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Borderline im Gepäck

Borderline im Gepäck Schande über mich! In den bisherigen Reiseberichten habe ich vor lauter Begeisterung und schöner Bilder viel zu wenig darüber geschrieben, wie sich meine Borderline Persönlichkeitsstörung im Reisealltag so anstellt. Das hole ich

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Borderline im Gepäck

Schande über mich! In den bisherigen Reiseberichten habe ich vor lauter Begeisterung und schöner Bilder viel zu wenig darüber geschrieben, wie sich meine Borderline Persönlichkeitsstörung im Reisealltag so anstellt. Das hole ich jetzt nach:


Mehr Borderline!

Knapp zwei Monate nach dem Start von traveling | the | borderline habe ich eine kleine Umfrage auf euch losgelassen. Ich wollte wissen, wie die Seite bei euch da draußen ankommt. Aus den zahlreichen ausgefüllten Umfragen, die bei mir eingetrudelt sind, konnte ich vor allem rauslesen, dass ich wohl irgendwie auf einem guten Weg bin.

An dieser Stelle auch ein Danke an jeden einzelnen, der die Umfrage ausgefüllt hat (wenn du jetzt neugiereig geworden bist, die erste Runde verpasst hast und auch noch gerne ausfüllen möchtest, dann hast du hier die Möglichkeit dazu).

Eine Bemerkung gab es, die mir besonders im Kopf geblieben ist. Und zwar, dass in meinen bisherigen Reiseberichten meine Bewältigung der Borderline-Problematik im Reisealltag etwas zu kurz kommt.

Das stimmt wohl. Und ich werde versuchen, das in Zukunft zu ändern.

Aber erstmal habe ich mich gefragt, woran das liegt? Wahrscheinlich spielen hier mehrere Komponenten mit rein.

  • jeden Tag gibt es Momente und Minuten, in denen die Borderline die Oberhand gewinnt. Wenn ich hier schreibe, dann aber meistens über Tage und längere Episoden. Da gehen dir kurzen Momente dann unter.
  • von den „unschönen“ Momenten macht man keine Fotos. So gibt es keine fotografische Unterstützung, für meine Erlebnisse. (dass man sehr wohl auch davon Bilder machen kann, zeigt übrigens ein Film namens Ida’s Diary ganz hervorragend – ein Tipp am Rande)
  • ich bin nicht stolz drauf, wenn ich an Arvid mal wieder meine Stimmungsschwankungen, Launen und schlechten Seiten auslasse. Und natürlich fällt es besonders schwer, über Sachen zu schreiben, auf die man nicht stolz ist.

Das sind Gründe, die mir auf Anhieb eingefallen sind, als ich die Bemerkung gelesen hatte. Aber wie ist es denn nun? Wie zeigt sich meine Borderline hier in Asien im Alltag? Um das in den bisherigen Berichten versäumte etwas nachzuholen gibt es hier nun eine Art Überblick, wie sehr und auf welche Art und Weise meine Persönlichkeitsstörung mich in den letzten Wochen auf Reisen gestört hat.

Mit Borderline auf Reisen

Wie ich schon im Beitrag Und die Achterbahn fliegt mit … ganz am Anfang der Reise erzählt habe, verabschiedet sich die treue Borderline natürlich nicht, nur weil ich mich in einen Flieger setzte und einmal über den halben Erdball fliege. Ganz im Gegenteil. Zuhause hilft mir meine Routine beim täglichen Kampf mit den verschiedenen Symptomen. Durch Singapur laufen, einmal quer durch Malaysia fahren, Kuala Lumpur entdecken – auf Reisen sein – eher keine Routine. Zum Glück. Toll für uns, weil wir viel sehen und erleben. Toll für meine Borderline, weil ich meine Schutzschilder nicht so stark im Auge habe, wie daheim.

Die ersten Tage hat es mich ganz schön durchgerüttelt. Und ich habe schnell gemerkt und entschieden, dass ich etwas ändern muss. Und daraufhin versucht, die zuhause alltäglich absolvierten und fast automatisch ablaufenden Schutzmechanismen wieder hochzufahren. Das heißt also drauf achten, was ich meinem Körper so an Lebensmitteln vorsetze. Wenn möglich täglich zu meditieren. Ausreichend Sport und Bewegung. Und achtsam mit mir und dem Leben umgehe.

