Laufen & Depressionen

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Laufen & Depressionen

Ein Artikel über Laufen und Depressionen – wundert mich selber, dass ich ihn nicht schon viel früher geschrieben hab =) Aber wie dem auch sei – nun ist er da. Und wird euch erzählen, wie die zwei sich in meinem Fall beeinflussen. Und zeigen, dass ich nicht die einzige bin, die diesen Zusammenhang für sich nutzt.


Einer meiner meistgenutzten Hashtags auf Instagram lautet #healthybodyhealthymind. Grob übersetzt also: gesunder Körper, gesunder Kopf. Denn für mich kann es dem einen nur gut gehen, wenn es dem anderen auch gut geht. Und mit dieser Meinung bin ich nicht alleine. Die Fachwelt weist schon lange darauf hin, dass man sich den gesamten Menschen anschauen muss, um Verbesserungen und Veränderungen zu erreichen.

In breiten Teilen der Gesellschaft wird jedoch weiterhin Gesundheit mit körperlicher Gesundheit gleichgesetzt. Was im Kopf passiert ist egal. Hauptsache, der Rest passt. Auch ein Grund, warum es den meisten Menschen leichter fällt, offen zu ihren körperlichen Erkrankungen zu stehen als zu ihren psychischen.

Bis wir die ganze Komplexität an Prozessen verstanden haben und verstehen, auf welchen Ebenen sich Kopf und Körper gegenseitig beeinflussen, wird bestimmt noch eine Weile ins Land gehen. Dass diese Zusammenhänge aber zahlreicher und stärker sind, als lange gedacht, zumindest darin ist die Wissenschaft sich inzwischen einig.

Und wenn man so will, bin ich das praktische Beispiel dafür, dass es stimmt. Dass Körper und Kopf sich dabei helfen können, Krankheiten und Probleme zu besiegen. In meinem Fall ist das Mittel zum Zweck: Laufen.

Laufen damals

Wer heute hört, dass ich vor wenigen Tagen meinen zweiten Marathon in Paris gefinisht habe, könnte denken, Laufen sie schon immer mein Ding gewesen. Das ist aber ganz und gar nicht so. Vor wenigen Jahren noch war ich eine absolute Sportmuffelin. Habe wirklich gar! nichts! für meinen Körper oder geschweige denn für meine Fitness getan.

In einem Anflug von „Es muss sich was ändern“ kam dann 2011 wortwörtlich Bewegung rein. Mehr oder weniger gleichzeitig habe ich meine Ernährung umgestellt, in meinem Zimmer zu diversen Sport-DVDs geturnt und erste Laufversuche gestartet.

Damals habe ich keine 5 Kilometer bzw. 30 Minuten am Stück geschafft. Hatte keine tollen, teuren, schicken Laufklamotten oder Gadgets. Hab einfach genommen, was da war: die ALDI-Laufgarnitur inklusive ALDI-Turnschuhen.

Und irgendwie bin ich dabei geblieben, bin einfach immer weiter gelaufen. Irgendwann gingen die 5 Kilometer, konnte ich 30 Minuten am Stück laufen. Mein erstes offizielles „Rennen“ war dann der Silvesterlauf am 31.12.2011. Freunde hatten mich irgendwie dazu bringen können, mich dort anzumelden und so bin ich sowohl das erste Mal 10 Kilometer als auch mit Rennatmosphäre gelaufen.

Hätte man mir das wenige Monate vorher erzählt, hätte ich laut gelacht. Sehr laut. Aber irgendwie war es gut. Die Stimmung, die Aufregung vor dem Start, die Freude beim Zieleinlauf, die Trommler am Streckenrand, die fremden Menschen, die einen anfeuern.

Und so bin ich wenige Monate später meinen ersten Halbmarathon in München gelaufen.

Laufen heute

Und heute? Ist das Laufen fest, ganz, ganz fest in meinem Leben verankert. Aus der ALDI-Laufgarnitur und den ausgelatschten Turnschuhen ist eine höchst ansehnliche Ansammlung aus hochfunktionalen Kleidungsstücken für alle Witterungsverhältnisse geworden.

Je nach Saison, Ziel, Lust & Laune gehe ich zwei bis vier Mal die Woche laufen. Da ist alles von 20 Minuten bis 3 Stunden dabei. Langsam, schnell, abwechselnd, bergauf, morgens, abends – wie es mein Körper, mein Kopf, das Leben oder der Trainingsplan will.

Egal wo ich hinreise – meine Laufausrüstung kommt mit. Ob eine 12 Kilometer Morgenrunde durch Barcelona oder der Strandlauf in Bali am Meer. Wo ich bin, da kommt das Laufen mit.

Den Großteil meiner Läufe absolviere ich alleine. Ich habe mal hier, mal dort bei Laufschuh- oder ähnlichen Tests probiert, wie das Training in der Gruppe so für mich ist. Und es ist wohl eher nichts für mich. Oder ich habe „meine“ Laufgruppe noch nicht gefunden. Manchmal darf jemand mit mir auf die Strecke, mein Partner oder eine gute Freundin – aber wirklich häufig ist das nicht.

Laufen für den Kopf

Als ich angefangen habe, mich regelmäßiger zu bewegen, war mir noch gar nicht klar, dass ich damit auch mein psychisches Befinden beeinflussen könnte. Damals wusste ich ja noch nicht einmal, dass ich Borderline habe. Aber es muss mir wohl trotzdem gut getan, etwas gegeben haben – oder ich hätte wieder aufgehört.

Früher also eher Verstand bzw. Vernunft, die mich zum Laufen gebracht haben, ist es heute eine Kombination aus (Vor)Freude, Ehrgeiz, Selbstfürsorge, Lust, Routine, Sucht, Leidenschaft und Therapie. Auf Instagram gibt es bis dato knapp 100.000 Beiträge mit dem Hashtag #runningismytherapy, die zeigen, dass ich mit diesem Ansatz nicht alleine bin.

Laufen ist Zeit für mich. Mein Kopf, mein Körper dürfen freidrehen. Die Beine dürfen powern, die Gedanken hinrennen, wo sie wollen. Inzwischen geht das. Mich mit meinem Kopf alleine zu lassen. 2011 ging das nicht nur beim Laufen noch nicht. Generell war „meinem Kopf zuhören“ eine meiner schlimmsten Vorstellungen und größten Ängste. Deshalb ging es die ersten Monate, Jahre auch nur mit Kopfhörern auf die Strecke. Mit Hörbuch. Musik wäre zu gefährlich gewesen, hätte den Gedanken zu viel Platz gelassen. Heute kann ich mir das nicht mehr vorstellen. Vereinzelt lasse ich mich bei den langen Läufen um 30 Kilometer von einem Hörbuch unterhalten. Aber 95% der Läufe absolviere ich ohne Berieselung.

Lange habe ich gesagt „Laufen ist mein Antidepressivum“. Wie ich im Mai 2017 gemerkt habe, war das wohl aber nicht ganz richtig. Inzwischen kombiniere ich: Laufen und Medikamente – und natürlich die vielen weiteren Pfeiler meiner Selbstfürsorge, die mich stabil halten. Trotzdem ist und (hoffentlich) bleibt das Laufen entscheidende Komponente bei der Erhaltung meiner psychischen Stabilität.

Laufen für den Körper

Und natürlich profitiert auch der Körper von der Bewegung. Nicht nur hat sich nach und nach meine allgemeine Fitness verbessert, konnte ich bald auch bergauf ohne viel Schnaufen und Frust laufen (und habe so eine neue Leidenschaft bzw. Kraftspender entdeckt). Die Muskeln freuen sich über die Bewegung, das Fett nicht so.

Dass über die mehr oder weniger offensichtlichen Veränderungen aber noch einiges mehr im Körper passiert, wenn man regelmäßig in die Laufschuhe schlüpft, ist, wie oben bereits erwähnt, mittlerweile gut erforscht. Dass diverse Vorgänge, die auch für psychische Krankheiten mitverantwortlich sind, von regelmäßiger Bewegung beeinflusst werden ist unter anderem Ursache dafür, warum Laufen bei Depressionen und Co so wirksam ist.

Fragt mich nicht genau, welche Hormone oder Botenstoffe im Körper beeinflusst werden, aber sie werden es. Dazu kommen Erfolgserlebnisse, gerade wenn man mit dem Laufen beginnt macht man sehr schnelle und offensichtliche Fortschritte. Das wiederum ist gut für das Selbstbewusstsein, das bei psychischen kranken Menschen oft nicht das beste ist.

Man merkt, dass man selber etwas verändern kann. Stichwort Selbstwirksamkeit. Man ist nicht hilflos allem ausgeliefert sondern kann die Dinge, das Leben beeinflussen. Dazu kommt die frische Luft, die guten Einflüsse von Tageslicht oder Waldluft.

Wer in der Gruppe läuft profitiert darüber hinaus auch auf sozialer Ebene. Merkt, dass er mehr ist als „nur“ seine Krankheit. Läuft er mit anderen Betroffenen oder Angehörigen sieht man, dass man mit seiner Problematik nicht alleine ist. In England gibt es tolle Initiativen wie Run Together oder Project Awesome , welches laut TIMES „is doing more for mental health than most organisations in London.“ Und auch wenn ich nicht gern in der Gruppe laufe sehe ich diese Vorreiter gerne als Inspiration und Motivation, selber mitzumischen.

Laufen für mich

Wie oben schon geschrieben laufe ich für mich. Weil ich weiß, wie gut es mir tut. Weil ich weiß, dass es mir dabei hilft, nicht in Löcher zu kommen. Weil ich meinem Körper nach all den Jahren der Selbstzerstörung gerne etwas gutes tue. Weil es mir hilft, Anker wie diese zu haben.

Und weil das Laufen für mich so enorm wichtig ist, es sehr weit oben auf meiner Prioritätenliste steht, müssen andere Dinge, andere Aktivitäten oder Menschen sich manchmal nach meiner Laufroutine richten. Und wenn man das für sich entschieden hat, es weiß und es klar vor anderen vertritt, klappt das auch sehr gut.

Laufen ist für mich aber auch ein Ziel, ein Grund, weiterzumachen. Ich habe es immer wieder erwähnt, dass ich – zumindest aktuell – noch externe Ziele brauche, die mich weitermachen lassen. Die mir dabei helfen, nicht aufzugeben. Die mich motivieren weiterzukämpfen, wenn meine dunklen Begleiter mal wieder packen wollen.

Dann hilft es mir zu sagen: „Nein, wir stürzen uns jetzt nicht ins Loch. Nur noch 7 Wochen bis zum Halbmarathon. 7 Wochen – das schaffst du!“ Nach dem ersten Marathon in Hamburg war genau das auch der Grund, warum ich in so eine tiefe Krise gefallen bin. Oder besser: der Grund war, dass ich mir keinen nächsten Anker gesetzt hatte.

Daraus habe ich gelernt: und für dieses Jahr schon 3 weitere Lauftermine im Kalender.

Laufen für meine Mission: HAVE YOU SEEN MY DEPRESSION? #running #mentalhealth

Laufen für meine Mission: HAVE YOU SEEN MY DEPRESSION? #running #mentalhealth

Laufen für andere

Die Idee, das Laufen nicht nur für meine eigene Gesundheit zu nutzen, habe ich mittlerweile auch schon seit vielen Monaten. Mit „Laufen für andere“ meine ich, für meine Mission zu laufen. Meine Mission, zu verändern, dass und wie wir über psychische Probleme reden.

Das Laufen, vor allem die Teilnahme an Rennen, kann eine tolle Möglichkeit sein, Aufmerksamkeit für ein Thema zu erregen. Immer wieder sehe ich Läufer, die für Stiftungen, eine Krankheit, Tiere oder ähnliches laufen. Für eine gute Sache also. So überrascht es nicht, dass mir irgendwann die Idee kam, auch für mehr als nur mich zu laufen. Sondern das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.

Ideen, wie genau dies aussehen kann, gibt es viele.

Als Team in gleichfarbigen T-Shirts an den Start gehen, für Spenden laufen, selber eine Laufveranstaltung organisieren e cetera, e cetera.

Laufen für meine Mission: RUNNING – ME: HAPPY – MY DEPRESSION: NOT SO HAPPY #invisiblewarriors

Laufen für meine Mission: RUNNING – ME: HAPPY – MY DEPRESSION: NOT SO HAPPY #invisiblewarriors

Auf kleiner Ebene habe ich damit in Paris angefangen.  Dort bin ich mit einem selbstgestalteten T-Shirt gelaufen. Vorne drauf steht: HAVE YOU SEEN HER DEPRESSION? #mentalhealth #running. Und auf der Rückseite: RUNNING – ME: HAPPY – MY DEPRESSION: NOT SO HAPPY.

Die Reaktionen sowohl bei mir als auch bei meinen drei Begleitern, die das selbe T-Shirt trugen (nur mit „HAVE YOU SEEN HER DEPRESSION?) waren zahlreich und gut. Auf der Strecke habe ich gehört, wie hinter mir Leute den Text auf französisch übersetzten, bekam Schulterklopfer, anerkennende (französische) Kommentare und sehr, sehr viele Blicke.

Aber das war nur der Anfang. Da geht noch viel mehr!

Laufen für alle

Das tolle am Laufen ist für mich, dass praktisch jeder es machen kann. Unser Körper ist zum Laufen gemacht. Man braucht nicht viel, um damit anzufangen, es sind erstmal keine hohen Investitionen nötig. Man braucht kein Studio, kein Equipment, keinen Trainer. Natürlich gibt es das alles, aber zum anfangen und ausprobieren braucht es wirklich wenig.

Dass laufen bzw. generell Bewegung sehr gut bei Depressionen hilft, ist mittlerweile bekannt und auch gut erforscht. Besonders Menschen mit leichten oder mittelschweren Depressionen profitieren schnell und zuverlässig von Sport. Die Deutsche Depressionshilfe hat unter dem Motto Laufen gegen Depression eine eigene Abteilung zum Thema und organisiert in einigen Städten Lauftreffs für Betroffene, Angehörige und Interessierte (in München jeden Montag um 18:30 am Englischen Garten).

Ganze Bücher beschäftigen sich mit dem Thema, z. B. das hier oder das hier (englisch). Immer mehr Kliniken bieten Laufen als Teil ihrer Therapie an, lassen sich mehr und mehr Menschen zu Lauftrainern ausbilden. Natürlich gefällt das auch den Krankenkassen: eine Maßnahme, die wenig kostet aber viel hilft? Her damit! ;-)

Ob zusammen oder alleine, zuhause oder im Urlaub, morgens oder abends, unter der Woche oder am Wochenende, langsam oder schnell – am Anfang auch gerne mit Gehpausen. Laufen kann jeder.

Laufen – nicht für dich? Auch ok!

Weder meine Begeisterung für den Laufsport noch die wissenschaftlichen Erkenntnisse bedeuten aber nicht, dass ich euch alle zu diesem Sport bekehren möchte. Dass Laufen für jeden etwas ist – auch wenn jeder es kann.

Für viele Menschen ist Laufen einfach nicht der richtige Sport, gibt es nichts schlimmeres als 10 Kilometer laufen zu müssen. Aber auf dem Basketball-/Volleyball-/Fußballfeld können sie sich stundenlang auspowern.

Ich freue mich, wenn jemand das Laufen ausprobiert – und bin in keinster Weise böse, wenn er bald merkt: „Das ist nichts für mich!“ und sich lieber eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio gönnt.

Im Endeffekt ist es der Depression nämlich egal, welchen Sport man macht. Hauptsache man bewegt sich. Ob in der Squashhalle, im Qi-Gong Kurs oder auf dem Rennrad. Sie findet jede Art von Bewegung blöd.

Und was ich immer wieder quasi unglaublich finde: bereits 60 Minuten die Woche können helfen!!! Eine Stunde! Pro Woche!!! Und das muss kein Hochleistungssport sein. Moderate Bewegung reicht. Spazierengehen. Fahrrad fahren. Mehr zur Studie, die das rausgefunden hat gibt’s hier (deutsch) und hier (englisch).

Laufen morgen

Jetzt habe ich also meinen zweiten Marathon in der Tasche, die nächsten Termine stehen schon im Kalender. Und jetzt? Wie geht es weiter? Da müssen wir unterschieden: zwischen Mission und Sport.

Bezüglich meiner Mission steht ganz oben auf der Liste, laufend mehr Leute zu gewinnen. Mehr T-Shirts drucken lassen zu müssen bzw. dürfen. Auch Sponsoren sind ein Ziel der nahen Zukunft. Vom Laufschuhhersteller bis zu lokalen Betrieben. Geld gegen Logo gegen Aufmerksamkeit. Also, wenn ihr jemanden kennt: her damit. Und natürlich auch, wenn ihr selber Teil meines Teams #invisiblewarriors werden wollt. Und keine Angst, ich werde niemanden zu irgendwas überreden – aber motivieren schon.

Sportlich gesehen darf es die ein oder andere Bestzeit schon noch geben. Trainingspläne und Ziele gibt es genug: Als nächstes sind dran: 5km in 20 – 10km in 45 – Halbmarathon in 1h45. Und irgendwann darf es dann auch mit dem Marathon unter 4 Stunden klappen.

Zumindest für den Moment wird Laufen (in Kombination mit Yoga und Bergen und Kraft und so) also meine Hauptsportart bleiben. Möglichkeiten, wie ich mich noch steigern könnte, gäbe es viele: beim Triathlon angefangen über Trailrunning zum Ultramarathon. Im Moment sage ich vor allem zum letzteren: „Nein Danke!“. Mit den beiden anderen liebäugele ich allerdings schon.

Aber da ich mich ja inzwischen kenne sage ich „Niemals nie“. Denn 2010 hätte ich auch „niemals gedacht“ dass ich wenige Monate später 10 Kilometer in unter einer Stunde laufen würde. Oder acht Jahre später freiwillig an der Startlinie eines Marathons stehe.

Ich bleibe also ganz bei mir, schaue worauf mein Kopf und mein Körper so Lust haben und halte mich laufend am Leben.

Sind wir nicht alle ein bisschen Mensch?

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Sind wir nicht alle ein bisschen Mensch?

Der zweite Aufenthalt in Brüssel im Rahmen meiner Mission, zu verändern, dass und wie wir über psychische Krankheiten reden. Dieses Mal war alles eine Nummer größer als bei meiner ersten Reise hierher – aber deswegen auch entspannter.


