Selbstschädigung kann viele Gesichter haben.
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Ich will das jetzt! Ich brauch das jetzt! Ich mach das jetzt!

BPD Symptome erklärt | N°4

In der Reihe BPD Symptome erklärt möchte ich euch nach und nach anhand der „offiziellen Kriterien“ des DSM die Symptome der Borderline Persönlichkeitsstörung vorstellen. Wie bei allen Beiträgen auf meiner Seite gilt: hier geht es um meine Welt, um meine Erfahrungen, um meine Ansichten. Wenn ihr Ergänzungen habt, könnt ihr diese gerne per Mail oder in den Kommentaren mit mir und allen Lesern teilen. Einen Überblick über die Symptome findest du im Grundkurs Borderline. Nun also zu Kriterium N°4:

Starke Impulsivität in mindestens zwei möglicherweise selbstschädigenden Bereichen, zum Beispiel Geldausgeben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, zu viel oder zu wenig essen.

Trinken um den Selbsthass ertragen. Essen um die Anspannung zu regulieren. Kaufen um die Trauer zu bekämpfen. Und das regelmäßig. Und unkontrolliert. Mechanismen, die teuflischerweise extrem gut funktionieren. Obwohl sie Körper, Psyche und Beziehungen langsam und stetig kaputt machen.


Zu allererst: hierbei geht es (noch) nicht um selbstverletztendes Verhalten. Denn das ist ein eigenes Symptom und als nächstes in der Reihe dran. Hierbei geht es wirklich darum, Dinge zu tun, die einfach nicht klug sind. Und darum, das auch prinzipiell zu wissen – aber in dem Moment einfach nicht anders zu können. Und auch darum, es hinterher gerne zu bereuen. Oder sich dafür zu hassen.

Am ausgeprägtesten trage ich diesen Kampf mit dem Alkohol aus. Oder habe es getan. Darüber hinaus habe ich aber auch immer wieder das Kaufen von Dingen, das eindeutig zu rücksichtslose Fahren und die Menge des Essens, das ich zu mir nehme, instrumentalisiert.

Aber warum und was steckt dahinter?

Kontrolle bitte zu mir! Die Kontrolle bitte!

Ganz kurz und knapp: diese Handlungen dienen dazu, irgendetwas in mir drin zu regulieren, zu kontrollieren oder zu ignorieren. Gefühle oder Gedanken. Dinge, mit denen ich nicht klar komme. Und auch dazu, die Anspannung in den Griff zu bekommen.

Ich bin mir sicher, viele von den Verhaltensweisen oben kennst du. Mal kauft man ein T-Shirt, dass man sich eigentlich gar nicht leisten kann. Und auch nicht braucht. Es passiert, dass man hinterm Steuer schimpft – mal ein wenig oder auch mal ein wenig mehr. Am Esstisch schlägt man über die Strenge – währenddessen ist es toll, danach fühlt man sich manchmal nicht mehr so toll. Oder Rauchen – ich tue es zwar nicht, weiß aber das viele es zum Runterkommen oder Entspannen nutzen. Ich habe es schon oft gesagt, aber es gilt auch hier wieder: mulitpliziere das dir bekannte nun mit hundert, und dann haben wir das Problem.

Mal ein wenig über die Verhältnisse zu leben, mal zu viel zu trinken, mal zu viel zu essen ist nicht schlimm. Wenn es jedoch regelmäßig vorkommt, ist das nicht mehr so harmlos. Ich habe Betroffene kennengelernt, die haben sich in den finanziellen Ruin gebracht; mit Shoppen oder Spielen. Andere balancieren am Rand einer Essstörung. Oder haben schlimme Verkehrsunfälle verursacht.

Das fiese für mich ist, was eigentlich dahinter steckt: Dir geht es nicht gut. Dann merkst du (zufällig) dass es etwas gibt, dass dir hilft. Das macht, dass es dir ein bisschen besser geht. Ob das nun Shoppen, Essen, Hungern, Schnelles Fahren, Trinken oder andere Drogen sind. Und mit der Zeit verlierst du die Kontrolle darüber, wann du es einsetzt. Von der Einmal- wird es zur Dauerlösung. Der Impuls, genau diese Sache jetzt zu brauchen, zu wollen, zu machen wird immer stärker, kommt immer öfter – und du wirst immer hilf- und machtloser. Und da du auch keinen anderen oder gar besseren Weg kennst, da rauszukommen, machst du es halt.

Gesunde Menschen können hier einen Riegel vorschieben wenn es zu viel / zu oft / zu stark wird. Sozusagen das Stoppschild hochhalten. Bei Menschen mit Borderline Persönlichkeitsstörung kommt hier aber die mangelnde Affektkontrolle ins Spiel. Der Impuls ist da also wird er bedient.

Diese Sachen zu brauchen, obwohl du weißt, dass sie dich auf irgendeiner Art und Weise kaputt machen, fühlt sich fast noch schlimmer an. Am Anfang denkst du darüber noch gar nicht nach. Du bist einfach nur froh, dass es etwas gibt, das funktioniert. Aber spätestens als ich mich in der Therapie immer mehr mit mir und meinen Angewohnheiten beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, dass ich fleißig dabei bin mich selber zu zerstören. Leider ist diese Erkenntnis noch nicht gleichzusetzen mit einem Ende.

Sucht oder Ja?