Mit der gesunden Ernährung klappt es hier in Asien naturgemäß sehr gut. So viel Gemüse und Reis und Fisch. Vielleicht könnte der Alkohol noch weniger werden. Aber auf das Bier am Strand möchte ich momentan noch ungern verzichten. Auch für die Meditation finde ich immer ein Plätzchen und (mindestens) eine Viertelstunde.

Schwieriger ist da schon der Sport. Besonders, wenn man dank der Temperaturen und fehlenden Strecken nicht dem wichtigsten Sport nachgehen kann: eine Runde laufen! Zum Glück bin ich auf alles vorbereitet und habe mir auf meinen Rechner zahlreiche Sport-DVDs kopiert. Und mir eine tolle App geleistet, die so anstrengend und gut konzipiert ist, dass auch zehn Minuten am Tag völlig ausreichend sind.

Kleiner Haken: für all diese Aktivitäten brauche ich doch ein Mindestmaß an Platz. Gar nicht so einfach. Vor allem wenn man sich zu zweit EINEN mittelgroßen Raum taucht. Hier muss ich mich mal wieder ganz klar bei Arvid bedanken. Wenn er mal wieder das Zimmer räumen muss, damit ich vor mich hin sporteln und schwitzen kann. Aber andererseits: ich sehe den Sport als meine Medizin. Wenn ich Diabetes hätte dann müsste er auch akzeptieren, dass ich mir Insulin spritzen muss. Aber natürlich ist es toll, wenn nicht jedes Mal große Diskussionen losgehen, weil ich mich meiner Selbstfürsorge widmen will, muss, kann und soll.

In Kuala Lumpur hatte ich Glück. Und einen Pool auf dem Dach. Den hatte ich jeden Morgen aufs Neue (fast) für mich alleine. Da oben konnte ich dann in Ruhe schwimmen, meditieren und eine kleine Runde Yoga machen. Und wenn ich dann nach einer Stunde wieder ins Zimmer bin hat Arvid System es auch in eine Art Wachzustand geschafft. Und wir können gemeinsam in den Tag starten. Selbstfürsorge pur!

Wenn ich es dann noch schaffe, meine Tage hier mit Achtsamkeit zu füllen, dann stehen alle Schutzschilder auf grün. Achtsamkeit, also voll im Hier und Jetzt sein, ist für mich auf Reisen vielleicht sogar noch ein klein wenig wichtiger als zu Hause. Einfach weil sie dabei hilft, all diese kostbaren Momente wirklich auszukosten und auch festzuhalten. Und Achtsamkeit heißt für mich auch, dem mächtigen Man-Müsste-Mann öfter mal die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Nicht müssen, sondern in mich reinhorchen, was ich will. Enorm wichtig!

Eine Borderline-Beziehung auf Reisen

Unterwegs in Asien ist Arvid natürlich meine einzige wirkliche Bezugsperson. Klar, wir lernen Menschen kennen und begegnen vielen Leuten. Aber meine Borderline ist ja doch ein bisschen schüchtern. Es braucht immer eine Weile, bis sie sich an der Ratio vorbeischleichen und sich einem Menschen zeigen kann. Das kam auf THE|trip bisher noch nicht vor.

Ich bin fast schon überrascht und vor allem sehr froh, wie harmonisch unsere Partnerschaft bisher auf dieser Reise ist. Kaum Streits, wenn dann kleine Zankereien. Ich bin jeden Tag glücklich, ihn an meiner Seite zu haben. Um mit den Worten des Symptoms N°2 zu sprechen: die Idealisierung lässt der Abwertung gerade keine Chance. Wir haben so lange auf diese Reise hingearbeitet, uns vorgefreut und gewartet. Und uns im Zuge dessen ein halbes Jahr kaum gesehen. Er hat in Schweden gearbeitet, ich in München. Wir haben also ein bisschen was aufzuholen. Das spielt bestimmt auch eine Rolle.

Das heißt nicht, dass Arvid hier in Asien von den Turbulenzen meiner gestörten Persönlichkeit verschont bleibt. Aber was die Gefühle ihm Gegenüber angehen, so gibt es keine Spur von Zweifel an unserer Partnerschaft. Was ja zuhause durchaus vorkommen kann.

Vor den Stimmungsschwankungen und den plötzlichen Wutanfällen bleibt er leider nicht verschont. Die sind einfach zu fest eingebaut. Die bekomme ich auch durch größte Mühe nicht weg. Und die machen mir hier auch am meisten zu schaffen. Wie ich im Post BPD Symptome erklärt | N°6 erzähle, bestimmt dieser Teil von Borderline auch zu Hause einen großen Teil meines Alltags.