Zugegeben, an meinen letzten Aufenthalt in Brüssel knüpfe ich nicht gerade die besten Erinnerungen. Das liegt aber nicht am Aufenthalt oder der Stadt selber; sondern an dem, was danach geschah. Wofür das arme Brüssel und seine Menschen natürlich wenig können.

Wer nochmal nachlesen will, was damals passiert ist, der kann das hier tun.

Aber dieses Mal ist alles anders. Und das ist wirklich so. Ich bin nicht vor wenigen Tagen meinen ersten Marathon gelaufen. Es handelt sich nicht um eine Veranstaltung mit dem Hauptthema Mental Health. Und ich halte auch keinen Vortrag. Alles Dinge, die beim letzten Mal zutrafen.

Dieses Mal bin ich in Brüssel im Rahmen des Europäischen Tages der Menschen mit Behinderung (European Day of Persons with Disabilities – EDPD). Indirekt bin ich zwar wieder wegen Mental Health Europe hier, aber auch, um meine kürzlich errungenen Posten im Youth Committee des European Disability Forum EDF anzutreten.

In aller Kürze: Das EDF ist eine unabhängige Nichtregierunsorganisation (NGO) welche sich für die Belange von über 80 Millionen Menschen in Europa einsetzt. Das sind circa 16% der europäischen Bevölkerung. Zum EDF gehört auch ein Jugendkommittee, welches alle vier Jahre neu gewählt wird – so auch 2017. In diesem Rahmen hat mich Mental Health Europe als Kandidatin vorgeschlagen. Auf meine Vorstellung bzw. Bewerbung folgte wenige Wochen später eine E-Mail. Und in der wurde mir mitgeteilt, dass ich gewählt wurde.

Da hab ich mich natürlich erstmal gefreut, aber so richtig viel konnte ich mit dieser Neuigkeit nicht gleich anfangen bzw. wusste nicht, was das jetzt für mich bedeutet.

Nun habe ich hier in Brüssel meine Mitstreiter des Youth Committees kennenlernen dürfen, weiß zwar immer noch nicht genau, wie die nächsten vier Jahre in Bezug auf diese Aufgabe für mich aussehen werden, aber zumindest begreife ich, dass die ganze Sache doch eine Nummer größer ist, als ich bisher gedacht habe.

Bin ich behindert?

Der ein oder andere von euch wird sich jetzt vielleicht fragen: »Ja, aber jetzt redest du hier von behindert und disabled – aber ist Borderline jetzt plötzlich ne Behinderung?« Nein, ist es nicht. Aber dass es in Zeiten stetig steigender Betroffenenzahlen im Bereich der psychischen Krankheiten nicht mehr reicht, bei politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen „nur“ körperliche Beeinträchtigungen zu berücksichtigen ist eine Erkenntnis, die sich auf immer mehr Ebenen langsam durchsetzt.

Und so ist auch meine Rolle im Youth Committee für all die Menschen zu sprechen, deren Einschränkungen vielleicht nicht sichtbar sind bzw. keine körperliche Herausforderungen mit sich bringen. Die nach außen hin »heil, ganz, normal« aussehen – aber trotzdem jede Menge Schwierigkeiten haben, ihren Alltag zu meistern.

Natürlich stößt mir der Begriff der Behinderung hier und dort unschön auf. Und natürlich ist mir klar, dass jemand in einem Rollstuhl, eine blinde Frau oder ein gehörloser Mann andere Probleme haben, als jemand mit Depressionen. Aber dass wir alle von einer offeneren, toleranteren und verständnisvolleren Gesellschaft profitieren, steht für mich auch fest.

Wir sind nun mal alle Einzelstücke und haben unsere ganz eigenen Bedürfnisse – ob blind, dumm, depressiv oder „gesund“. Nur weil man sich eine Diagnose oder ein Schicksal teilt, heißt es nicht, dass einem die gleichen Dinge helfen oder man sich die gleichen Dinge wünscht. So werden wir nie drum herum kommen immer den Menschen, und nicht die Diagnose, den Rollstuhl, die Krankheit, die Einschränkung zu sehen. Und was dieser Mensch möchte, braucht, was ihn ärgert und was er sich wünscht kann er oder sie selber nun mal am besten beantworten.

«Mir geht’s aber viel schlechter!»

Schockiert hat mich die Tatsache, dass selbst auf dieser Ebene noch der Wettbewerb tobt, wer denn nun am ärmsten dran ist. Dieser Wettbewerb – oder Sufferlympics, wie ich sie gerne nenne – hilft aber keinem weiter. Und trotzdem wird viel Energie und Zeit in Äußerungen gesteckt, dann mancher es doch noch viel schwerer habe als andere. Schon aus dem Alltag dürfte euch dieses Phänomen bekannt vorkommen. Und hier ist das dann alles nochmal ein wenig krasser.

Blind mit Blindenhund ist quasi eine Stufe schlimmer als nur blind. Aber die Taubblinden sind ja eigentlich die allerärmsten, ausgegrenztesten und verdienen eigentlich eine eigene Kategorie als die restlichen behinderten (wurde tatsächlich gefordert). Ich möchte nicht abstreiten, dass all diese Menschen große Schwierigkeiten haben, ihr Leben zu meistern und bewundere sie, für ihren Mut und ihr Engagement. Aber so richtig produktiv sind solche Äußerungen eben leider nicht.

Bei vielen Beiträge, die in diese Richtung gingen, hatte ich zudem den Eindruck, dass sie schon zigfach wiederholt wurden, sich wie eine Art Mantra in Mund und Kopf festgesetzt haben. Da ist wenig Chance für Bewegung, für Neues. Es war aber auch nicht der Nachwuchs, der solche Sätze und Forderungen formuliert hat. Sondern die älteren Semester. Kämpfer, die schon viele Schlachten gesehen, viele Konferenzen kommen und gehen haben sehen, die müde wirken. Da bilden Sturheit, Stolz und Resignation einen gefährlichen Klumpen, der sich nur noch schwerlich von der Stelle bewegt. Und das bringt mich direkt zu meiner nächsten Frage:

Wo ist die Jugend?

Wo sind die Leute, die noch nicht müde sind, noch nicht resigniert haben? Die noch Vorstellungen, Ideen, Träume, Ziele und Willen haben, gegen die Mühlen anzurennen? Die den Klumpen dabei helfen, sich wieder zu bewegen? Wo sind die Flummis, die wieder Schwung in die Sache bringen?

Im Rahmen meiner Mission, meiner (ehrenamtlichen) Arbeit als Mental Health Freelancer fällt mir leider immer wieder auf, wie wenig junge Menschen ich in diesem Zusammenhang treffe. Schon bei meiner ersten internationalen Veranstaltung in Dublin ist mir das negativ aufgefallen. Und auch bei diesem Aufenthalt in Brüssel stelle ich immer wieder fest, dass der Altersdurchschnitt für meinen Geschmack deutlich zu hoch liegt.

Gespräche mit anderen Teilnehmer bestätigen meine Wahrnehmung. Nicht nur auf internationaler, sondern auch auf nationaler Ebene fehlen junge Menschen. Und wenn ich hier von »jung« rede schließe ich mich selber mit 31 Jahren noch klar ein. Auch meine Kollegen im Jugendkommite sind größtenteils um die 30 Jahre. Wir fallen auf. Und wenn wir der Nachwuchs sind könnt ihr euch vielleicht vorstellen, wie solche Events altersstrukturtechnisch aussehen – ziemlich grau.

Der Präsident des EDF hat bei unserer Amtseinführung betont, dass er möchte, dass wir als die Jugend ihnen, den Älteren auf die Füße treten. Ihnen auch kritisches Feedback geben – und wünscht sich andersrum dass wir von der Erfahrung seiner Generation lernen. Diese Symbiose ist in meinen Augen unsagbar wichtig. Durch fehlenden Nachwuchs wird diese Phase des Voneinander-Lernens aber immer kürzer – die Klumpen und die Flummis brauchen einander.

Eine MHE-Kollegin aus Österreich würde eigentlich langsam gerne in Rente gehen, ihre zahlreichen Ämter nach und nach abgeben. Aber da ist niemand, der sie übernimmt. Ewig wird sie nicht weiter machen können. Und wenn niemand ihre Arbeit weiterführt ist nicht nur der weitere Fortschritt an sich in Gefahr – sondern auch so einiges von dem, was sie und ihre Generation schon erreicht haben.

Woran dieser Mangel liegt? Ein Grund mag Geld sein. Wissen tu ich es nicht, wundern tu ich mich schon. Vor allem wenn ich in den Nachrichten zum Tag des Ehrenamts höre, dass die Zahl der Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, steigt.

Was macht so eine Reise mit mir?

oder auch: Realität vs. Wunschbild

Genug der Beobachtungen und Erkenntnisse und zurück zu mir. Wie ist es denn für mich, Tage wie diese zu erleben?

Ganz klar: anstrengend. Enorm anstrengend. Ich muss sehr wachsam sein, auf mich hören, auf mich achten und für mich sorgen. Pro Tag habe ich eine begrenzte Menge an Energie zur Verfügung. Je nachdem, was ich erlebe, wo ich mich befinde, wie viele Menschen um mich herum sind etc. ist diese Energie mal schneller, mal langsamer aufgebraucht.

Zwei Stunden in einem großen Raum mit Hunderten fremder Menschen, zahlreicher Sprachen, viele Augenpaare und einer großen Menge an Input: mit der Energie, die ich dafür aufwenden muss, könnte ich unter Idealbedingungen mehrere Tage auskommen. Ich bin mir sicher, vielen von euch würde es ähnlich gehen.

Der Unterschied zwischen »normal« und »krank« ist nur mal wieder die Intensität. Und die Tatsache, dass wenn ich zu lange oder zu weit über meine zur Verfügung stehende Energie hinaus agiere, es dunkel wird im Kopf. Anspannung steigt, genau wie das Bedürfnis nach Entspannung und Belohnung. Auftritt: Alkohol. Und dass dies dann oft der Anfang einer Abwärts-Selbstschädigungs-Loch-Spirale ist haben wir ja inzwischen gelernt.

Ich wünsche mir, dass das anders wäre. Dass ich einfach schönen SmallTalk führen könnte, einfach mit fremden Menschen ins Gespräch kommen kann und tolle Kontakte knüpfe. Nicht nur auf Veranstaltungen wie diesen. Sondern generell; im Alltag, im Urlaub… lange habe ich dagegen gekämpft, dass ich nicht so bin. Habe es trotzdem versucht. Immer wieder. Und gelitten. Immer weiter. Weil ich ein Wunschbild, ein Ideal von mir selber hatte, dass einfach nicht mit der Realität übereinstimmt.

In der Hinsicht war Brüssel eine Premiere. Denn statt mich dieser Situation auszusetzen habe ich mich zurückgezogen. Ruhe gesucht. Dem Kopf Zeit gegeben, schon mal ein bisschen was zu verarbeiten anstatt ihn weiter mit Reizen zu bombardieren. Nun ging das in Brüssel auch außerordentlich gut, da im Parlament zum Beispiel extra zwei Ruheräume für und Teilnehmer eingerichtet wurden. Ein seltener Luxus. Den nicht nur ich in Anspruch genommen habe. Und der es mir möglich gemacht hat, meine leerer werdenden Batterien wieder ein wenig aufzuladen.

Ein schmaler Grat

Akzeptieren ist also eine Schlüsselfähigkeit, um Herausforderungen wie diese zu überstehen. Nicht nur, dass das »lockere« netzwerken während der Mittagspause am Büffet oder dem Stehtisch schon für viele »normale« Menschen nicht einfach ist. Für mich aber psychischen und physischen Hochstress bedeutet.

Statt netzwerken also mich abschotten; lieber Yoga-Session im Hotel als Gala Dinner; ausgedehnte Laufrunde durch Brüssel anstelle einer weiteren Sitzung im Parlament.

Und mich immer wieder fragen und selbstreflektieren. Nicht nur, wie es gerade um meine Energie steht. Sondern auch, warum ich dies oder jenes gerade mache. Denn nur weil es mir manches schwerer fällt, darf das keine Entschuldigung oder Ausrede sein. So ist der Grad zwischen »ich kann nicht« und »ich will nicht« manchmal ein enorm schmaler, auf dem gekonnt balanciert werden will. Wann sollte ich mich dazu zwingen, über meinen Schatten zu springen und wann ist es ok, es nicht zu tun.

Wie bei so vielem anderen ist mein Kopf hier mal wieder mein größter und fiesester Gegner. Die verschiedenen Teile meines Ichs reißen sich um meinen Körper. Die FunktionsDommi mit den hohen Selbstansprüchen möchte ihren »Job« besonders gut machen, Erfolg haben. Die KauptteDommi möchte sich hinter dieser Leistung zusammenkauern, sich bloß nichts Gutes tun und sobald sie alleine ist kaputt machen. Die noch recht junge SelbstfürsorgeDommi möchte Ruhe, Schlaf, Bewegung, Runterkommen, Routine – sich um mich kümmern.

All diese Parteien zerren und reißen an mir, und ich muss einen Weg finden, jeder ihre Aufmerksamkeit zu geben, keine in den Hintergrund zu drängen oder zu ignorieren (denn das geht auf jeden Fall nach hinten los) und allen das zu geben, was am Besten für mich ist. Wer schon versucht hat, in einem Meeting mit solch unterschiedlichen Charakteren eine einstimmige Entscheidung zu finden der weiß, wovon ich rede.

Sichtbar normal

Glaubst du, eine Frau die im Rollstuhl sitzt denkt den ganzen Tag darüber nach, dass sie im Rollstuhl sitzt? Direkt nach einem Unfall mag dies zutreffen – aber mit der Zeit gewöhnt der Mensch, der Kopf, der Körper sich daran. So wir man sich an seine eigenen Defizite gewöhnt. Und doch, wenn wir jemandem mit einer (un)sichtbaren Einschränkung begegnen sehen wir meist nur noch das Defizit – den Rollstuhl, die Sonnenbrille, die Narben. Dabei ist da drumherum ein ganzer Mensch, den wir entdecken und kennenlernen können.

Ein Gedanke bzw. ein Unterschied zwischen körperlich behinderten und psychisch erkrankten Menschen, der mir während der EDPD aufgefallen ist: die einen gehen offen damit um bzw. müssen es, da sichtbar; viele von ihnen setzen sich ein – während die anderen sich eher schämen bzw. verstecken. Jetzt dürft ihr raten, wer wer ist. Kurz gesagt: die einen fordern eine Anpassung der Umwelt und die anderen versuchen, sich der Umwelt anpassen.

Darüber hinaus lernen Menschen bzw. müssen Menschen mit körperlichen Einschränkungen früh lernen, Hilfe anzunehmen bzw. sie einzufordern. Dabei treffen sie oft auf eine hohe Bereitschaft der »Gesunden«, die »dem armen Rollstuhlfahrer« doch so gerne helfen möchten.

Anders bei Menschen mit psychosozialen Einschränkungen. Sie tun sich oft schwer damit, um Hilfe zu bitten. Und wenn sie es doch tun ist die Reaktion leider oft alles anderen als zugewandt und unterstützend. Sondern folgt eher dem Tenor »Jetzt reiß dich doch mal zusammen.« Da sehe ich viel Lern- und Entwicklungspotenzial. Auf Seiten der Gesellschaft. Aber natürlich auch bei uns Betroffenen direkt.

Step by step

So als körperlich gesunder Mensch kann man schnell den Eindruck gewinnen, dass wir in Deutschland bzw. Europa schon ganz schön weit sind darin, Menschen mit Defiziten das Leben hier leichter zu machen. Rampen hier, Blindenschrift dort, Gebärdensprache da. Das ist aber alles nicht von heute auf morgen passiert. Dafür haben sich Menschen eingesetzt, ihre Rechte eingefordert und so lange nicht aufgehört, bis sie es geschafft haben.

Und trotz all dieser kleinen, hart errungenen Siege bleibt immer noch so viel zu tun! Dazu brauche ich keine Konferenz in Brüssel, aber dort sieht und hört man eben besonders gut, wo es überall noch mangelt und hapert. Zwischendrin war ich geradezu erschlagen von all den Probleme, Aufgaben und Schritten, die noch vor uns liegen. Wann immer ein neues Thema oder ein neuer Bereich zur Sprache kam, in dem es Missstände gibt wird der Berg vor mir größer und größer.

Für mich ist darum wichtig, dass wir bei der Konzentration auf all die Dinge, die sich noch ändern müssen nicht den Blick für die Dinge verlieren, die sich schon geändert haben. Wie weit wir eigentlich schon gekommen sind. Sowohl bei einer barrierefreien Gesellschaft als auch bei AIDS-Erkrankten und Homosexuellen. Wenn man die Lage von heute mit der vor 10, 20 oder gar 50 Jahren vergleicht, bekommt man manchmal Gänsehaut ob der Vorstellung, was mal war.

YES, we can!!!

Und so darf ich auch nicht den Mut verlieren, dass wir es schaffen können, in einigen Jahren / Jahrzehnten in einer Gesellschaft zu leben, in der es kein soziales und vor allem berufliches Todesurteil ist, mit einer psychischen Krankheit in Verbindung gebracht zu werden. Davon würden bzw. werden so unfassbar viele Menschen profitieren!

Genaue Zahlen zu finden ist schwer, aber für einen Eindruck reicht es: in Deutschland sitzen etwa 1,5 Millionen Menschen im Rollstuhl, je nach Quelle gibt es zwischen 350.000 und 1,5 Millionen Blinde, 140.000 gehörlose Menschen, insgesamt 7,5 Millionen Schwerbehinderte.

Experten zufolge leiden 25% der Bevölkerung an psychischen Krankheiten. Also einer von vier. Das macht für Deutschland mit knapp 83 Millionen Einwohnern über 20 Millionen Menschen. Was könnten wir nur alles schaffen, wenn wir auch mehr für unsere Interessen und Anliegen kämpfen, sie akzeptieren, aussprechen und Veränderung einfordern würden?!

