu perfekt funktionieren wollen. Weil wir denken, es muss immer alles gut sein, dass es uns nicht schlecht gehen darf. Weil wir alles dafür geben, unser Außen – unsere Kinder, Eltern und Partner, unsere Kollegen und Vorgesetzten, unsere Freunde und Freundinnen – glücklich zu machen, zufrieden zu stellen. Und uns dabei leider viel zu oft viel zu weit hinten an stellen.

Funktionieren heute

Ja, auch heute gibt es Momente, Situationen, Tage in denen ich funktioniere. Ich denen ich nicht nach dem Sinn frage, sondern einfach mache. Weil ich weiß, dass die richtig falsche Frage zum richtig falschen Zeitpunkt mich in Höchstgeschwindigkeit aus der Bahn werfen kann.

Meine Morgenroutine ist zum Beispiel teilweise blindes Funktionieren. Aufstehen, Sport, Yoga, Meditation. Ja, das mache ich auch, weil ich inzwischen weiß, dass ich das gerne mache und diese Dinge Bedürfnisse von mir befriedigen. Bedürfnisse nach Bewegung, nach Ruhe, nach Ausgeglichenheit. Aber obwohl dem so ist, gibt es Tage, an denen ich keine Lust auf sie habe. An denen ich nicht sofort und hoch motiviert aus dem Bett und in die Sportklamotten springe. Dann darf der Autopilot ans Steuer, denn der kennt den Weg auf die Matte oder die Laufrunde.

So lange die Routine am Laufen ist, der Roboter auf seiner festen Bahn fährt, ist dann auch alles sicher. Aber in der Sekunde, in der mein Frühstück beendet und damit das feste Programm beendet ist, merke ich, dass ich nun wieder selber steuern muss. Kein Autopilot mehr, der mich sicher an allen Gefahren vorbei manövriert. Sondern ich und meine Bedürfnisse sitzen am Steuer. Was wunderbar ist, weil ich so viel mehr zu dem Menschen werden kann, der ich wohl eigentlich bin. Aber da beginnt auch die Gefahr.

Je größer die Depression, die dunklen Wolken desto wichtiger ist das Funktionieren. Wie auf einem Segelboot: so lange das Wetter schön ist, Wind und Wellen mitspielen läuft das Trimmen der Segel und das Steuern quasi nebenher. Es bleibt Zeit, sich zu erholen und zu entspannen, die Aussicht zu genießen und schönen Dingen nachzugehen. Wenn der Himmel aber dunkler, die Wolken dicker, der Wind stürmischer und die Wellen höher und wilder werden, dann wird einfach nur alles daran gesetzt, heil durch den Sturm zu kommen. Die Segel richtig zu stellen, alles auf und unter Deck sicher zu verstauen, nicht über Bord zu gehen. Keine Zeit für Schönigkeiten. Nur das Nötigste.

Und wie weiter?

Man erkennt es schon, wie an so vielen Stellen in meinen Artikeln und auch im Leben außerhalb dieses Blogs: die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Die berühmte „goldene Mitte“. Weder nur zu funktionieren noch nie zu funktionieren sind die Lösung. Beides hat seine Berechtigung, genau, wie alles dazwischen.

Was ich mir wünsche oder für euch da draußen hoffe ist, dass das Funktionieren nicht zu große Teile eures Alltags bestimmt. Dass der Autopilot wirklich nur dann ans Steuer darf, wenn es Sinn macht. Dass es euch oft gelingt, euch und die Dinge zu fragen – warum mache ich das gerade? Was ist das Ziel dahinter? Welchem meiner Bedürfnisse gehe ich damit nach? Und dass ihr nicht erschreckt, wenn ihr merkt, dass ihr teilweise ganz schön gegen euch selber lebt. Sondern dass ihr dann den Mut findet, es nach und nach öfter zu schaffen, euch nach dem Innen zu richten. Dem, was euch gut tut.

Für ich war das ein langer Weg, aber jeder einzelne Schritt hat sich gelohnt. Ich weiß heute, dass Funktionieren nicht alles ist. Aber das Funktionieren auch manchmal genau das sein kann, was wir gerade brauchen. Und mit diesen Worten verabschiede ich mich und schaue, ob auf meinem Marathon-Trainingsplan für heute vielleicht *38 Mal im Kreis rennen* steht.