Und so passiert es, dass die Borderline Arvid mehrmals am Tag am Kragen packt und mit in die Achterbahn zerrt. Dann wird er angepöbelt, angeschnauzt und abgefertigt was das Zeug hält. Nicht viel anders als zu Hause also. Der Unterschied, zu dem, was ich im Artikel über die affektive Instabilität schon geschrieben habe, liegt wohl am ehesten darin, dass meine Wutausbrüche hier noch viel mehr Fehl am Platz wirken als zu Hause. Und das schlechte Gewissen nochmal ein Stück größer. Wenn ich mit einem kleinen Anfall mal wieder ein schönes Essen ruiniere. Oder die gesamte Tagesplanung in Gefahr bringe.

Die Stimmungsschwankungen sind auf jeden Fall das Symptom, was am treuesten mitreist. Wie ich damit umgehe unterscheidet sich kaum von meinen Strategien zu Hause: versuchen, die Anspannung generell niedrig zu halten, weil die Ausbrüche dann weniger (heftig) sind. Und meiner Ratio einen Schubs geben, dass sie doch bitte da oben für Ordnung sorgen soll. Wir sind doch schließlich im Urlaub, da gibt es also noch weniger Grund, wild durch die Gegen zu pöbeln. Klappt (noch) nicht so gut, wie ich mir das Wünsche. Aber ich arbeite weiter dran.

Der Rest der Symptombande

Was steht noch so auf der schönen Symptomliste?

  • mein Selbstbild und meine Selbstwahrnehmung sind vielleicht ein bisschen stabiler als zuhause. Ich sitze viel und plane meine Zukunft, denke über Möglichkeiten und konkrete Maßnahmen nach.
  • die Impulsivität lebt sich hier ein bisschen weniger stark aus. Oder anders: sie schafft es, sich ganz gut unter dem Denkmantel des Urlaubs zu verstecken. Denn diese Reise ist nun mal auch Urlaub. Da möchte man sich mal was gönnen. Sei es ein Kleidungsstück, was man nicht braucht. Sei es ein Bier zu viel. Oder ein leckeres/teures Essen. Das Ganze läuft aber noch nicht aus dem Ruder. Und zu streng will ich auch nicht mit mir sein. Wie haben unser Budget immer im Blick und schlagen wenn überhaupt meistens sehr bewusst über Strenge.
  • Selbstverletzung (SVV) & Co sind bisher noch nicht hier in Asien aufgetaucht. Die sitzen wahrscheinlich in Deutschland und wundern sich, wo ich hin bin. Tja, zu langsam, Jungs. Der Flieger ist abgehoben. Und ihr müsst nicht auf mich warten. Ich finde es ganz schön ohne euch.
  • die innere Leere hat es auch nicht in den Flieger geschafft. Die sitzt wahrscheinlich daheim neben den Jungs der SVV und langweilt sich. Recht so. Ich bin auch momentan zu voll mit Reiseerlebnissen, Zukunftsplänen und anderen Vorhaben, als dass für die Leere noch Platz bleiben würde.
  • die Wut: siehe Stimmungsschwankungen. Ja, die kommt oft raus.
  • paranoide Vorstellungen. Auch die sind dabei. Das heißt bei mir nicht, dass ich denke, die schwarzen Männer wären hinter mir her oder die Geheimdienste kontrollieren unsere Gehirnströme. Mit Paranoia ist in diesem Zusammenhang zu verstehen, dass ich denke, andere Leute reden über mich. Finden mich blöd. Lästern hinter meinem Rücken. Beobachten mich um dann über mich lachen zu können. Und so fort. Wie zuhause macht mir das auch hier zu schaffen. Verstärkt wird das natürlich dadurch, dass ich die Sprache hier nicht verstehe. Oder nur einige, wenige Brocken. Und wie auch zuhause versuche ich diesen Teil von Borderline mit meiner wunderbaren Ratio in den Griff zu bekommen. Auch das ist ein Skill. Indem man sich bewusst macht, dass die Menschen mit großer Sicherheit über etwas anderes Reden. Und auch wenn sie über mich reden versuche ich mir zu sagen: Sollen sie doch. Gar nicht so einfach, kann ich euch sagen.

Wie war die Fahrt also bisher?

Ich muss sagen: nach den Anfangsschwierigkeiten komme ich eigentlich sehr gut klar. Ich würde sagen, es hat sich mittlerweile auf einem ähnlichen Alltagslevel wie zuhause eingependelt. Es gibt bessere und schlechtere Tage.