Ich bin nur eine von vielen. Aber ich habe den Kampf aufgenommen und bin bereit, viel Zeit und Kraft und Energie in ihn zu stecken. Hier und dort habe ich schon Mitstreiter und Verbündete. Ich weiß, dass es Niederlagen geben wird, aber jeder noch so kleine Sieg zählt. Wie bei einer Bergtour darf ich nicht nur sehen, wie weit der Gipfel, die schöne Hütte mit dem leckeren Kaiserschmarrn noch weg ist sondern mich darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ab und zu die Aussicht genießen, auf das zurückblicken, was ich schon hinter mir habe bevor es wieder weiter geht.

Und immer wieder – ob in Brüssel oder beim Schreiben dieses Artikels – taucht der Gedanke auf:  »Wer ist denn überhaupt ohne Einschränkung?« Wer kann alles? Hat nicht jeder von uns die ein oder andere Art von Disbility, von Unvermögen? Der eine braucht eine Rampe, der andere einen Ruheraum – wir alle brauchen eine offenere Gesellschaft.

Borderline-Trialog

Lesezeit: 7 minuten

Borderline-Trialog

Trialog? Da schauen die meisten Leute mich erstmal fragend an. Was genau das ist, wie man sich das vorstellen kann und warum ich so ein großer Fan davon bin.


Ich sitze mit 60 oder sogar 80 fremden Menschen in einem Raum. Genauer zählen ist schwer wenn man mit einem starren Blick auf den Boden vor sich versucht, unsichtbar zu sein. Ich bin nicht freiwillig hier. Im Gegensatz zum Rest. Ausgenommen wahrscheinlich meine Mitpatienten von Station. Es wurde uns nahe gelegt, diesen »Trialog« zu besuchen. Mit anderen Worten: wer nicht mitkommt, bekommt nen Strich in seine Akte.

Was ich weiß, dass es hier und heute um Borderline gehen wird; dass alle hier irgendwie mit dem Thema zu tun haben. Das ist aber dann auch schon alles… und das fühlt sich ziemlich bescheiden an. 

Umso besser fühlt es sich an, als wir knapp zwei Stunden später wieder auf unsere Station zurück dürfen. Gesprochen habe ich genau zwei Worte. »Dominque. Betroffene.« Gehört habe ich einige mehr. Und gehe wenige Wochen später zu meinem nächsten Trialog. Freiwillig.


Immer wieder werde ich von anderen Betroffenen und auch von Angehörigen gefragt, ob es in München eine Selbsthilfegruppe zum Thema Borderline gibt. Die Antwort lautet im Moment (leider): Nein, gibt es nicht. Aber es gibt etwas viel besseres* – nämlich den Borderline-Trialog.

Ja, ich hatte definitiv meine Anlaufschwierigkeiten mit dem Konzept. Hauptgründe dafür waren Unsicherheit, Angst, Nicht-Wissen was auf mich zukommen, wie es ablaufen, wie gut ich mich zurückhalten bzw. verstecken können würde. Heute bin ich großer, sehr großer Fan und überzeugte Anhängerin des Trialog-Konzepts. Arbeite selber mit, besuche die Abende regelmäßig, mache Werbung.

Und im Grunde ist dieser Artikel genau das: Werbung. Aber auch Anleitung. Ich möchte verhindern, dass andere von den gleichen Ängsten, Sorgen und Unsicherheiten zurückgehalten werden. In sicherem Abstand könnt ihr lesen, was euch beim Trialog erwartet – und dann hoffentlich von diesem Wissen und eurer Neugier getrieben eines Tages einen bei euch in der Nähe besuchen.

Trialog – Was ist das?

Aber bevor ich richtig einsteige erstmal die Basics: Was ist denn nun dieser Trialog? Trialog bedeutet, dass sich alle Parteien, die mit dem Thema zu tun haben, zusammensetzen. Bei der Borderline-Persönlichkeittsstörung sind das neben den Betroffenen deren Angehörige, also Familie, Freunde, Partner etc., sowie Fachleute, die beruflich mit Borderline zu tun haben, also Psychologen, Psychiater, Sozialarbeiter, Ärzte, Therapeuten und Co. 

An meinem ersten Trialog habe ich teilgenommen, als ich in Hamburg meine stationäre Therapie gemacht habe. Wie oben beschrieben weder freiwillig noch begeistert. Das hat sich mit der Zeit aber dann ziemlich radikal geändert.

Und die Freude, als ich dann letztes Jahr erfahren habe, dass es seit 2015 auch einen Trialog in München gibt, war dann doch ziemlich groß. Nach diversen Malen als »normale« Teilnehmerin bin ich nun seit diesem Jahr auch im Orga-Team des Münchner Borderline-Trialogs und vertrete dort die Betroffenen-Seite.

Ganz wichtig: der Trialog ist keine therapeutische Maßnahme. Es geht nicht darum, einer Einzelperson zu helfen sondern darum, auf allen Seiten Verständnis und Wissen zu steigern. Darüber hinaus gibt es einen Büchertisch mit Empfehlungen für die jeweilige Partei und im Einzelfall kann das Orga-Team auch bei der Vermittlung einer weiterführenden Maßnahme helfen. Dies ist aber nicht Zentrum oder Ziel des Trialogs.

Trialog – Wie kann man sich das vorstellen?

Jetzt mal ganz konkret – wie sieht so ein Abend beim Trialog aus. In München findet das ganze in Staffeln statt. Eine Staffel besteht aus vier Terminen. Eine davon liegt im Frühjahr, die andere im Herbst. Dazwischen sind einige Wochen Pause.

Los geht es bei uns um 18 Uhr und in der großen Runde. Das heißt, alle Anwesenden werden zusammen begrüßt, es gibt eine kurze Einführung in den Trialog, manchmal einen kleinen Impulsvortrag und dann teilt man sich in kleinere Gruppen auf. Diese Gruppen bestehen idealerweise aus 15 bis 20 Teilnehmern und wir versuchen darauf zu achten, dass alle drei Parteien in jeder Kleingruppe vertreten sind, um einen trialogischen Austausch zu erleichtern.

Die Kleingruppen werden von jeweils zwei Moderatoren angeleitet, welche zu Beginn nochmals kurz die »Regeln« des Trialogs wiederholen. Je nach Größe, Lust und Laune gibt es dann eine kleine Vorstellungsrunde. Meistens wird hier nur der Name gesagt und zu welcher »Partei« man gehört, manchmal kommen aber hier auch schon Themen zur Sprache.

Apropos Thema: jeder Trialog-Abend hat ein übergeordnetes Thema. Diese können z.B. lauten Selbst- vs. Fremdfürsorge, Funktion von Selbstschädigung, Berufstätigkeit – Wollen und Können, Nach der Krise ist vor der Krise: Vorbereitet sein, Borderline-Kriterien besser verstehen oder Spaß mit Borderline – Gaben, Stärken und Talente. Diese Themen sind keine strikte Vorgabe sondern dienen eher als Anstoß und Anregung. Der Austausch entwickelt sich dann meistens von Selbst und bleibt manchmal näher am Thema oder zieht auch mal weitere Kreise.

Kein Muss für niemanden!

Die Rolle der Moderatoren: Ziel ist es, dass der Austausch ohne ein Eingreifen der Moderatoren abläuft. Sie passen aber auf, dass sich das Gespräch nicht zu sehr auf eine oder wenige Personen konzentriert, dass jeder Gelegenheit bekommt, etwas zu sagen, alle auf Augenhöhe bleiben, holen die Gruppe bei Bedarf auch mal wieder zurück zum Thema oder einer Frage oder geben der Runde durch eine Frage oder eine Anmerkung einen neuen Anstoß.

Zu diesen »klassischen« Kleingruppen gibt es auch noch Varianten wie eine offene Gruppe, welche sich ganz frei vom Thema des Abends austauschen kann (wenn sich dafür genügend Leute finden) oder auch eine feste Gruppe, bei der die Mitglieder an allen vier Abenden einer Staffel die gleichen sind und deren Teilnehmer sich so über die Termine hinweg besser kennenlernen.

Insgesamt gilt für den Trialog: Niemand muss etwas sagen, niemand wird gezwungen oder schief angeschaut. Es darf geskillt, den Raum verlassen, ein Beitrag geleistet und geschwiegen werden genau so, wie man sich fühlt. Jeder hier weiß, »womit« er es zu tun hat. Die Bitte ist lediglich, dass jeder auf sich selbst aufpasst und das tut, was für ihn oder sie gerade am besten ist – denn Gedanken lesen kann auch in dieser Runde leider niemand.

Ende des Trialoges ist gegen 20 Uhr, wobei meistens noch eine kleine Feedbackrunde in den Gruppen gemacht wird, bevor alle Teilnehmer wieder zusammen treffen.

Trialog – Warum bin ich so ein großer Fan davon?

Obwohl ich bereits seit 15 Jahren mit Borderline lebe, seit vier Jahren in ambulanter und stationärer Gruppen- und Einzeltherapie bin, diverse Bücher drüber gelesen habe, mich viel mit anderen (nicht) Betroffenen über das Thema unterhalten habe – an jedem Trialog-Abend lerne ich wieder etwas dazu. Über mich, über Borderline an sich und natürlich auch immer wieder etwas aus den anderen Perspektiven.

Nicht jeder Abend ist einfach. Manchmal baut sich aufgrund gesagter Worte oder eines Teilnehmers Anspannung in mir auf. Aber in den meisten Fällen fühle ich mich danach gut, besser als davor. Nicht mehr so alleine, sondern verstanden – und immer wieder auch ein wenig stolz.

Denn eine Sache, die mir der Trialog quasi konstant vor Augen hält ist, wie weit ich auf meiner Recovery schon gekommen bin. Wie ja auch im Artikel Geschenk an mich geschrieben vergesse und übersehe ich im Alltag allzu gerne, dass ich schon ganz schön große Fortschritte gemacht habe, in den letzten Wochen, Monaten und Jahren. Dass es hier und dort deutliche Verbesserungen gibt.

Beim Trialog treffen sich alle Level – solche, die ganz neu in der Thematik sind und alte Hasen. Und immer wieder merke ich, wie sehr wir »alten Hasen« den Neulingen Mut machen können, ihnen Hoffnung geben. Betroffenen wie Angehörigen.

Unmögliches möglich machen

Immer wieder merken wir im Austausch, dass wir uns alle eigentlich ganz schön ähnlich sind. Dass der Unterschied zwischen »normal« und »krank« gerade bei Borderline oft nur die Intensität ist. Wir aber oft wissen, worüber der Andere gerade spricht. Kennen es von uns selber.

Ich finde es toll, durch die anderen Perspektiven meinen eigenen Blick auf Borderline erweitern zu können. Die Geschichte aus den Augen der anderen zu sehen ist für mich eine ungemeine Bereicherung. Und ich merke, wie die Profis an mancher Stelle erstaunt gucken, weil sie eine Sache so noch nie gesehen haben.

Im Trialog finden dringend benötigte Gespräche statt, die sonst niemals stattfinden würden. Familien untereinander reden anders miteinander, manchmal gar nicht. Im Trialog werden die Parteien aber von Nicht-Familienmitgliedern übernommen. Und so eine ganz neue Kommunikation möglich. Da sitzen einem andere Mütter und Väter und Partner gegenüber. Ohne ein vorbelastetes Verhältnis.

So lernt man dank anderer Menschen etwas über die eigenen Systeme, versteht plötzlich die Reaktion der Eltern oder das Verhalten des Partners. Dass er oder sie es gar nicht so böse meinte, wie man immer dachte. Sondern dass Motive dahinter stecken, die einem selber niemals in den Sinn gekommen wären.

Gleiches gilt für Profi und Patient. So manches kann bzw. darf im professionellen Umfeld gar nicht in dieser Art und Weise besprochen werden. Im Trialog aber schon. Auch hier findet ein Blick hinter die jeweils andere Seite statt, der die eigene Arbeit mit der Diagnose verändern, verbessern kann.

Trialog – Was noch?

Mittlerweile habe ich nun schon einige Trialoge mitgemacht. Und immer noch weiß ich nicht, ob ich mich freuen soll, dass regelmäßig viele bis alle Stühle besetzt sind. Oder ob ich fast schon schockiert darüber bin, wie wenige Menschen den Weg zu uns finden.

Und genau da liegt wohl as Problem. Noch ist der Trialog viel zu wenig bekannt. Dabei ist die potentielle Zielgruppe enorm hoch. Wenn Ich mit der Zahl 1,5% rechne, die angibt, wie viele Menschen Borderline haben, dann ergibt das alleine für München mit seinen 1,43 Millionen Einwohnern eine Zahl von über 20.000. Und da kommen ja dann noch die Angehörigen und Profis mit dazu.

Nun mag die Form des Trialoges vielleicht nicht für jeden funktionieren. Auch wenn ich bisher wenig bis keine Menschen getroffen habe, die nach der Teilnahme an einem Trialog gesagt hätten, dass der Austausch sie nicht weitergebracht und/oder in irgendeiner Form geholfen hätte.

Das Hauptproblem liegt wohl wirklich (noch) an der Bekanntheit des Trialoges. Und unter anderem dazu ist dieser Artikel da. Diese tolle Idee mehr Leuten nahe zu bringen.

Trialog – Da geht noch mehr!

Es tut gut, zu sehen, wie viel sich schon getan hat in den letzten Jahren. Gerade beim Austausch im Trialog fallen mir immer wieder die Unterschiede der Erfahrungen und auch der Eigenwahrnehmung auf zwischen Teilnehmern, die älter als ich und denen, die jünger als ich sind.

Tun sich die älteren nicht nur bis heute oft schwer damit, offen mit ihrer Diagnose umzugehen, erzählen von schlimmen Erfahrungen im privaten und professionellen Umfeld legen die jüngeren eine ganz andere Art von Selbstbewusstsein und Lockerheit an den Tag. Das macht die Krankheit nicht weniger schlimm. Aber sich nicht mehr ständig im Alltag verstecken, zusammenreißen und gegen sich selber kämpfen zu müssen macht die Sache erträglicher – für den Betroffenen, aber auch für sein Umfeld.

Und leider gilt weiterhin: hat sich beim Umgang mit Borderline und mit psychischen Krankheiten generell auch schon so einiges getan hat – Ausgrenzung, Stigmatisierung, Verleumdung, Verstecken, Schuld und Scham gibt es nach wie vor. Auf allen Seiten!

Auch hier macht der Trialog mir Mut. Mut, für meinen Weg, meine Mission zu verändern, dass und wie wir als Gesellschaft über psychische Krankheiten reden. Wenn ich sehe, wie sehr reden hilft. Dem Einzelnen, aber auch der Gruppe. Wenn der Rahmen stimmt können Worte erstaunliches bewegen. Und je größer und fester der Rahmen ist, desto mehr kann sich bewegen.

Also, lasst uns Rahmen bauen!


Alle Städte und mehr Informationen rund um den Borderline-Trialog findet ihr unter www.borderlinetrialog.de

Für die nächsten Termine in München geht auf www.blt-muenchen.de

Anmerkung: Ich spreche in diesem Artikel über den Trialog hier in München. Es kann durchaus sein, dass es an anderen Orten und in anderen Städten etwas anders abläuft. Wobei ich nach meinen Erfahrungen in Hamburg und auch in Ansbach vermute, dass der Ablauf vermutlich doch überall recht ähnlich ist. 


*Wenn ich sage, dass ich den Trialog „besser“ finde als die klassische Selbsthilfegruppe (SHG), so spreche ich mal wieder nur für mich. Ich habe mir diverse SHGs angeschaut und ausprobiert – aber so richtig wohl habe ich mich bisher noch nie gefühlt. Ganz anders beim Trialog. Das soll nicht heißen, dass ich SHGs generell nicht gut finde oder deren Leistungen und Hilfe, welche sie für viele Menschen darstellen, in irgendeiner Weise schmälern möchte. Es heißt nur, dass ich den Austausch aus verschiedenen Perspektiven für mich bereichernder finde.

Suizid – Reden, reden, reden!

Lesezeit: 9 minuten

Suizid – Reden, reden, reden!


Suizid. Ein großes Thema. Ein schweres Thema. Ein wichtiges Thema. Weshalb es auf meinem Blog einen eigenen Beitrag erhält. Einen Beitrag voller Fakten, Informationen, Erfahrungen, Tipps – und Hoffnung.


Den meisten von euch erzähle ich wohl etwas Neues, wenn ich schreibe, dass am letzten Sonntag Welttag der Suizidprävention war. Im Jahr 2003 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO gemeinsam mit der International Association for Suicide Prevention IASP und der World Federation for Mental Health WFMH diesen Tag ins Leben gerufen – schöne Formulierung in diesem Fall. Seither finden jedes Jahr am 10. September weltweit Veranstaltungen, Aktionen und Projekte rund um das Thema statt.

Und in diesem Jahr lautet das Motto: Take a minute, change a life. Sich eine Minute Zeit nehmen, für einen anderen Menschen. Wirklich zuhören, ernst gemeinte Fragen stellen, da sein – das kann Leben verändern. Leben retten.

So oft habe ich es schon gesagt, aber ich sage es gerne immer und immer wieder: wir müssen reden! Darüber, was in unseren Köpfen abgeht. Welche Gedanken darin ihre (dunklen) Kreise ziehen. Depressionen, Sorgen, Suizidgedanken, Hoffnungslosigkeit – alles unsichtbare Kräfte. Die es nur durch Worte schaffen, sichtbar zu werden. Wenn es denn einen Emfpfänger dafür gibt.


*triggerwarnung*

bitte lies diesen Artikel nur, wenn du dich stabil genug fühlst. Solltest du auf dieser Seite gelandet sein, weil du gerade selber in einer Krise bist, dann lege ich dir die Nummer der Telefonseelsorge 0800 111 0 111 ans Herz.


Die Fakten

Eine tolle Infografik von FREUNDE FÜRS LEBEN E.V. https://www.frnd.de/zahlen-fakten/

Eine tolle Infografik von FREUNDE FÜRS LEBEN E.V. https://www.frnd.de/zahlen-fakten/

Fangen wir mit ein paar Fakten an. Harten Fakten:

Die WHO gibt an, dass sich weltweit 800.000 Menschen pro Jahr selbst das Leben nehmen. Also ein Mensch alle 40 Sekunden. Und zu diesen »erfolgreichen« Selbsttötungen kommt noch einmal ein Vielfaches an Selbstmordversuchen.