Bei vielen Betroffenen gehen die selbstschädigenden Verhaltensweisen auf jeden Fall irgendwann in eine suchtähnliche Richtung. Ich finde den Vergleich von Minisüchten gar nicht so schlecht. Obwohl Mini eigentlich das falsche Wort ist. Denn das Ganze kann sich auswachsen zu eigenen Krankheiten. Nicht umsonst kommen Spiel- und Drogensucht sowie Essstörungen sehr häufig als komorbide Diagnosen bei Borderlinern vor.

Der Unterschied zu „klassisch“ Süchtigen ist meiner Meinung nach, das gezielte Einsetzen verschiedener selbstschädigender Dinge um verschiedene Gefühle zu regulieren. Wenn es uns Betroffene mal wieder von jetzt auf gleich zwischen unseren Emotionen hin- und herschiesst, wollen und brauchen wir eben auch schnelle Lösungen. Dann hilft es nicht zu sagen „Ich gönne mir heute Abend ein Bad.“ Nein – es muss jetzt sein. Jetzt! Sofort! Jetzt halte ich die Trauer nicht aus – also trinke ich. Jetzt überwältigt mich der Schmerz – also kaufe ich mir was.

Meine Erfahrungen

Essen funktioniert bei mir in zweierlei Hinsicht: zu wenig ist super, wenn ich mich „bestrafen“ will. Das leere Gefühl im Bauch, das Knurren des Magens – scheint zu sagen: „Recht so. Genau das hast du verdient.“ Andersrum kann Essen aber auch dazu dienen, ein gutes Gefühl hervorzurufen. Eine leckere Pizza, schön Schokolade – wenn es sonst nichts gibt, was mich glücklich macht dann wenigstens über die Nahrung ein paar positive Gefühle provozieren. Beides habe ich allerdings nicht oft, sondern nur in extremen Zeiten angewendet. Insgesamt muss ich sagen, dass ich mittlerweile ein sehr gutes Verhältnis zum Essen habe. Ich weiß, was mein Körper braucht und möchte es ihm auch gerne geben. Denn für den Einsatz, den er täglich bringt, hat er nur das Beste verdient.

Nächstes Thema: Riskantes Fahren. Ja, das gab es. Definitv. Oft. Und dieses Verhalten macht mich besonders wütend an mir selber, weil es so potentiell fremdschädigend ist. Zum Glück ist nie was passiert. Da war wohl manchmal eine Armada an Schutzengeln nur dazu abgestellt, um mich herumzufliegen. Mittlerweile bin ich vielleicht noch immer nicht die tiefenentspannteste Fahrerin, aber kein Vergleich mehr zu früher.

Und dann der Alkohol: definitiv mein stärkstes Lösungsmittel. Oft genutzt, lange erprobt, erfolgreich getestet. Für und gegen alles. Gefühle, Gedanken, Anspannung – name it, I did it. Wenn ich noch ein paar Jahre so weitergemacht hätte, wie ich es in meinen schlimmsten Zeiten getan habe, dann wäre das Ende nun mittlerweile definitiv nah. Oder sogar schon erreicht. Hier zeigt sich aber auch wieder der – meiner Meinung nach – vorhandene Unterschied zu einer reinen Alkoholabhängigkeit: sobald ich mich für die stationäre Aufnahme in der Klinik entschieden hatte, habe ich keinen Tropfen mehr getrunken. Ohne Probleme. Ohne Zittern, Schwitzen, Krampfanfälle oder ähnliches. Von heute auf morgen. Kein Ding.

Blöd oder unschön ist auch, wenn man die verschiedenen Mechanismen gegeneinander ausspielt oder gar kombiniert. Zum Beispiel: ich habe jetzt zu viel Alkohol getrunken, also viele Kalorien zu mir genommen – deswegen esse ich jetzt nichts.

Was tun?

Erkennen ist wohl auch hier der erste Schritt in Richtung Besserung. Je nachdem wie stark der Kontrollverlust gegenüber der Angewohnheit ist, wird es ohne professionelle Hilfe schwer. Hier können Angehörige wieder unterstützen, indem sie den Betroffenen nicht für seine Angewohnheiten verachten. Oder ihn darin unterstützen. Von außen ist oft leichter zu erkennen, ob es noch nur eine schlechte Marotte ist, oder schon gefährlich wird.

Je näher das ganze Richtung ausgewachsener Sucht geht desto wichtiger ist, sich Hilfe von außen zu holen.

Ich habe selber erstmal probiert, das Ganze alleine in den Griff zu bekommen. Ging auch irgendwie. Aber nur bis zur nächsten Krise. Dann war alles wieder wie vorher. Erst als ich in der Therapie gelernt habe, warum ich gewisse Dinge mache und was überhaupt mit mir los ist, konnte ich an den eigentlichen Ursachen arbeiten. Das war nicht schön, aber heute bin ich froh, dass ich mich da durch gekämpft habe. Meinen Dämonen sozusagen in die Augen gesehen habe. Und ich hab nicht als erste weggeschaut.

Jetzt möchte ich euch vor allem Mut machen: man kann lernen, die selbstschädigenden Sachen durch harmlosere zu ersetzen. Bessere Alternativen finden. Den Impulsen nicht mehr so hilflos ausgesetzt sein. Zum Schluss lasse ich gerne Mark Twain zu Wort kommen:

Eine Angewohnheit kann man nicht aus dem Fenster werfen. Man muss sie die Treppe hinunter prügeln. Stufe für Stufe.