Dass es (mittlerweile) so gut ist, liegt aber auch einfach daran, dass wir Tempo aus unserer Reise herausgenommen haben. Vier Wochen an einem Ort. Das ist das Beste, was mir und meiner instabilen Welt passieren kann. Ohne den Stress, den Ortswechsel nun mal mit sich bringen, können wir uns richtig auf diesen Platz hier einlassen.

Ich kann mir genug Zeit dafür nehmen, in mich reinzuhorchen. Worauf habe ich gerade Lust? Was will ich heute machen? Ohne Stress oder Druck, dass wir was verpassen. Oder etwas nicht schaffen. Oder, oder, oder. Dem Man-Müsste-Mann einfach immer wieder die Tür vor der Nase zuschlagen. Das tut meinem Kopf extrem gut.

Denn zu den Gefühlen, die mich gerne übermannen, zählt auch der Neid und eine besondere Form der Angst. Ich kenne das von zuhause. Wenn ich vom Berg runter gehe, möchte ich eigentlich sofort wieder rauf. Wenn ich gerade drei Stunden in der Sonne im Biergarten saß und auf dem Heimweg an zwei weiteren Biergärten vorbei fahre – dann beneide ich die Menschen. Und möchte auch gerne dort sitzen. Obwohl ich genau das gerade getan habe.

Darunter liegt bestimmt die Angst, etwas zu verpassen. Aber sicher auch eine Form der Unsicherheit, die so vielleicht nur bei Borderline-Betroffenen auftaucht: wenn es schön ist, dann will ich das gerne festhalten. Denn ich weiß nie, wie die nächste Station heißen wird und wie es dort aussieht.

Da herum entfaltet sich dann ein kleiner Kampf zwischen Kopf – dem vollkommen klar ist, dass wir eine tolle Zeit hatten und es total ok ist, jetzt vom Berg runter bzw. nach Hause zu fahren – und dem Herz, das Angst davor hat, nie wieder so glücklich zu sein.  Wahrscheinlich schlägt dies in eine ähnliche Kerbe wie der Man-Müsste-Mann. Wenn alle hier am Strand sitzen, dann muss es hier ja schön sein. Warum fahren wir also nach Hause? – Weil wir gerade vier Stunden hier am Strand gesessen, den Carpe ohne Ende gediemt haben, wir jetzt müde sind und eigentlich total gern nach Hause und ins Bett wollen. – Ach so, ok. Danke für’s Erinnern!

In solchen Momenten rufe ich mir einen Satz ins Gedächtnis, den ich vor Jahren mal gehört habe und der mir oft hilft:

Wenn etwas vorbei ist, sei nicht traurig, dass es zu Ende ist. Sondern sein froh, dass es gewesen ist.

Und wie geht die Fahrt weiter?

Über diese ganzen Symptome und Alltags-Special Effects darf eine Sache aber nicht vergessen werden: ich bin und bleibe eine junge Frau, die gerade vier Monate durch Asien reist. Dabei viel erlebt. Sieht. Genießt. Probiert. Und lernt. Die Städte, Länder und eine ganze Welt entdeckt. Eine Reiselustige auf lustiger Reise! Auch das gehört in diesen Artikel. Und auch das muss hier stehen.

In Zukunft werde ich, wie gesagt, versuchen, mehr vom Thema Borderline in jeden neuen Bericht einfliessen zu lassen. Ich muss mir einfach noch öfter noch bewusster machen, dass dies nur zweitrangig ein Reiseblog ist. Oder eigentlich drittranging. Sondern primär ein Alltagsblog. Und gleich dahinter ein Borderline-Blog. Was ziemlich oft das gleiche ist. Auch auf Reisen.

Eine Seite mit, über und für Borderline. Für euch. Für euch Betroffene. Für euch Angehörige. Für euch Interessierte. Wie es in Singapur ist, könnt ihr wahrscheinlich in 100 deutschen und 10 Mal so vielen englischen Blogartikeln lesen.

Wie es aber ist, mit einer treuen Borderline Persönlichkeitsstörung durch Singapur und Asien zu laufen, das könnt ihr nur hier bei mir lesen. Und dafür muss ich es natürlich schreiben.

An dieser Stelle also noch mal ein großes Danke an die oder den, der mich darauf aufmerksam gemacht hat.

Dir ist auch etwas aufgefallen? Oder du wünschst dir was? Schreibe mir, gerne anonym.

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