In Deutschland nimmt sich etwa alle 53 Minuten jemand das Leben. Im Jahr 2015 waren es 10 078 Menschen.

Dazu kommen etwa 10 bis 15 Mal so viele Selbstmordversuche – also in Deutschland etwa 100.000 bis 150.000 oder alle 5 Minuten.

Damit sterben in Deutschland deutlich mehr Menschen durch Suizid als zum Beispiel aufgrund von Verkehrsunfällen, Drogen und HIV zusammen .

Laut WHO ist Suizid die zweithäufigste Todesursache bei jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren.

Die Behauptung, dass es mehr männliche Selbstmörder als weibliche gibt, ist nur eine Halbwahrheit: dahinter steckt der Umstand, dass Männer eher zu »härteren« Methoden greifen, die leider oft »erfolgreicher« sind als die »weicheren«, welche von Frauen bevorzugt werden.

Durchschnittlich trifft der Selbstmord eines Menschen sechs andere (Angehörige, Freunde, Bekannte).

Und, vielleicht am Wichtigsten: In acht von zehn fällen kündigt der Betroffene seine Suizidabsichten vorher an!!!

Noch nicht genug? Mehr (erschreckende) Fakten zum Thema gibt es hier.

Warum?

Diese Zahlen sind mir nicht neu. Ich kenne sie schon eine ganze Weile. Und doch bin ich immer wieder erschrocken, schockiert ob ihrer Höhe.

Hinter vielen dieser Taten stecken Depressionen und/oder andere psychische Krankheiten. Was den Schock nicht gerade kleiner macht wenn man weiß,  dass Depressionen sich verhältnismäßig gut behandeln lassen. Wenn die Menschen sich denn Hilfe holen. Wovon die Angst vor den Reaktionen ihres Umfeldes die Betroffenen oft abhält. Womit wir wieder beim Thema dieses Artikels sind: Reden hilft!

Und ja, an dieser Stelle darf ich mich natürlich an der eigenen Nase packen. Denn wie lange habe ich gebraucht, um zu reden. Um mir Hilfe zu holen. Und auch heute noch ist es schwer für mich, mich jemandem zu öffnen, wenn die Welt in mir sich immer weiter schließt.

Dass ich und viele andere den Mund nicht aufbekommen, hat viele Gründe. Einmal natürlich das Stigma. Um psychische Krankheiten generell, aber natürlich besonders rund um Selbstmord. Und dann ist da die Angst, die Sorge, die Befürchtung nicht ernst genommen zu werden. Für seine Offenheit nur verharmlosende Floskeln oder verletzende Aussagen à la »Stell dich nicht so an«, »Reiß dich zusammen«, »Jetzt hör doch mal auf zu Jammern!«, »Du hast doch alles, was man zum Leben braucht!«, »Anderen geht es viel schlechter« zu bekommen. Diese Angst ist groß und mächtig. Und berechtigt.

Wissen ≠ Fühlen

Auch hier kann ich aus eigener Erfahrung sprechen. Auch ich habe diese Sätze schon zu hören bekommen. Und ja, man weiß, dass man »eigentlich glücklich sein sollte«, dass es »anderen viel schlechter geht«. Aber glaubst du, das macht die Sache besser? Dass man das weiß, und sich trotzdem miserabel fühlt? Dass man es einfach nicht schafft, die Gedanken in Gefühle umzuwandeln?

Richtig. Das macht die Sache alles andere als besser. Und ist eine der fiesesten Superkräfte der Depression. Wenn Wissen und Fühlen einfach nicht zusammen finden. Wissen, dass es einem »eigentlich gut« geht und sich trotzdem verloren und miserabel und hoffnungslos zu fühlen. Das lässt die Schuld, so zu fühlen, so zu denken, noch größer werden. Und schon hat die Krankheit einen noch fester im Griff. Rückt Hilfe in noch weitere Ferne. Machen die Floskeln und Aussagen der anderen, die sinnlos sind, plötzlich einen Sinn. Man gibt den anderen Recht, verabscheut sich noch ein bisschen mehr und der Teufelskreis dreht sich weiter und weiter.

Auf diese Weise verstärken leider viele Worte, die gesagt werden, die Depression und ihre Mitstreiter. Diese Erfahrung machen viele Betroffene. Einmal. Zweimal. Dreimal. Zu oft. Und irgendwann bleibt man lieber alleine. Versucht gar nicht mehr zu reden, Worte zu finden.

Aber genau darum dieser Artikel. Denn es kann auch anders gehen. Aber dazu komme ich gleich.

Wie fühlt es sich an?

Nun, wie sich Suizid anfühlt kann ich nicht beantworten. Aber ich kann versuchen, zu beschreiben, wie es sich anfühlt, kurz davor zu sein. Wie es ist, wenn der Tod mehr Platz im Kopf einnimmt als das Leben.

Wie an so vielen anderen Stellen auf meinem Blog kann ich nur über meine eigenen Erfahrungen sprechen. Und bei mir stecken hinter der Suizidalität nun mal vor allem meine Depressionen.

In den seltensten Fällen geht es wirklich darum, nicht mehr leben zu wollen. Sondern es geht darum, so nicht mehr leben zu wollen. Wenn diese Krankheit jegliche Hoffnung auf ein Licht am Ende des Tunnels verschüttet hat – wozu dann noch weiter Zug fahren?

In suizidalen Phasen über die Zukunft nachzudenken, ist komisch bis unmöglich. So abstrakt. Man weiß, dass es sie gibt aber sie fühlt sich nicht echt an. Weil man selber so kurz denkt. Nächste Woche? Keine Ahnung, ob ich da noch lebe. Nächsten Sommer? Manchmal fällt es mir dann schwer, nur wenige Stunden in die Zukunft zu denken.

Wenn die Depression die Suizidalität in die Höhe treibt, dann zeigt mir mein Kopf eine Zukunft ohne mich, die für alle besser ist. Zeigt mir Szenen, in denen andere froh sind, dass ich weg bin. Immer neue Szenen. Und Wiederholungen. Zeigt sie mir so lange, bis es sich wie der einzig richtige Weg anfühlt. Meistens rettet mich dann meine Ratio. Irgendeine Ecke meines Kopfes scheint zu wissen, dass das Schwachsinn ist. Aber es kam auch schon vor, dass mir selbst diese Ecke verloren ging, und ich keine Zweifel mehr dran hatte, dass mein Tod für alle Menschen in meinem Umfeld richtig gut wäre.

Das ist dann auch der Punkt, an dem ich mich vor mir selber schützen muss. Wenn ich merke, dass ich diese Grenze überschreite, muss Hilfe her. Freunde. Oder eine Krisenstation. Bisher ging das zum Glück immer gut!

Die Dommi und der Suizid

Wenn ich in meinem Leben auch schon viel, sehr viel darüber über Möglichkeiten, Gründe und Varianten nachgedacht habe, demselben ein Ende zu setzen – einen Selbstmordversuch habe ich nie begangen – und glaubt mir, auch dieser Fakt kann von den dunklen Ecken meines Gehirns gegen mich verwendet werden, genau so wie von außen und verkleidet in Sätze »Wenn du noch nicht gesprungen bist dann kann es dir ja gar nicht so schlecht gehen!«.

Egal ob der Satz aus meinem Kopf oder aus dem Mund meines Gegenübers stammt, er ist eine ganz schön starke Waffe mit einer langen Klinge, die sich bis in mein Innerstes bohrt.

Aber was hat mich davon abgehalten? Wenn der Gedanke an den eigenen Tod über Wochen, Monate, Jahre in deinem Kopf wohnt, dann braucht es einen starken Grund, ihm zu widerstehen. Und bei mir war das lange meine Familie, der ich nicht noch mehr Sorgen bereiten wollte, als sowieso schon da waren. Für mich wäre es definitiv die einfachere, oft verlockendere Lösung gewesen.

Streckenweise hat es unfassbar viel Kraft und Willen gekostet, weiterzumachen. Wenn die Gedanken wieder zu schwarz, der Druck zu groß und die Hoffnung zu klein wurden, dann haben Selbstverletzung und Alkohol mir sehr geholfen. Und ich sage absichtlich »geholfen«. Auch wenn ich das Problem so einfach nur verlagert habe, stehe ich dank dieser Helfer heute immer noch hier.

Warum nicht?

Nun habe ich diese Helfer in den letzten Monaten und Jahren immer weiter aus meinem Leben verbannt. Mit meinem Coming-Out und dem Wissen, dass meine Familie nun weiß, mit welchen Dingen ich so kämpfe, ist dieser Grund leider auch schwächer geworden. Und einen neuen, gleich starken habe ich (noch) nicht gefunden. Womit ich sehr hadere. Insgesamt könnte das ganze System noch ein wenig mehr Stabilität vertragen.

Gerade nach meinem letzten, großen Loch im Frühjahr habe ich gemerkt, wie sehr ich auf äußere Gründe angewiesen bin, die mich am Leben halten. Wie wenig ich es mir selber wert bin. Dass ich selber nicht Grund genug bin. Klingt schlimm, ist aber so. Aber ich habe auch gemerkt, dass ich mich auf meine früheren Helfer noch verlassen kann. Auch das ist vielleicht nicht die beste Erkenntnis, aber es ist eine, die mir auf eine gewisse Weise Sicherheit gibt.

Und ja, ich habe viele kleine Gründe. Aber im Zweifel haben diese keine Chance gegen den dunklen Riesen. Was ich aber merke ist, dass die Mission, auf der ich mich (auch mit diesem Blog) befinde, über kurz oder lang zu diesem starken Grund heranwachsen könnte. Zu verändern, dass und wie wir über psychische Krankheiten reden. Zu merken, dass sich etwas bewegt. Dass ich etwas bewegen kann, fühlt sich gut an. Bringt mein Inneres im wahrsten Sinne zum Strahlen, zum Leuchten.

Und nein, ich denke nicht jeden Tag darüber nach, mir das Leben zu nehmen. Irgendwo im Hinterkopf schwirrt diese Möglichkeit, diese Option wohl immer herum. Aber meistens können die kleinen Gründe und meine Ratio sie in Schach halten. Es muss schon einiges zusammen kommen, damit die Gedanken wieder konkreter werden.

Was tun?

Und was dann? Was kann ich tun? Was könnt ihr tun? Für mich oder für eure(n) Bekannte(n), der in einer Krise ist? Nun, wie schon angekündigt ist Hilfe in diesem Fall mal wieder kein Hexenwerk:

Da sein. Zuhören.

Das ist aller Hilfe Grundlage. Aller Besserung Anfang.

Die Freunde fürs Leben haben eine tolle Do & Don’t Liste für Angehörige von Menschen, die über Selbstmord nachdenken, zusammengetragen:

Was suizidgefährdete Menschen nicht möchten

* Alleine sein.

Ablehnung kann ein Problem oftmals zehnfach so schlimm erscheinen lassen. Jemanden zu haben, an den man sich wenden kann, gibt der Sache hingegen ein ganz anderes Gesicht.

Einfach nur zuhören.

* Gute Ratschläge erhalten.

Belehrungen sind keine Hilfe. Genauso wenig wie der Zuspruch ‚Kopf hoch‘ oder deine leichtfertige Versicherung, dass ‚alles wieder gut werden wird‘. Vermeide es, zu analysieren, zu vergleichen, zu kategorisieren oder zu kritisieren. 

Einfach nur zuhören.

* Ausgefragt werden.

Wechsel nicht das Thema, bemitleide nicht und wirke nicht herablassen. Über Gefühle zu sprechen ist nicht leicht. Menschen mit Selbstmordgedanken möchten weder gedrängt noch in die Defensive versetzt werden. 

Einfach nur zuhören. 

Lebensmüde Menschen suchen nicht nach Antworten oder Lösungen. Sie sehen sich nach einem sicheren Ort, an dem sie ihre Ängste und Sorgen zum Ausdruck bringen und sie selbst sein können. Zuzuhören – wirklich zuzuhören – ist nicht einfach. Wir müssen uns zusammennehmen, nicht gleich etwas zu erwidern – einen Kommentar abzugeben,  nicht selbst gleich drauf los zu reden, eine Geschichte zu erzählen oder Rat zu erteilen. Wir müssen nicht nur auf die Fakten reagieren, die wir von dem Betroffenen hören, sondern auch auf seine Gefühle oder Gefühlswelt. Wir müssen lernen, die Dinge aus der Perspektive unseres Gegenüber zu sehen, nicht aus unserer eigenen. 

Was Menschen möchten, die Selbstmordgedanken in sich tragen

* Jemanden, der ihnen zuhört.

Jemanden, der sich wirklich Zeit nimmt, ihnen zuzuhören. Jemanden, der nicht gleich urteilt, Ratschläge oder Meinungen von sich gibt, sondern sich seinem Gegenüber  mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuwendet.

* Jemanden, dem sie vertrauen können.

Jemanden, der sie respektiert. Jemanden, der alles streng vertraulich behandelt.

* Jemanden, der Anteil nimmt. 

Jemanden, der sich gern zur Verfügung stellt, der seinem Gegenüber die Befangenheit nimmt und ruhig mit ihm spricht. Jemanden, der ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, die Verzweiflung akzeptiert und Glauben schenkt. Jemanden, der sagt: ‚Du bist mir nicht egal‘.

Wieder eimal eine Bitte. Oder zwei. 

Meine Bitte an alle Angehörigen und eigentlich an alle Menschen: geht mit dem Thema sensibel um. Nehmt es nicht auf die leichte Schulter. Fällt keine vorschnellen Urteile.

Wenn euch jemand direkt erzählt oder ihr die Vermutung habt, dass jemand sich etwas antun könnte, dann seid da. Fragt. Und hört zu. In diesem Artikel habe ich einige Hinweise und Tipps gegeben, von denen ich hoffe, sie können euch helfen, solltet ihr je in eine solche Situation geraten.

Darüber hinaus bitte ich euch: geht mit dem Thema auch sensibel um, wenn es nicht um eine euch direkt bekannte Person geht. Wenn ihr eine Schlagzeile lest oder es bei der Bahn mal wieder Verspätungen wegen »Personenschadens« gibt. Versucht auch hier, nicht zu verurteilen. Erinnert euch daran, dass dieser Mensch keinen anderen Ausweg mehr wusste. Dass er nicht sterben wollte – sondern so nicht weiterleben konnte.

Und meine Bitte an Betroffene: sucht euch Wege, Gründe! Versucht zu reden. Haltet durch. Kämpft weiter. Bisher habt ihr 100% eurer schlimmsten Tage überstanden, eine ziemlich gute Quote, oder?! Glaubt den Stimmen in eurem Kopf nicht, die eine Zukunft ohne euch in den schillerndsten Farben darstelent. Dreht den Spieß mal um. Stell dir vor, jemand aus deinem Umfeld ist plötzlich nicht mehr da.

Denkt nicht an »in einem Jahr« oder »in einem Monat«. Denk an jetzt. Konzentrier dich auf die kleinen Dinge, die kleinen Siege. Aufgestanden? Geil! Was gegessen! Super! Wieder einen Tag geschafft? DU BIST DER HAMMER!!!

Abschließen möchte ich diesen Artikel mit einem wundervollen, treffenden Zitats meines höchst verehrten Benedict Cumberbatchs aka Sherlock Holmes, Staffel 4, Episode 3:

Taking your own life… Interesting expression. Taking it from who? Once it’s over it’s not you who’ll miss it. Your own death is something that happens to everybody else. Your life is not your own. Keep your hands off it!


Infos & Hilfe

Die Telefonseelsorge bietet nicht nur eine 24-Stunden-Hotline (0800 111 0 111 oder 11 123) sondern auch Mail-, Chat- und Face-to-Face-Beratung an. Auf Wunsch alles anonym!

Speziell für Bayern gibt es darüber hinaus den Krisendienst Psychiatrie, der unter 0180 655 300 erreichbar ist.

Weitere Nummern und Adressen gibt es bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

Konkrete Ratschläge, wie Angehörige handeln können, wenn sie glauben, jemand in ihrem Umfeld könnte gefährdet sein, gibt es auf der tollen Seite von Freunde fürs Leben.

Viele Informationen, gut aufbereitet, für Betroffene und Angehörige (englisch): befrienders.org.


Geschenk an mich

Lesezeit: 8 minuten

Geschenk an mich

Ein Artikel für mich. Von mir. Dass ich gerade erst Geburtstag hatte, hat mit diesem besonderen Geschenk an mich selbst wenig zu tun. Genau so gut hätte ich ihn mir zu jedem anderen Tag des Jahres überreichen können. Denn eigentlich hab ich jeden Tag Grund zu feiern.


Bin ich also wieder ein Jahr älter geworden. Schlimm? Nö, überhaupt nicht. Aber halt doch irgendwie nicht ganz so ein Tag wie jeder andere. Und auch wenn ich eigentlich lieber verschenke als geschenkt zu bekommen hab ich mir gedacht, ich schenke mir mal was. Und zwar einen richtig positiven Artikel. Über mich.

Nennt es Rückblick, nennt es Zusammenfassung. Nennt es wie ihr wollt. Ich werde versuchen, keine Relativierungen, Abers und KleinMachungen zu benützen. Mal sehen, wir gut mir das gelingt =)

 Schlüssel der Veränderung

In meinen wöchentlichen Therapiesitzungen geht es viel darum, dass ich einfach kein positives Haar an mir selber lassen kann. Für alles, für wirklich jeden Punkt findet mein Kopf Gegenargumente. Und dabei muss es nicht um die großen Dinge gehen.

Sätze wie «Dommi, du bist ein wertvoller Mensch» funktionieren einfach nicht, weil daraufhin nur ein schallendes Gelächter in meinem Kopf ertönt. Also hab ich mich an immer kleineren Dingen versucht. Zum Beispiel «Du hast einen guten Uni-Abschluss» oder «Du bist einen Marathon gelaufen» oder «Dein Englisch ist super» – da kommen dann Argumente wie «Das machen so viele andere auch» oder «Andere laufen viel schneller als du» oder «So besonders ist das jetzt auch nicht».

Egal mit was ich es versuche, nichts hat eine Chance gegen meinen selbstkritischen oder eher selbsthassenden Kopf. Selbstliebe? Selbstmitgefühl? Selbstakzeptanz? Alles Dinge, die mir so richtig fremd sind. Nicht nur beim Artikel über die Selbstverletzung hatte ich ja schon mal erwähnt, dass eine ordentliche Portion Selbsthass eine ziemlich große Rolle in der Misere spielt.

Und dann, eines Tages – ich glaube, es war während einer Morgenmeditation – hatte ich plötzlich diesen einen Satz im Kopf: «Ich hab mich verändert.» Könnte man im ersten Moment natürlich auch negativ auffassen. Veränderung ist für mich aber generell sehr positiv belegt, daher funktioniert dieser Umweg bei mir wohl. Denn dass ich mich verändert habe, das kann selbst mein übermächtiger Kopf nicht leugnen. Das ist eine Tatsache. Das ist so.

 Dommi 2.0

Dieser Satz ist für mich jetzt zu einem Schlüssel geworden. Vielleicht kann ich (noch) nicht mit echter Überzeugung sagen, dass ich mich selber mag, oder dass ich wertvoll bin oder was auch immer. Aber das Erkennen, wie wenig ich noch mit dem Menschen vor – sagen wir 5 – Jahren gemein habe, ist schon mal ein ganz schöner Hammer. Und in vielen Momenten in den letzten Jahren hab ich mir nicht mal erträumen können, dass ich eines Tages so weit kommen würde. Dass ich zu der Dommi werden würde, die ich heute bin.

Im normalen Treiben und Trubel des Alltags vergesse ich aber leider gerne, wie viel ich schon erreicht habe. Wie viel ich geschafft habe. Wie sehr ich mich verändert habe.

Der Fokus liegt einfach leider – wie wohl generell im Leben und bei vielen Menschen – viel zu sehr auf dem Negativen, dem Schlechten, dem Baustellen und Mängeln. Bei mir heißt das dann eben, dass Rückschläge und Löcher im Verhältnis viel zu viel Aufmerksamkeit bekommen. Und all die Fortschritte, Lichtblicke und Highlights gehen unter.

Das will ich mit diesem Artikel ändern! Will mir meine Veränderung bewusst machen. Nicht so nebenbei, bisschen hier, bisschen da. Für die Dauer dieses Artikels meine kleinen und großen Ziele und Errungenschaften feiern – vielleicht ja sogar darüber hinaus.

Deswegen: Dommi – Aufgepasst! Jetzt geht’s um dich und was für ne tolle Socke du bist!

 Healthy Body

Ganz ehrlich: ich war vielleicht nicht fett, aber als mindestens dicklich würde ich mich schon bezeichnen. Sport kannte ich nur aus dem Fernsehen und nach einer Etage Treppen hab ich fies geschnauft. Heute tut es mir Leid, was ich meinem Körper jahrelang angetan habe – aber ich habe aus den Fehlern gelernt und bin heute meistens ziemlich gut zu diesem biologischen Wunderwerk, das ich mein eigen nennen darf:

 Bewegung – fangen wir mit so etwas allgemeinem an. Ja, ich bewege mich heute sehr, sehr viel mehr als früher. Mein Fahrrad ist mein treuester Begleiter, 10.000 Schritte am Tag keine große Sache. Kaum ein Tag an dem ich mir nicht eine Einheit gönne – sei es eben Fahrrad, Bergsteigen, Schwimmen, Workout, Yoga oder…

 Laufen – vor einigen Wochen bin ich meinen ersten Marathon gelaufen. Nach drei halben wurde es erstens Zeit und zweitens stand es auf meiner BucketList, einmal einen zu finishen. Hättest du der Dommi 1.0 erzählt, dass sie 42,195 Kilometer laufen würde – und sogar Spaß dabei hat – hätte sie dich ausgelacht und/oder ungläubig geguckt. Ist natürlich nicht von heute auf morgen passiert. Angefangen mit mehr Gehen als Laufen, ständig mit Stöpseln im Ohr und ALDI-Laufklamotten genieße ich inzwischen die Zeit beim Laufen als Auszeit für Kopf und Körper. Beide dürfen frei drehen. Ohne Berieselung. Und eine ganz ansehnliche Sammlung an Laufklamotten für jedes Wetter hab ich inzwischen auch =) (Und mich auch schon für meinen nächsten Marathon angemeldet: am 8. April 2018 in Paris)

 Yoga – hat mein Leben verändert. Vor drei Jahren hab ich noch verächtlich bis belustigt auf die Damen, die auf dem Fahrrad mit ihrer YogaMatte auf dem Rücken durch die Stadt gondeln. Heute gehöre ich selber dazu. Inzwischen mache ich praktisch täglich Yoga. Und wenn es nur die «10 Minuten Quick Fix»-Session aus der besten Yoga-App ever ist. Sogar ins Studio gehe ich hin und wieder. Und kann mich dabei entspannen. Und ganz bei mir bleiben. Kein «Oh Gott, ich mache das bestimmt falsch, die machen sich sicher alle lustig über mich». Wow! Yoga ist für mich die perfekte Kombination aus Sport, Ruhe, Bewegung, Meditation, Entspannung und Anstrengung – ja nachdem wie ich es gerade brauche.

 Ernährung – krass ausgedrückt: von FertigFraß zu bewusster, ausgewogener, hauptsächlich vegetarischer Ernährung. Kaum noch Convenience Food, dafür viel frisches, unverarbeitetes Zeug. Kohlenhydrate, Zucker, Schlemmereien gibt es nicht so oft, dafür dann aber mit besonderem Genuss. Ich achte darauf, was ich meinem Körper gebe, ohne irgendwelche Nahrungsmittel zu verteufeln – von Verboten bin ich immer noch, generell und auch bei diesem Thema, kein großer Fan.

 Alkohol – von der täglichen Flasche Wodka plus hin zum gelegentlichen Glas und wochen- bzw. monatelangen Pausen. Schon geil, wie ich mein Anspannungsregulationsmittel Nr. 1 vom selbstzerstöerischen Konsum auf so ein Normalmaß runtergeschraubt habe. Respekt! Hier ist der Kampf, nicht zu schreiben dass ja noch lange alles nicht gut ist, besonders groß. Aber ich bleibe bei meinem Vorsatz: nicht relativieren. Fakten auf den Tisch. Und die sind nun mal: ich trinke nicht mehr annähernd in den Mustern und der Menge, wie ich es mal getan habe. Punkt.

 Healthy Mind

 Meditation – vor ein paar Jahren war Stille mein größter Feind. Ohne Fernseher, Hörbücher, Radio oder Musik ging gar nichts. Meine Kopfhörer waren meine ständigen Begleiter. Heute suche ich nicht nur in meiner täglichen Meditation ganz gezielt die Stille, sondern kann sie auch im Alltag viel mehr wertschätzen und genießen. Die Entscheidung, nicht länger vor meinen eigenen Worten, Gedanken, Bildern und Gefühlen wegzurennen sondern mich ihnen auszuliefern war eine der besten Veränderungen, die ich je gemacht habe. Nicht einfach, nicht schön – aber es hat sich gelohnt.

 Achtsamkeit – ganz im Hier und Jetzt sein. Den Augenblick genießen. Nicht in Plänen und Sorgen versinken, die in der Zukunft wohnen. Und nicht in Probleme oder Erinnerungen baden, die ich nicht mehr verändern kann. Wie schon im Mannheim-Artikel angedeutet ist dieses mich-in-den-Moment-holen-können eine meiner wichtigsten Waffen gegen meinen Borderline-Kopf.

 Bewertung – damit meine ich vor allem, andere Menschen ständig zu bewerten. Machen wir alle ständig und immer. Schublade auf, Mensch rein, Schublade zu. Unser Hirn ist faul und arbeitet eben gerne so. Das abzustellen bzw. einzugrenzen ist ein gutes Stück Arbeit. Gelingt mir auch beileibe noch nicht immer – aber ich werde immer besser darin. Das kam durch eine Mischung aus DBT-Therapie und Achtsamkeit. Wer bin ich, über andere Menschen zu urteilen ohne nur den Hauch einer Ahnung zu haben, woher sie kommen? Und sobald man weniger bewertet wird man selber auch freier. Macht sich frei von der Bewertung anderer. Wieder ein Wahninns-Gefühl, eine neue Freiheit.

 Gelassenheit – oh ja, ich bin gelassener als früher. Die Wut kann mich nicht mehr so leicht in ihren festen Griff nehmen. Ob anstrengender Gast oder langsame Kassiererin – mir gelingt es inzwischen ziemlich gut, Dingen und Menschen, die ich nicht ändern oder beeinflussen kann, keine so große Kontrolle mehr über mich zu erlauben. Auf jeden Fall eine Nach- bzw. Nebenwirkung von Meditation.

 Hilfe annehmen – ich habe verstanden, dass ich nicht alles alleine schaffe(n kann). Dass ich an manchen Stellen Hilfe brauche. Habe mir nicht nur professionelle Unterstützung in Form von Therapie gesucht, sondern bin auch besser darin geworden im Alltag zu sagen, wenn ich Hilfe brauche.

 Healthy Life

 Fernsehen – von der dauerhaften Hintergrundbeschallung zum verstaubten Möbelstück. So lässt sich in etwa meine TV-Karriere beschreiben. Ich war kurz davor, wirklich alle Folgen von Big Bang Theory, How I Met Your Mother und Co mitsprechen zu können. Heute habe ich gar keinen Fernseher mehr. Schaue weiter Nachrichten, Serien und Filme. Aber selten. Und dann ausgewählt und bewusst. Es gibt einfach so viel sehr viel besseres zu tun. Vor allem Lesen.

 Nachhaltigkeit / Umwelt – Gott war mir das früher egal! Natur? Umweltschutz? Hab ich mal von gelesen. Heute ist mein Bewusstsein dafür enorm groß. Angefangen hat es beim Fleisch, dann kamen Lebensmittel generell, dann Kleidung und jetzt langsam Kosmetikprodukte. Wenn man einfach einmal anfängt, sich mit dem Weg zu beschäftigen, den ein Produkt bis in die eigenen Hände hinter sich hat dann kann man nicht mehr bei H&M einkaufen gehen. Geht einfach nicht mehr.

 Beruf(ung) – ich habe etwas gefunden, für das ich brenne, das mich antreibt. Habe eine Mission für mich entdeckt: Ich möchte (und werde) verändern, dass und wie wir über psychische Krankheiten reden. Merke, dass ich etwas verändern kann, anderen helfen kann – und dabei gleichzeitig mir helfe. Bekomme erste Aufträge als Autorin, arbeite mit Schulklassen, helfe beim Münchner Borderline-Trialog mit, engagiere mich für Mental Health Europe, betreibe, pflege und fülle diesen Blog – und da geht noch so viel mehr!

 Selbstfürsorge – ich gönne mir was. Ich bin es mir Wert, Geld und Zeit in mich zu investieren. Ob das ein gutes Essen ist, eine ausgiebige Massage, eine Stunde Lesen. Ich schaue, dass ich mir ab und zu ganz bewusst irgendwas gutes tue. Oft schreib ich mir das wirklich als Termin in meinen Kalender – wie alles andere auch.

 Healthy Everything =)

 Sozial – auch in sozialen Belangen bin ich gelassener geworden. Und Selbstsicherer. Aus der ausgeprägten sozialen Angststörung ist mittlerweile ein verkümmertes Pflänzchen geworden. Ich brauche keinen Alkohol mehr, um in Gesellschaft essen zu können. Laufe nicht vor Kleingruppenveranstaltungen davon. Die große Partymaschine werde ich wohl nicht mehr werden, habe ich aber inzwischen akzeptiert und kämpfe nicht mehr gegen ein unrealistisches Phantasiegebilde an.

 Kommunikation – ich rede (und schreibe) über Dinge, die mich beschäftigen, die mir Sorgen machen. Traue mich, Dinge offen aus- und anzusprechen. Sei es im Privaten oder in anderen Umfeldern. Habe verstanden, dass wir nun mal nicht gegenseitig unsere Gedanken lesen können und es Sprache einfach braucht, um zu verstehen und verstanden zu werden.

 Selbstkenntnis – all diese Sachen haben mich insgesamt sehr viel näher zu mir selbst gebracht. Ich kann mich heute nach meinen Bedürfnissen richten, weil ich endlich merke, dass und welche Bedürfnisse ich habe. Kein blindes funktionieren oder nach fremden Maßstäben handeln mehr. Heute weiß ich, was mir gut tut. Ich werde immer besser darin, auch wirklich nach meinen Gefühlen zu  handeln. Und nicht nach hätte-könnte-sollte-müsste.

 BERGE – und last but not least: ich habe mir die Berge erschlossen! Habe gemerkt, wie viel Kraft sie mir geben. Vom bergauf-schnaufenden-und-schimpfenden-Motzknubbel bin ich zum absoluten Bergmädchen geworden. Würde am liebsten jeden Tag irgendwo rauf. Habe auf Hütten ohne warmem Wasser und mit 20 anderen Menschen in einem Raum geschlafen – und es gut gefunden. Habe mir die Ruhe erarbeitet, den Gipfel, die Ruhe, den Ausblick, das Panorama wirklich zu genießen, anstatt ruhelos und von inneren Kämpfen getrieben gleich weiterzuziehen. Habe viele Momente und Erlebnisse gesammelt, die mir nichts und niemand mehr nehmen kann. Und habe noch lange nicht vor, damit aufzuhören!

 Sag niemals nie

Wow – ganz schöne Liste, die sich da angesammelt hat. Bin selber ein bisschen überrascht/beeindruckt und auch ein wenig gerührt. Und habe immer noch das Gefühl, dass etwas fehlt. Dass ich der Dommi 2.0 noch nicht ganz gerecht werde. Aber es ist auf jeden Fall ein Anfang.

Es geht mir hier nicht darum zu zeigen, wie toll ich bin oder was für ein Übermensch ich geworden bin. Bin ich ja auch nicht. Aber mein Leben hat sich in vielen Bereichen definitiv zum Positiven gewendet. Und darauf kann ich wohl stolz sein.

Natürlich steckt hinter vielem von dem, was ich hier jetzt in einen kleinen Absatz gepresst habe eine Menge, eine Riesenmenge Arbeit. Aber das ist euch ja nicht neu. Nichts von den angesprochenen Punkten kam von heute auf morgen. Kleine Schritte, andauernde Prozesse, stetige (Weiter)Entwicklung.

Vielleicht ist dieser Artikel ja nicht nur ein Geschenk an mich, sondern auch an andere Betroffene – und vielleicht auch einfach an Jeden. Denn er zeigt, dass wir uns ändern können. Dass nicht alles so bleiben muss, schlecht bleiben muss.

Ich versuche inzwischen, das Wort »nie« so gut es geht zu vermeiden. Kein Das werde ich nie tun oder ähnliches. Denn dafür habe ich inzwischen zu viele Dinge, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie mal erreiche/mache/sage/gut finde erreicht/gemacht/gesagt/gut gefunden. Das schöne Sprichwort «Sag niemals nie» hat also mal wieder recht.

Und irgendwie bin ich jetzt schon gespannt, was für einen Artikel ich mir in weiteren fünf Jahren schenken werde.


Kein zurück!

Dies war wahrlich kein einfacher Artikel für mich. Immer wieder bin ich abgedriftet, wollte kleinreden, relativieren, mir selber meine Fortschritte wegnehmen – wie ich es oben ja schon geahnt hatte. Viele Buchstaben, Worte, Sätze und Absätze habe ich wieder zurückgekommen. Manche in einen anderen Artikel verschoben. Andere gelöscht.

Sobald ich diesen Post zu euch rausgeschickt habe, werde ich es bereuen. Werde mich schlecht fühlen. Werde nur das schlechteste von mir denken. Und trotzdem bin ich froh, dass ich ihn mir erkämpft habe. Das ist dann wohl das eigentliche Geschenk an mich.

Das Buch der Stunde #1

Lesezeit: 7 minuten

Das Buch der Stunde#1

Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben von Matt Haig


Eine neue Kategorie ist geboren: Bücher, die es sich zu lesen lohnt; die mit den Themen auf diesem Blog zu tun haben; die mir geholfen haben, die bei mir etwas ausgelöst oder verändert haben.

Ich bin keine professionelle Buchkritikerin. Wie eine »gute/richtige« Rezension auszusehen hat, weiß ich nicht. Und darum geht es mir auch nicht. 

Mir geht es darum, ganz im Sinne des schönen Postkartenspruchs »Glück ist das einzige, was größer ist, wenn man es teilt« mit euch zu teilen, wenn ein Buch, ein Text, ein Autor es geschafft hat, mein Herz, mein Hirn oder im Idealfall sogar beides zu bereichern.


 

Den Anfang macht »Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben« vom britischen Autor Matt Haig.

Zugegeben, der Titel klingt erstmal ganz schön drastisch. Das Buch ist dann aber gleichzeitig ernst und leicht und hilfreich und warm und humorvoll – zu gleichen Teilen.

Die Dommi und das Lesen

Ich lese gerne und viel. Meistens mehrere Bücher gleichzeitig, dazu noch Zeitschriften, Zeitungen und natürlich online, Artikel und Blogs.

Am wenigsten lese ich wohl Fiktion, was aber nicht heißt dass alles, was ich lese hat mit kaputten Köpfen zu tun hat. Aber es macht schon einen großen Teil aus. Ich lese und lerne einfach gerne über »meine« Themen – seien das Borderline, Depression, Sucht oder Reisen, Berge, Sport, Laufen, Yoga, Achtsamkeit, Social Media, Bloggen, Buddhismus, Coachen, Meditation und all die Themen in den Peripherien dieser Themen. Ihr seht: breit gefächerte Homogenität =)

Nun habe ich mich in der letzten Zeit immer wieder dabei entdeckt, wie ich dachte »Mensch, dieses Buch ist so toll/diese letzte Seite war so gut/diese Wörter beschreiben so genau – das möchte ich eigentlich gerne teilen!« Am liebsten mit der Welt, wenigstens aber mit den Menschen, die sich auch für das ein oder andere meiner Themen interessieren.

Und deswegen sitzen wir jetzt hier zusammen.

Ziemlich gute Gründe …

Der britische Autor Matt Haig

Der britische Autor Matt Haig

… euch dieses Buch zu empfehlen. Ich habe schon einige Bücher rund um Depressionen gelesen. Nicht nur Fachbücher, sondern immer wieder auch biografische Erzählungen. Das Buch von Matt Haig sticht aus diesen Büchern aber deutlich heraus.

Ich bin ehrlich und sage euch, dass mich das Buch nicht von der ersten Seite an gepackt hat. Am Anfang dachte ich noch, das Thema Angststörungen und Panikattacken würde eine zu große Rolle einnehmen – was an sich sehr interessant ist, aber eben keines meiner primären Problemfelder.

Ich hatte das Buch aufgeschlagen mit der Hoffnung, die Geschichte eines Leidensgenossen lesen zu dürfen. Vielleicht sogar eine Geschichte mit Happy End? (Nein, kein Spoileralarm an dieser Stelle =).

Was ich dann aber wirklich in den Seiten dieses Buches gefunden habe, geht weit über meine Hoffnung hinaus. Ich habe gelernt – über mich, über die Krankheit, über das Leben. Ich habe gelacht, ich habe gehofft, ich habe geschimpft. Und vor allem: die letzte Seite mit großer Zufriedenheit lesen können. Ohne blöden Nachgeschmack. Ohne enttäuschte Hoffnungen. Sondern bereichert und begeistert.

Wie die Krankheit, so das Buch

Das könnte im ersten Moment böse klingen, ist aber unheimlich positiv gemeint.

Ob Absicht oder Zufall, schon der Aufbau des Buches erinnert mich an die Krankheit Depression. Nicht jeder Tag mit ihr ist gleich, auch wenn viele sich gleichen. Es gibt solche und solche Phasen. Was dir gestern noch selbstverständlich schien, liegt morgen außerhalb deiner Vorstellungen. Was dich gestern beschäftigt hat, hast du heute vergessen.

Wenn die Depression gerade mal wieder aktiv ist, dann weiß ich nicht, was mich in den nächsten Stunden und Tagen erwartet. Welche Gedankengifte die Krankheit für mich auf Lager hat. Ich weiß nicht, ob sie mich in dunkle Erinnerungen oder eine schwarze Zukunft schickt.

Die Gedanken und die Zeit springen umeinander herum. In der Krankheit, wie im Buch. Neben der ganzen Unsicherheit ist eines aber sicher: die Depression ist da. Voller Wucht in erster Reihe, oder unterschwellig und über Umwege.

Ein schwarzer Faden

Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben ist keine durchgehende Erzählung, beschreibt aber trotzdem den Weg einer Besserung. Manche Kapitel, die nahe beieinander stehen haben wenig miteinander gemein. Andere, zwischen denen viele Seite liegen, sind miteinander verbunden.

Haig mischt Gedankenbrocken, Listen, Anekdoten, Ratschläge, Beobachtungen und schafft es auch in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt immer einen roten Faden beim Leser zu lassen.

Für wen ist dieses Buch?

Ganz ehrlich? Mir fällt niemand ein, der dieses Buch nicht lesen wollen/sollen könnte. Haig schafft es ganz klar, der sonst immer sehr unifarbenen, dunklen Materie Depression Facetten zu geben, Farben, Abstufungen.

Angehörige werden nach der Lektüre dieses Buches »ihren« Betroffenen vielleicht besser verstehen können.

Betroffene werden nach der Lektüre dieses Buches vielleicht neben Mut und Hoffnung auch ein paar leichtere Minuten geschenkt bekommen haben. Wenn du gerade mitten drin steckst in einer dunklen Wolke und die Konzentration dir das Lesen schwer macht, dann lass dir gesagt sein: die oft kurze Kapitellänge und die unkomplizierte Art vom Autor zu Schreiben erlauben auch kurze Leseeinheiten.

Interessierte und Fachleute erhalten einen interessanten, realitätsnahen Eindruck wie die Krankheit Depression von innen aussieht. Das Buch ist eine Chance, das eigene Wissen zu erweitern und bereichern.


Um euch eine Vorstellung von diesem wunderbaren Buch zu geben und um euch zu zeigen, warum ich es für so gelungen halte, habe ich euch drei Ausschnitte herausgesucht, die vielleicht einen Eindruck von diesem kleinen Meisterwerk geben können. Seine Lektüre ersetzen, können und wollen sie aber in keinem Fall.

Ausschnitt 1: Die Liste

Ich arbeite gerade selber an einer Zusammenstellung von Tipps, Hinweisen und Anregungen für Angehörige im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen. Ob ich das so wundervoll und so auf den Punkt bringen werde können wie Haig, weiß ich noch nicht:

Wie man für jemanden mit Depressionen und Ängsten da ist

1. Du wirst gebraucht und geschätzt, verlass dich drauf, auch wenn es nicht immer so aussieht

2. Hör zu.

3. Sag nie: »Reiß dich zusammen« oder »Kopf hoch«, es sei denn, du lieferst eine detaillierte, narrensichere Anleitung mit. (Liebevolle Strenge funktioniert nicht. Am Ende hilft ganz allein die gute alte »Liebe«.)

4. Sei dir immer im klaren: Es ist eine Krankheit. Dinge werden gesagt, die nicht so gemeint sind.

5. Lerne. Begreife vor allem, dass das, was dir leicht vorkommt – Einkaufen zum Beispiel –, für einen Depressiven eine nicht zu bewältigende Aufgabe sein kann.

(…)

7. Hab Geduld. Mach dir klar, dass es nicht leicht wird. Depressionen sind wie Ebbe und Flut, sie schwellen an und ab. Sie bleiben nie gleich. Nimm einen glücklichen/schlimmen Moment nicht als Beweis für die Genesung/einen Rückfall. Es kann länger dauern.

(…)

10. Wenn möglich, gib dem Depressiven nicht das Gefühl, seltsamer zu sein, als er sich sowieso schon fühlt. Drei Tage auf dem Sofa? Nicht die Vorhänge aufgezogen? Tränen wegen schwieriger Entscheidungen wie zum Beispiel, welche Socken anziehen? Na und? Kleinigkeit. Einen Normalstandard gibt es nicht. Normal ist subjektiv. Auf unserem Planeten gibt es sieben Milliarden Versionen von normal.

S. 150 f

Ausschnitt 2: Das Reisen

Dass Reisen mir gut tut, weiß ich schon länger. Der Name traveling | the | borderline kommt ja nicht von ungefähr. Aber ich habe mir nie so richtig Gedanken darüber gemacht, warum das eigentlich so ist. Seit ich diese Passage in Matts Buch gelesen habe, weiß ich es vielleicht:

Paris

(…)

Noch etwas: Stimulation, Aufregung, von der Sorte, die man an neuen Orten findet. Was manchmal furchterregend ist, kann auch eine Befreitung sein. An vertrauten Orten beschäftigt sich das Gehirn nur mit sich selbst. Es hat nichts Neues zu registrieren, wenn du bloß in deinem Zimmer sitzt. Keine potentiellen äußeren Gefaren, nur innerliche. Aber wenn du dich zwingst, Neuland zu betreten, vorzugsweise tatsächlich ein anderes Land, konzentrierst du dich unweigerlich ein bisschen mehr auf die Welt außerhalb deines Kopfes.

(…)

Für viele depressive Menschen ist das Reisen ein Gegenmittel für ihre Symptome.

(…)

Natürlich sind Reisen nicht immer eine Lösung. Oder auch nur eine Möglichkeit. Aber mir hilft es immer, wenn ich die Gelegenheit habe wegzukommen. Ich glaube, vor allem rückt es die Perspektive zurecht. Wir stecken oft mit unseren Gedanken fest, aber wir stecken nicht an einem Ort fest. Uns an einen anderen Ort zu begeben, kann helfen, uns aus unserem unglücklichen geistigen Zustand herauszuhebeln. Bewegung ist das Gegenmittel zu Stillstand. Und es hilft. Manchmal. Nur manchmal.

S. 176 f

Abschnitt 3: Das große Ganze

Haig geht aber in seinem Buch auch immer wieder über seine ganz eigene Krankheitsgeschichte hinaus. Stellt Zusammenhänge her, analysiert und beobachtet unsere Gesellschaft. Und hat auch hier wieder eine große Erkenntnis, die wir eigentlich alle in uns tragen, in wenigen Worten greifbar und präsent gemacht:

Die Welt

Die Welt wird immer stärker darauf ausgerichtet, uns unglücklich zu machen. Glück ist nicht gut für die Wirtschaft. Wären wir glücklich mit dem, was wir haben, warum sollten wir dann noch mehr wollen? (…)

Ruhe wird zum revolutionären Akt: glücklich sein mit einer Existenz ohne Upgrades. Zufrieden sein mit unserem nachlässigen, menschlichen Ich, das wäre nicht gut fürs Geschäft.

Aber wir haben nur diese eine Welt. und wenn wir genau hinsehen, ist die Welt der Waren und der Werbung nicht das wirkliche Leben. Das Leben sind die anderen Dinge. Das Leben ist das, was übrig bleibt, wenn man das ganze Zeug wegnimmt oder zumindest für eine Weile ignoriert.

Das Leben sind die Leute, die dich lieben. Niemand würde wegen eines iPhones am Leben bleiben. Was zählt, sind die Menschen, die wir mit dem iPhone erreichen.

Und wenn es uns langsam besser geht, wenn wir wieder leben, dann sehen wir das Leben mit neuen Augen. Vieles wird klarer, und wir achten auf Dinge, auf die wir vorher nicht geachtet haben.

S. 220 f

Drei Danke – eine Bitte

Abschließen werde ich diesen Artikel mit einem Danke. Oder gleich mehreren:

Danke an Matt Haig, für dieses offene, ehrliche, direkte, wunderbare, ergreifende und wertvolle Buch.

Danke an den dtvfür den Mut und die Entscheidung, dieses Buch in ihr Programm aufzunehmen. Und für die tolle Kooperation im Vorfeld dieses Artikels.

Danke an meinen Kopf, dass er es mir trotz der vielen Dunkelheit, Kriege und Kampfarenen darin noch erlaubt, mit Wörtern, Texten und Büchern immer wieder Lichtblicke, Hoffnungsschimmer und Sonnenschein-Momente zu erleben.

Und meine Bitte: wenn euch gefallen hat, was Matt in seinem Buch und ich über ihn geschrieben habe, dann führt euch dieses Buch zu Gemüte. Ob direkt beim dtv, beim Buchhändler eures Vertrauens oder – wenn das Geld vielleicht gerade knapp, der Wille aber da ist – der örtlichen Bücherei. Ihr werdet es nicht bereuen.


Buchcover »Ziemlich beste Gründe« von Matt Haig

Buchcover »Ziemlich beste Gründe« von Matt Haig

»Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben«

von Matt Haig
dtv Allgemeine Belletristik
Deutsch von Sophie Zeitz
Deutsche Erstausgabe, 304 Seiten, ISBN 978-3-423-28071-6
18. März 2016

EUR 18,90 € [DE], EUR 19,50 € [A]

Dieser Artikel entstand mit der freundlichen Genehmigung und Unterstützung des dtv.

Meine Meinung wurde weder vom Verlag angefragt, gekauft oder beeinflusst – ihr lest einfach was ich über dieses Buch denke und wie ich fühle. 

Relapse N°273 – Alles auf Anfang

Lesezeit: 10 minuten

Relapse N°273 – Alles auf Anfang

Nennt es Rückfall, nennt es Relapse, nennt es Ehrenrunde, nennt es Restart. Fakt ist: es hat mich – wieder – erwischt. Daher auch die Ruhe in der letzten Zeit. Daher dieser Artikel.

Ein Artikel über die letzten Wochen, die nicht einfach waren. Ein Artikel übers Hinfallen und Wieder-Aufstehen. Ein Artikel über neues und altes. Ein Artikel nicht nur über, sondern auch für mich.


Wer mich kennt, mir auf einem meiner sozialen Kanäle folgt oder einen siebten Sinn sein eigen nennt der wird mitbekommen haben, dass ich in den letzten Wochen eine neue Runde auf der Recovery-Achterbahn gedreht habe. Und auch irgendwie noch drehe.

Wochenlang war alles gut. Mir ging es gut. Ich habe nicht getrunken – war kurz vor der Drei-Monats-Sober-Marke. Habe mich nicht selbst verletzt. Wurde von keiner Depression aufs Sofa gedrückt. Habe auf mich geachtet. Habe für mich gesorgt – mit Yoga, gesundem Essen, Meditation, vielen Laufeinheiten, viel geschafft, meine Tage strukturiert. Kurz: ich habe mir selbst ein Gerüst gegeben, dass mich gehalten und gestützt hat.

Nicht nur das: ich bin einen Marathon gelaufen. Einen f****** Marathon. 42,192 Kilometer. In 4 Stunden, 1 Minute und 5 Sekunden.

Und: Ich habe in Brüssel einen Vortrag gehalten. Bei der Jahresversammlung von MHE. Auf Englisch. Vor lauter Profis aus dem Bereich Mental Health. Aus ganz Europa.

Aber das alles hat nicht gereicht. Um mich zu stützen; mich zu tragen; mich im Leben zu halten.

Leben leer, Flasche voll

Denn der Relapse – ja, ich vermeide das Wort Rückfall, die Ehrenrunde ist mir einfach lieber – kam. Und er kam heftig. Aber nicht plötzlich. Nicht ohne Ankündigung.

Vortrag in Brüssel | Auch dieses Foto ist noch von vor dem Relapse. Zeigt mich bei meiner Mission, meiner Leidenschaft. Umgeben von Menschen, die gleich ticken. Ähnliche Ziele haben.
Vortrag in Brüssel | Auch dieses Foto ist noch von vor dem Relapse. Zeigt mich bei meiner Mission, meiner Leidenschaft. Umgeben von Menschen, die gleich ticken. Ähnliche Ziele haben.

Zwei Highlights innerhalb einer Woche – der Marathon und der Vortrag. Zwei Highlights, auf die ich mich lange gefreut, auf die ich lange hin gefiebert und hin gearbeitet habe. Zwei Tage, die mir so viel bedeutet haben. Zwei Tage, für die es sich zu Leben gelohnt hat.

Und plötzlich waren sie vorbei.

Und an ihrer Stelle? Nichts mehr. Kein neues Highlight am Horizont. Kein Ziel, auf das ich mich konzentrieren kann.

Diese Leere in Kombination mit der mir so vertrauten, so oft schon er- und durchlebten Gefahr für meine psychische Gesundheit: Tage ohne Termine. Ohne Verpflichtungen. Ohne Gerüst. Ohne Grund, in meiner Rolle zu bleiben.

Nach vollen, geradezu erfüllten Monaten kam beides zusammen: die Leere nach den Highlights und zwei leere Tage. Aber sie blieben nicht lange leer. Sondern die Depression, die Sucht und die Borderline haben die Leere gefüllt. Sich die Tage unter den Nagel gerissen. Aber so was von. Sturmfrei-Party in meinem Kopf – und ich bin mit Tape an die Wand geklebt und kann nur zuschauen, was meine Gedanken, meine Gefühle da veranstalten.

Wie sieht so ein Relapse aus?

Ihr wisst ja, ich bin Freundin der klaren Worte. Und will darum versuchen, euch den Ablauf meiner Krise zu schildern. Damit ihr euch vorstellen könnt, was hinter diesen ganzen Worten steckt:

Zur zeitlichen Einordnung: der Marathon war am Sonntag, 23. April. Dienstag Nacht sind wir zurück nach München gekommen. Nach vier Stunden Schlaf ging es am Mittwoch um 6 Uhr weiter mit Frühschicht. Danach zur Therapie. Abends sortieren und neu packen. Donnerstag Morgen um 6 mit dem Zug nach Brüssel. Konferenz am Freitag und Samstag. Vortrag am Samstag. Abends zurück nach München. Sonntag 12 Stunden-Schicht.

Krise mit Ankündigung

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Wie oben schon geschrieben, war es ja eine Krise mit Ankündigung. Schon bevor ich ihn Hamburg an den Start gegangen bin habe ich diversen Leuten gesagt, dass es nach Brüssel gefährlich werden würde. Dass ich dann aufpassen müsse.

Als ich dann aus Brüssel wiedergekommen bin habe ich schon gemerkt, wie mir das alles ganz schön zugesetzt hat. So eine Woche hätte wohl auch jeden »normalen« Menschen ganz schön gefordert. Nicht nur physisch, sondern auch psychisch extrem fordernde Tage.

Auch wenn ich erst am Mittwoch nach Brüssel auf die Ehrenrunde eingebogen bin – angefangen hat es wohl schon am Sonntag. Vielleicht auch schon in Brüssel, direkt nach dem Vortrag. Oder vielleicht sogar schon davor.

Die dunklen Gedanken haben sich angeschlichen. Erst vorsichtig um die Ecke geschaut. Ob die Bahn auch wirklich frei ist. Und als sie gesehen haben, dass sie freie Fahrt haben, sind sie aus ihrer Deckung gekommen. Die Attacke ging los.

Warum der Kampf? Wofür? Jeden Tag muss ich mich gegen diese Feinde in meinem Kopf stemmen. Brauche so viele HIlfsmittel, einfach nur um durch die Tage zu kommen. Warum tue ich mir das an? Es gibt einfach keinen Grund. Die anderen wären besser dran, ohne mich. Ich will nicht mehr kämpfen. Ich bin so müde. Jeder Tag kostet so viel Kraft. Einfach nur, damit es weiter geht. Nicht gut geht. Sondern weiter geht. Ich bin so ein Stück Scheiße. Ich krieg das nicht hin. Ich will nicht mehr. Darf ich bitte einfach aufhören? So müde. Müde vom Kampf. Vom Leben. 

Am Anfang konnte mein Ratio-Kopf noch dagegen halten. Hat Argumente geliefert. Und die Truppen gesammelt. Aber die waren zu langsam.

Die Fahrt geht los

Am Mittwoch nach Brüssel habe ich noch meine Schicht im Café absolviert. Und mir danach ein erstes alkoholisches Getränk gegönnt. Nach fast drei Monaten ohne. Irgendwie hat es gut getan. Aber natürlich war ich gleichzeitig auch enttäuscht von mir und wütend auf mich.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich aber schon Stunden, Tage Gedankenbombardement hinter mir. Ich bin also nicht sofort eingeknickt. Aber wenn du so viel Kraft, so viel Energie dafür aufbringen musst, dem Drang zu widerstehen und es trotzdem nicht aufhört und dir auch langsam die Argumente ausgehen – irgendwann gibst du nach. Damit es aufhört. Damit wieder Ruhe herrscht.

Nur leider ist diese Ruhe ja ein Täuschungsmanöver. Gar nichts wird ruhig. Die Gedanken ändern sich – nicht aber ihre Farbe.

Nach dem einen Wodka-Mischgetränk hätte ich wohl noch die Kurve kriegen können. Hätte der Sucht ins Gesicht lachen können und sagen »Guck – jetzt hab ich nachgegeben aber dabei bleibt es«. Ein kleiner Ausrutscher. Aber leider hat die Alternative gewonnen. Die »Scheiß drauf, jetzt ist auch schon egal.«–Variante.

Mit dem Ergebnis, dass ich den Donnerstag quasi vollständig aus meinem Leben gelöscht habe. Mit Hilfe eines Promillerechners habe ich ausgerechnet, dass ich zwischenzeitlich knapp unter 5 Promille hatte. Das Handy war so tot wie ich – gewollt. Bloß kein Kontakt. Niemanden sehen. Niemand soll mich so sehen. Das Türklingel einer besorgten Freundin ist nur unterbewusst, durch dicken Nebel zu mir gedrungen.

Hallo Leben! Tschüss Leben!

Irgendwann war Freitag. Der Pegel wieder niedriger. Das schlechte Gewissen umso größer. Irgendwie habe ich es geschafft, einen halbwegs normalen Tag zu haben. Bin raus. Aus der Höhle. In die Welt. Unter Menschen. Aber all das nur Dank der Unterstützung von Alkohol. Wir haben zusammen die Fassade aufrecht erhalten. Dem Leben gegenüber.

Bis ich wieder sicher war. Und mich weiter kaputt machen konnte. Weiter ins Loch drücken konnte. Noch weiter ins Dunkle. Und es war dunkel.

Bei all dem gewohnten Absturz, den bekannten Löchern und tief sitzenden Mustern gab es dieses Mal aber eine Premiere: ich habe mich selbst in die Klinik eingewiesen. Akute Suizidalität. Ich musste mich vor mir selbst schützen. Und habe gerade noch die Kurve gekratzt.

Als in meinem Kopf eine gewisse Grenze überschritten war, wusste ich, dass ich handeln muss – oder Ernst mache. Und das war wohl mal wieder der Punkt, an dem die Biologie ins Spiel kam. Der Überlebensinstinkt, der Millionen von Jahren Erfahrung hat, hat sich eingeschaltet und mich zum Telefon greifen lassen. Mich um Hilfe bitten lassen. Und mein Lifesaver kam und hat – mal wieder – mein Leben gerettet. Danke!

Bei Anruf – Krisenstation

Und auch wenn es in dem Moment die richtige Entscheidung war, in die Klinik zu gehen, ist es definitiv eine Erfahrung, die ich nicht unbedingt wiederholen muss. Rettungswagen mitten in der Nacht. Gespräche mit Ärzten und Pflegern. Alles abgeben – selbst die Zahnbürste. Nacht mit zwei anderen Damen in einem Glaskasten verbringen, der unsere ständige Überwachung erlaubt hat.

Am nächsten Morgen Verwirrung. Überforderung. Ruhelosigkeit. Unsicherheit. Und vor allem: keine Kommunikation von Seiten des Personals. Ja, ich weiß, am Wochenenden passiert nicht viel in so Krankenhäusern. Aber so eine Nichtbeachtung fand ich dann doch etwas krass. Wo bin ich hier? Wo finde ich was? Was muss ich wissen? Was passiert mit mir? Wie läuft das mit dem Essen? Wie geht es weiter?

Nach wenig Schlaf, viel um-mich-selbst-drehen-und-mit-mir-argumentieren habe ich mich irgendwann getraut, zu den Pflegerinnen zu gehen. Und nach meiner Zahnbürste zu fragen. Katzenwäsche im Gemeinschaftsbad. Und dann: nichts. Umhertigern. Versuche, zu lesen. Lässt der Kopf aber nur mühsam zu.

Irgendwann dann doch Gespräch mit einer Ärztin. Sie will mich dabehalten. »WIE BITTE?????« Ich war fassungslos. Für mich war klar, wenn ich freiwillig komme darf ich auch wieder gehen wenn ich will. Aber so einfach, wie ich mir das vorgestellt hatte, war das dann nicht. Sondern ein ganz schöner Kampf. Hat meine gesamten rhetorischen Fähigkeiten, ein Gespräch mit einem zweiten Arzt und die Unterstützung eines kleinen Engels namens Tina gebraucht, damit ich gehen konnte. Auch dafür: Danke!

Denn ich war mir sicher, dass ich aus der schlimsten Krise raus war. Dass ich mir – für den Moment – keine Sorgen mehr um mich machen musste. Natürlich ist mir klar, dass die Ärzte das nicht sehen können. Und ihnen haben bestimmt schon viele Leute irgendwelche Geschichten erzählt. Deswegen war ich um so dankbarer, als ich wieder »frei« war. Und mein Schutzengel hat mich für die nächsten Stunden auch nicht aus den Augen gelassen. Hat sich selbst übertroffen und auf mich aufgepasst.

Das Pendel kommt zur Ruhe

Eine weitere Neuheit an diesem Relapse ist, dass ich mir Zeit genommen habe, wieder auf meinen Recovery-Track aufzuspringen. In der Vergangenheit lief das immer eher so: ein Tag Absturz und Alkohol und Loch und am nächsten soll mein Körper dann bitte laufen gehen, am besten noch 10 km in neuer Bestzeit. Als wäre nichts gewesen.

Das bin ich diesmal anders angegangen.

Bei meiner Therapeutin habe ich das Bild eines Pendels benutzt. Wenn ich all meine Anker fest um mich habe, mein Gerüst mich hält, dann bin ich das Pendel im Ruhezustand. Aber wie wir alle wissen: es braucht nicht viel, um ein Pendel in Schwingung zu versetzen. Und je heftiger es angestoßen wird, desto länger dauert es, bis es wieder zum Ruhezustand zurückkehrt.

Außer man hält es gewaltsam fest, anstatt dass man es in seinem eigenen Tempo wieder zur Ruhe kommen lässt. Und genau das habe ich diesmal anders gemacht. Mich ausschwingen lassen. Auf mich gehört. Auf meinen Körper gehört. Langsam wieder zurück gefunden. Zur Gesundheit. Zur Abstinenz. Zum Essen. Zum Schlaf. Zur Meditation. Zum Yoga. Zum Sport. Zur Selbstfürsorge. Zum Laufen. Zu mir. Zur Welt. Zum Leben.

Es hat gedauert. Der große Relapse hat viele kleine beinhaltet. Auch nach der Krisenstation noch Konsum und Selbstverletzung. Es war nicht einfach, da dieses Mal rauszukommen. Es war ein langes Loch. Ein tiefes Loch. Und ehrlich gesagt bin ich noch nicht hundert Prozent überzeugt, dass es schon ganz vorbei ist. Dass das Pendel schon wieder still steht. Aber ich bin mir dieser Instabilität, der Schwingungen bewusst. Und das ist gerade wohl das beste und wichtigste, was ich tun kann.

Alles neu macht der Relapse

Auch neu ist bei dieser Ehrenrunde: die Stimmen danach sind nicht nur gegen mich. Treiben mich nicht nur vor sich her.

Ja, ich bin wütend und enttäuscht und sauer. Ja, ich bin böse auf mich, weil ich den Fortschritt so vieler Wochen in so wenigen Tagen zerstört habe. Ja, ich finds scheiße was ich meinem Körper angetan habe. Dass ich eine Woche nicht laufen war. Dass in meinem Meditationskalender jetzt Lücken sind. Dass ich nicht nur während, sondern auch in den Tagen nach dem Relapse so höllisch unproduktiv war. Nicht geschrieben habe. Nichts für mein Studium getan habe.

Ja, das ist alles scheiße.

Aber: es ist wie es ist.

Und diese Seite ist neu. Dass es da Stimmen, Parteien in meinem Kopf gibt, die auf meiner Seite sind. Die versuchen, mir verständlich zu machen dass es so schlimm nicht ist. Wenn auch kein Grund um stolz drauf zu sein, so ist es auch kein Untergang bzw. kein »dann-hätten-wir-uns-das-alles-ja-gleich-sparen-können«.

Zum ersten Mal sind da Stimmen in meinem Kopf, die Gegenargumente bringen. Die sagen »Auch Profisportler machen mal eine Woche Trainingspause. Es ist ok, dass du einmal nicht arbeiten konntest, jemand dich vertreten musste. Du wolltest sterben. Du bist krank. Wenn du die Nacht mit Magenverstimmung überm Klo gehangen hättest wäre es auch ganz normal gewesen.«

Diese Gegenpartei ist neu. Und sie ist gut. Und ich bin froh, sie zu haben. Wenn es schon nicht leicht, so macht sie die Situation doch leichter.

Was lernen wir daraus?

Was ihr daraus lernt? Kann ich nicht sagen. Ich hoffe, ihr verliert nicht den Glauben an mich. Daran, dass ich es schaffen kann. Und werde. Und wohl auch irgendwie will.

Was ich daraus lerne? Dass ich wohl noch mehr Hilfe brauche. Mehr Unterstützung. Ein stabileres Gerüst.

Ja, meine Selbstfürsorge, meinen Routine ist gut. Und ich werde sie auch beibehalten. Und im Moment fühle ich mich auch wieder einigermaßen stabil. Aber diesmal werde ich nicht den Fehler machen das, was passiert ist, einfach zu ignorieren. Sondern ich möchte mich vorbereiten. Auf den nächsten Angriff. Möchte vorbauen.

Wie genau das aussieht, weiß ich noch nicht. Ein paar Dinge habe ich aber schon ins Rollen gebracht:

  • ich ziehe das erste Mal nach 15 Jahren Depression und 4 Jahren Therapie in Erwägung, mir medikamentöse Unterstützung zu holen. Bisher habe ich das immer vermieden, nicht weil ich Angst vor der Wirkung habe, sondern weil ich Angst vor den Nebenwirkungen habe. Ich suche gerade vertrauensvolle Hände, in die ich mich begeben kann damit ich dieses für mich große und auch etwas angsteinflößende Thema anpacken kann.
  • Ich suche, ich brauche Highlights. Dinge, die mir wichtig sind und/oder auf die ich mich freuen kann. Darum habe ich mich im Juni für einen Halbmarathon angemeldet. Und auch gleich noch für meinen nächsten Marathon: in Paris. Am 8. April 2018. Ist noch ganz schön weit hin, und ich merke, dass ich auch nähere Ziele brauche. Dieses Wissen jetzt auch wirklich anzuwenden ist das entscheidende. Denn eigentlich wusste ich das ja schon vor Hamburg und Brüssel – und habe mir doch nichts gesucht, was mich weiter antreibt. Ich hoffe, ich habe meine Lektion gelernt.

Die Hoffnung stirbt noch nicht

Ja, ich bin enttäuscht von mir und wütend auf mich. Sauer darauf, dass ich es so hab kommen sehen und es doch passiert ist. Meine natürlich Reaktion wäre jetzt, mich dafür noch weiter fertig zu machen. Mich schon wieder auf den Boden zu drücken, wenn ich noch nicht mal wieder wirklich aufgestanden bin.

Aber ich versuche, ganz »radikal akzeptierend«, ganz achtsam im Hier und Jetzt zu bleiben. Ja, es ist passiert – es war nicht schön – aber ich kann es nicht mehr ändern.

Schlimm wäre, wenn ich die Sache mit Hochmut und Ignoranz abspeisen würde.

Einige Menschen haben mir in den letzten Wochen sehr geholfen. Wissentlich oder unwissentlich. Jetzt aufzugeben, jetzt nichts zu ändern wäre nicht fair ihnen gegenüber. Wenn es mir auch manchmal schwer fällt, für mich selbst weiterzumachen, so haben mir diese Menschen für die nächste Zeit genug Gründe zu geben, zu kämpfen, weiterzumachen, durchzuhalten.

Und das Danke, das hier angebracht ist, kann ich nicht aussprechen, nicht schreiben –  mit keinen Worten dieser Welt. Aber ich kann es zeigen. Indem ich lebe. Einen Fuße vor den anderen setze. Einen Tag nach dem anderen. Mich jeden Tag neu zu entscheiden.

Oder wie ich auf Instagram so gerne schreibe: #onedayatatime #chooserecoveryeverygoddamnday

Der Alkohol und wir

Lesezeit: 8 minuten

Der Alkohol und wir

Gut, dass ich ein Problem mit Alkohol habe, haben wir jetzt geklärt (wer nochmal nachlesen will: Der Alkohol und ich).

Aber es wird dich weder schockieren, noch überraschen oder verwundern wenn ich dir mit diesem Post sage, dass ich damit gar nicht so alleine bin.


Dieser Artikel soll keine Erklärung, keine Entschuldigung und auch keine Schuldzuweisung sein – er ist viel mehr die logische Fortsetzung meines »Coming-Out«-Posts.

Denn ja, bei der Beschäftigung mit meiner Krankheit schaue ich mir natürlich auch die Umstände an. Meine ganz persönlichen, aber auch die erweiterten. Und in gewisser Weise gehört ihr alle mit dazu.

Soviel schon mal vorweg: klar ist, dass es keine Borderline Persönlichkeitsstörung braucht, um sich selber gesellschaftlich anerkannt kaputt zu machen.

 In guter Gesellschaft

Ihr kennt das: die Aufmerksamkeit steuert die Wahrnehmung. Wenn ich auf der Suche nach neuen Schuhen/einer neuen Frisur/einem neuen Auto bin schaue ich im Alltag bei anderen Menschen verstärkt auf diese Dinge. Wenn mein Bein in einem Gips steckt, fällt mir erst so richtig auf, wie unbeschwert alle anderen durch den Alltag gehen. Wenn ich auf Kohlenhydrate verzichten möchte, stechen mir die vielen Bäckereien und Leckereien allerorten besonders ins Auge.

Und so ging es mir in den letzten Wochen mit Alkohol. Durch meine Krankheit, oder noch mehr durch meinen Entschluss, ihr den Kampf anzusagen und nicht mehr zu konsumieren, fällt mir auf, wie präsent Alkohol in unserer Gesellschaft ist.

Er ist sogar praktisch omnipräsent. Alkohol gehört dazu. Im Alltag, beim Essen, im Kino, beim Feiern, im Büro – ein (»guter«) Grund zu trinken ist leicht gefunden. Alkohol ist überall erhältlich, kostet nicht viel und schmeckt meistens ganz gut. Und vor allem: sein Konsum ist gesellschaftlich anerkannt, wird teilweise geradezu erwartet oder sogar honoriert.

Lange Zeit fand ich das alles richtig gut. Jemand hat um 11 Uhr vorgeschlagen aus irgendeinem Grund mit Prosecco anzustoßen? Super! Fünf Minuten Zeit bevor die S-Bahn kommt? Der nächste Kiosk mit gekühlten Dosen ist bestimmt nicht weit! Du kannst als Mädchen eine Halbe Bier in sechs Zügen leeren? Anerkennendes Schulterklopfen, vor allem von männlichen Bekannten.

Kurzgesagt: es wird einem in diesem unseren schönen Deutschland gar nicht so schwer gemacht, ein Problem mit Alkohol zu haben. Oder anders: viele Deutsche trinken zu viel, zu oft und aus den falschen Gründen.

 Selber Schuld?!

Natürlich ist deswegen nicht gleich jeder abhängig. Aber immerhin 1,6 Millionen Menschen in Deutschland trinken missbräuchlich – und 1,7 Millionen sind alkoholabhängig. Jedes Jahr sterben in Deutschland 74.000 an den Folgen von Alkoholkonsum – das sind 200 Menschen jeden Tag. Je. Den. Tag.

Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit. Sie ist keine Schwäche, keine Willenlosigkeit. Sondern eine Krankheit. Es sind weder nur die Gene noch nur die Umwelt, die zu ihrer Entstehung beitragen.

Obwohl die Alkoholabhängigkeit bereits seit 1968 als Krankheit anerkannt ist, die Behandlungskosten übernommen und die Behandlungsmöglichkeiten immer besser werden – die Lage für die Betroffenen ist auch fast 50 Jahre nach diesem wichtigen Schritt geradezu katastrophal.

Wie wenig andere Patienten werden süchtige Menschen für ihre Lage verurteilt und verantwortlich gemacht. Treibst du 20 Jahre lang keinen Sport, tust nichts für deinen Körper und hast deswegen einen Bandscheibenvorfall, bekommst du Hilfe, Mitleid, Unterstützung. Hast du dich dein halbes Leben nur von Fast Food ernährt und dein Herz kapituliert eines Tages anfallartig vor den Fettmassen in deinem Körper – Krankenhaus & Co sind eine Selbstverständlichkeit.

Man wird dir vielleicht für keines von beidem gratulieren – aber man wird sehr wahrscheinlich nicht hinter deinem Rücken über dich herziehen, dich ausgrenzen, dich verurteilen, dich in einem neuen Licht sehen, sich in deiner Gegenwart anders verhalten und den Kontakt mit dir meiden.

Hast du eines dieser besagten Leiden wirst du einen Teufel tun, deinen Mitmenschen irgendwelche Lügen aufzutischen. Dein Rücken/Herz ist kaputt. Aus. Fertig. Aber wehe, das Problem ist im Kopf. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen lieber einen Gehirntumor hätten, als offen zuzugeben, dass in ihrem Kopf, in ihrem unsichtbaren Inneren, etwas nicht stimmt.

 Bei Unsicherheiten und Hilflosigkeiten …

Wenn sich Betroffene nach langem Kampf mit ihrer Sucht dazu entschließen, Hilfe zu suchen und anzunehmen, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie Bekannten, Kollegen und Nachbarn nicht die Wahrheit sagen werden. »Mal ein paar Wochen zur Kur fahren.« oder »Der Arzt hat gemeint, ich soll mal ein bisschen mehr auf meine Ernährung achten.« heißt es dann.

Ich glaube, dahinter stecken ganz schön viel Unsicherheit und Hilflosigkeit. Auf allen Seiten. Sowohl bei den Betroffenen selber, als auch bei den Angehörigen. Wie darüber reden? Wie damit umgehen? Welche Fragen stellen?

Ist der Körper kaputt, so kann man als Außenstehender erahnen, wie es sich anfühlt. Wie es sein muss, plötzlich einen Arm nicht mehr benutzen zu können; wie sehr es den Alltag verändert, wenn man auf seine Zuckerwerte achten muss. Und weil wir es uns vorstellen können, haben wir auch eine Idee davon, was helfen könnte.

Anders bei psychischen Krankheiten. Was nicht sichtbar ist können wir schwerer verstehen und nachvollziehen. Dabei ist Hilfe auch bei psychischen Krankheiten kein Hexenwerk. Man muss kein mehrjähriges Studium absolvieren oder unzählige Bücher lesen, bevor man Betroffene unterstützen kann (auch wenn Psychoedukation aller Beteiligten ein wichtiger Bestandteil einer gelungenen Behandlung sein kann). Ich hab es schon oft geschrieben, aber werde es wieder und immer wieder tun: da sein hilft. Zuhören hilft. Offen sein hilft.

Sich näher mit einer »unsichtbaren« Krankheit wie Sucht, Depression, Borderline & Co auseinanderzusetzen braucht Willen, Energie und Zeit. Schweigen und ignorieren sind definitiv die einfacheren Optionen. Auch wenn sie die Situation für keinen der Beteiligten besser machen.

 Tabu Thema hoch zwei: Alkoholsucht

Unsicherheit und Hilflosigkeit allein erklären aber noch nicht, warum das Stigma bei Alkoholabhängigkeit besonders groß ist. Fast alle anderen Süchte und Drogen, ob legal oder illegal, genießen selbst in Form einer Abhängigkeit einen besseren Ruf.

Meine Vermutung: die Konfrontation mit der Themenkombination Sucht und Alkohol bringt Menschen dazu, über den eigenen Konsum nachzudenken. Und das wiederum kann auch für viele »gesunde« eine ganz unangenehme Sache sein.

Ich bin nicht alleine damit, dieses Zeug dafür einzusetzen, mich zu entspannen, zu belohnen, lockerer zu machen, mir weniger Gedanken zu machen. Ab und zu mag das ganz ok sein. Aber wenn es ohne Feierabendbier irgendwann nicht mehr geht, der Griff zum Weinglas ohne Nachdenken erfolgt und kein Abend mehr ohne Lockerungsgetränk abläuft, dann stimmt einfach was nicht.

Unterbewusst wissen vermutlich viele Menschen, dass Alkohol eine zu große Rolle in ihrem Leben, im Alltag, in unserer Gesellschaft einnimmt. Aber da alle mitmachen lässt sich das Problem so schön ignorieren. Das schlechte Gewissen ist schnell beiseite geschoben wenn man sich sagt »Aber hier trinken doch alle!«

Wie beim Zucker, beim FastFood, beim Fernsehen und vielen anderen Dingen wissen wir: weniger wäre gut. Nur leider spielt unser Verstand in einer anderen Liga als unser Handeln, unser Körper, unsere Biologie. Das funktioniert so lange, bis uns jemand konfrontiert, uns den Spiegel vorhält. Dann erst entsteht der Konflikt. Und dann tun wir einiges dafür, das Problem schnell wieder aus dem Blickfeld zu bekommen.

 Sucht und Borderline

Vielleicht liegt darin aber auch der Grund, warum es für mich »einfacher« ist als für andere Betroffene, über meine Abhängigkeit zu reden? Weil ich eine Persönlichkeitsstörung als »Grund« für meine Sucht habe?! Es macht mich und dich unähnlicher. Gibt deinem Kopf eine logische Erklärung, warum ich den Alkohol instrumentalisiert habe.

Ja, ich bin sicher, dass meine Borderline, meine Depression und meine Sucht sich gegenseitig verstärkt/bedingt/ausgelöst haben. Ob ich auch ohne BPD abhängig geworden wäre? Keine Ahnung. Lohnt aber auch nicht der Gedankenanstrengung, weil es ist wie es ist. Und das heißt:

Borderline und Sucht sind geradezu ein Traumpaar. Dass ich mich schwer damit tue, das Verhältnis dieser beiden zu verstehen, habe ich schon öfter geschrieben. Dass ich damit aber nicht alleine bin, das habe ich recht schnell verstanden.

Ob es illegale Drogen, Hunger, Essen, Sport oder eben Alkohol ist. Die beiden Diagnosen treten häufig zusammen auf, sind bekannte komorbide Erkrankungen. Auch die Station, auf der ich in Hamburg drei Monate lang zur Therapie war, war eine sogenannte DBT-S-Station – also eine Station, auf der Abhängigkeitserkrankungen mit im Fokus standen.

Borderline ist natürlich nicht die einzig bekannte Verbündete der Sucht. Depressionen sind sicherlich noch viel häufiger mit ihr verbunden – bei mir ja auch –, genau wie Angststörungen, Zwangsstörungen oder andere Persönlichkeitsstörungen.

 Gib mir mehr!

Warum kommen diese Krankheiten so häufig zusammen vor? Nun, ich bin weder Ärztin noch Wissenschaftlerin, aber durch meine Erfahrungen, meine Diagnosen und meine Geschichte bin ich eben doch irgendwie Expertin auf diesem Gebiet. Und ich glaube, dass es daran liegt, dass Süchte dem aus-dem-Gleichgewicht-gebrachten System dabei helfen, wieder etwas Stabilität zu erlangen.

Alkohol, Essen, Hunger, Gras, Sport, Crystal Meth – sie füllen Lücken, welche die Natur oder die Erfahrung hinterlassen haben; sie befriedigen Bedürfnisse, die auf keine andere Weise gestillt werden können; wenn von etwas zu wenig da ist (z.B. Selbstvertrauen, Entspannung, Hoffnung) sorgen diese Mittel für mehr; wenn von etwas zu viel da ist (z.B. Angst, Gefühle, Druck) lassen sie es weniger werden.

Aber all dies natürlich nur an der Oberfläche. Und nur für kurze Zeit. Bis die Wirkung nachlässt. Und man mit seinen Problemen wieder dort angekommen ist, wo man vorher schon war. Oder im schlimmsten Fall noch tiefer drin. Woraufhin man wieder zum Problemlöser greift. Und so weiter und so fort. Herzlich Willkommen in der Suchtspirale!

 Reaktionen auf mein »Coming-Out«

Ich bin also alkoholabhängig. Das wissen jetzt einige Leute. Und ich habe darauf viele Reaktionen bekommen. Und zwar praktisch nur positive, unterstützende, lobende und/oder bestärkende Worte.

Hinter all diesen Reaktionen – für die ich nebenbei wirklich sehr dankbar bin – habe ich aber auch zwei Übergruppen ausmachen können: die Überraschung. Und die Relativierung.

Die Überraschung kann ich noch gut verstehen, nachvollziehen und die ist mir auch schon bekannt (Ich sage nur »Was, du hast Borderline/Depressionen?????«) Ja, wer mich kennt der sieht einen Menschen, der oft lächelt, dessen Leben auf den ersten Blick sortiert und schön aussieht. Mit dem Abziehbild eines psychisch kranken Menschen, das viele Menschen wo-auch-immer her haben habe ich so äußerlich wenig gemein. Daher: die Überraschung verstehe ich.

Was ich schon weniger nachvollziehen kann ist die Relativierung, das Kleinreden-Wollen, der Drang meine Krankheit abzumildern, zu schmälern – sie weniger schlimm zu machen, als sie ist. Beispielsweise durch Sätze wie »Aber, jetzt hast du doch kein Problem mehr mit Alkohol, oder?« oder »So schlimm war das doch bei dir gar nicht, oder?«.

Woher kommt das? Ich schreibe über meine Abhängigkeit nicht zum Spaß. Ich bin krank. Ich habe ein Problem. Ein ziemlich großes. Und ich werde auf diesem Blog nichts übertreiben oder schöner/schlimmer reden, nur damit der Artikel gut wird. Ich schreibe einfach über mein Leben.

Wer den Konsum einer Flasche Wodka plus Nebengetränke pro Tag über Jahre hinweg nicht problematisch findet, der sollte sich sein eigenes Verhältnis zum Thema Alkohol mal näher betrachten.

Und Nein, ich will kein Mitleid. Auch keine Aufmerksamkeit. Jedenfalls nicht für meine Person – aber für das Problem an sich schon gerne.

 Die richtigen Worte

Und dieses Problem fängt ja schon bei der Wortwahl an:

Wer mich kennt und hier schon ein wenig gelesen hat, der weiß, dass Begriffe und Bezeichnungen für mich eine große Rolle spielen. Wie wir Dinge nennen, beeinflusst, wie wir mit ihnen umgehen. Ihr werden mich selten bis gar nicht dabei erwischen, dass ich von mir oder anderen Betroffenen als »Alkoholiker/in« schreibe. Der Ausdruck ist Quatsch, und ich finde mich darin nicht wieder.

Wir sprechen nicht vom Nikotiniker, vom Marihuaniker – aber vom Alkohliker. Und dieser Begriff hatte leider lange Zeit, es sich samt seiner negativen Assoziationen im geteilten Gesellschaftsgedächtnis bequem zu machen. Das soll nichts beschönigen oder kleinreden – ich bin abhängig von dem Zeug. Aber ich mag diesen Ausdruck einfach nicht.

Genau so wenig finde ich mich in »trocken« wieder. Nein, fühlt sich nicht richtig an. Wie so oft blicke ich mal wieder neidisch zu unseren angloamerikanischen Mitmenschen, welche mit den Ausdrücken »addict« und »sober« zwei wunderbare, buchstäbliche Heimaten für die Zustände gefunden haben. Kann an meiner Englisch-Addiction liegen, aber wer weiter liest wird sich an diese Begriffe gewöhnen müssen. Ich bin addict und sober find ich gut.

 Was ich will?

Was ich mit diesem Artikel wohl sagen will: Alkohol wird verharmlost.

Was ich mit diesem Artikel nicht erreichen will: dass auch nur einer meiner Leser denkt »Nur weil die ein Problem mit dem Alkohol hat möchte sie mir jetzt das Trinken vermiesen?!« Nein, das will ich nach wie vor nicht. Es ist dein Leben, dein Körper, deine Entscheidung.

Was ich erreichen will: wie schon im ersten Teil geschrieben fände ich toll, wenn mehr Menschen die Droge, das Nervengift Alkohol bewusster genießen. Nicht automatisch zum Glas oder zur Flasche greifen, sondern vor dem ersten Schluck kurz mal inne halten.

Und darüber hinaus möchte ich natürlich zur Entstigmatisierung der Krankheit Sucht und vor allem Alkoholabhängigkeit beitragen. Auch dadurch, dass ich das »klassische« Bild des »Alkis« aufmische. Menschen jeden Alters, jeder Herkunft, jeden Bildungsabschlusses, jedes Gesellschaftsbereichs, jeden Berufs, jeden Geschlechts sind betroffen. Kein weißer Arztkittel, kein Professorentitel und kein Gehaltszettel schützen vor Sucht. 

Es gibt viele Menschen, die im Alltag funktionieren, Leistung bringen – aber ohne ihren stillen Helfer zusammenbrechen würden.

Ich möchte dazu beitragen, dass mehr Betroffene zu ihrer Krankheit stehen – vor sich selbst und vor anderen. Und somit den ersten, den wichtigsten Schritt in Richtung Besserung gehen. In Richtung Behandlung. In Richtung Hilfe – denn die gibt es. Solange aber die Betroffenen selbst bei der Mystifizierung und somit der Stigmatisierung der eigenen Krankheit mitmachen, weiß ich, dass wir noch ganz am Anfang sind.

Es gibt da draußen viele positive Beispiele von Menschen, die es geschafft haben, die mit ihrer Geschichte Mut machen, die zeigen, dass es auch ohne gehen kann. Ich will einer dieser Menschen sein.

Weiter lesen/schauen

Wer noch nicht genug hat der findet mehr Zahlen, aber auch allerlei überraschendes, informatives und interessantes bei der Aktionswoche Alkohol.

Und wer noch ein wenig tiefer in die Materie einsteigen will, dem lege ich diesen Beitrag in der ARD Mediathek ans Herz. Titel: Genuss bis zur Sucht? – Beschreibung: Wie viel ist zuviel? Ab wann wird Alkohol gefährlich? Der SWR-Reporter Kai Diezemann geht auf die Suche nach der Grenze zwischen Genuss und Sucht.

Und auch einen schönen TED-Talk zum Thema habe ich auf Lager:

Michael Botticelli – Addiction is a disease. We should treat it like one.

Der Alkohol und ich

Lesezeit: 10 minuten

Der Alkohol und ich

Jetzt mal Klartext! Und zwar über Alkohol – meinen guten Freund und großen Feind. Ein Artikel über unsere gemeinsame Geschichte, unsere unsichere Zukunft und sein schwieriges, aber inniges Verhältnis zur Borderline.


Ich weiß nicht, ob es euch auch so ging aber für mich hat sich der letzte Post wie eine Art Cliffhanger angefühlt – was das Thema Alkohol angeht. Ich schreibe einfach mal eben so, dass ich abhängig bin und schon geht’s weiter mit dem nächsten Absatz. Nicht ganz fair, diese Vorgehensweise und sie hat bei mir auf jeden Fall das Bedürfnis geweckt, nochmal nachzulegen und ein paar mehr Worte zu dem Thema zu schreiben:

Die Katze ist jetzt also aus dem Sack – ich habe nicht nur ein kleines Problem mit Alkohol, sondern irgendwie ein ziemlich großes. Das so klipp und klar zu sagen hat mich ganz schön viel Zeit und Überwindung gekostet. Und es ist auch weiterhin nicht einfach. Woran das liegt?

 Ziemlich beste Gründe

So offen gehe ich mit meiner Borderline Persönlichkeitsstörung, meinen Depressionen und allen Problemen, die die beiden so hinter sich her ziehen, um. Rede, schreibe darüber normal, als Teil von mir – weil sie es ja sind.

Anders bei meiner Sucht.

Gar nicht so überraschend oder zahlreich, die Gründe die mich davon abhalten. Aber in ihrer Kombination ganz schön stark:

* Wenn ich in meine Post »Ihr habt doch keine Ahnung – Teil 1« schon darauf eingegangen bin, dass es um psychische Krankheiten noch ein großes Tabu in unserer Gesellschaft gibt, so gilt das besonders für Alkoholabhängigkeit. Um Depressionen herum baut sich langsam eine Lobby auf; Burnout zu haben ist »in« – aber Sucht ist definitv »out«.

* Ich schlage mir selber eine Tür zu. Eine, hinter der ich mich lange verstecken konnte, wenn alles zu viel wurde. Mit diesem Schritt an die Öffentlichkeit bleibt diese Tür jetzt verschlossen. Ja, natürlich kann ich wieder und weiter trinken – aber mit der Konsequenz, dass ich das meinen Leser und Followern, also auch dir, entweder verheimliche – was nicht Ziel dieses Blogs ist, der ehrlich und authentisch bleiben soll – oder ich muss gerade stehen. Nicht mehr nur vor und für mich, sondern auch vor anderen Menschen (was ich bis jetzt tunlichst vermieden habe).

Ja, dem ein oder anderen habe ich mal erzählt, dass die Beziehung zwischen mir und dem Alkohol nicht ganz unproblematisch ist. Aber die Sucht und ich sind nun mal so gut darin, mit Worten umzugehen, dass ich nicht nur andere, sondern auch mich selbst davon überzeugen kann, dass diese Probleme eigentlich gar nicht so dramatisch sind.

Und da sind wir auch schon beim letzten Grund:

* Ich wollte einfach selber lange, lange nicht einsehen, dass ich krank bin.

 Die Sucht schleicht sich an

Denn es hat ja immer alles funktioniert – Schule, Uni, Band, Arbeit. Keine Unfälle, keine Trennungen, keine Verhaftungen. Keine »großen« Konsequenzen. Dafür viele, viele kleine. Körperliche, mentale, soziale Konsequenzen. Aber so lange alles läuft, so lange nichts passiert, so lange keiner fragt – so lange kann das ja alles gar nicht so schlimm sein.

Wie schlimm es aber teilweise wahr, das erkenne ich erst jetzt in der Rückschau. Und auch das nur sehr langsam und zögerlich. Wie sehr ich mich sozial zurückgezogen habe, wie viele Freundschaften durch mein Suchtverhalten kaputt gegangen sind. Wie unwiderruflich ich meinem Körper geschadet, wieviele Momente ich ertränkt, wie viele Erinnerungen ich den hochprozentigen Bach runtergespült, wie viele Tage ich nicht gelebt, was für einen hohen Preis ich bezahlt habe.

Wenn man mitten in der Sucht steckt sieht und merkt und weiß man schon irgendwie, dass da was nicht stimmt. Dass es nicht ganz normal ist, wenn ein Großteil der Gedanken sich in irgendeiner Art und Weise mit Alkohol beschäftigt. Wenn man Verabredungen absagt und die Gesellschaft von Prozenten der von Menschen vorzieht. Wenn man schon morgens mit dem Trinken anfängt und die Angst davor, dass jemand etwas merkt, etwas riecht so viel Raum einnimmt, dass klare Gedanken es schwer haben.

Aber das passiert ja alles nicht von heute auf morgen. Sondern es passiert schleichend. Kein Knall und du bist Vollzeit-Abhängig. Es sind kleine Dinge. Jeden Tag ein bisschen mehr. Jeden Tag ein bisschen anders. Bis Kopf, Körper und Kontakte nicht mehr die gleichen sind. Durch diese sanfte Talfahrt fühlt sich weiterhin alles irgendwie «normal» an. Und nicht krank.

Du kennst das vermutlich: Wenn man jemanden täglich sieht, dann fallen einem hundert Gramm mehr Gewicht pro Tag nicht auf. Wenn man die Person aber nach 3 Monaten mit fast zehn Kilo mehr auf den Rippen wieder sieht ist das schon ein bisschen was anderes.

 Wer ist hier abhängig?

Auch wenn bei dem, was ich jetzt schreiben werde so manch Profi den Kopf schüttelt oder belustigt lächelt: ich glaube weiterhin, dass ich «nur» psychisch abhängig bin. Nicht körperlich. Der Körper an sich hat keine Probleme wenn der Alkohol mal weg bleibt – keine Entzugserscheinungen. Noch nie gehabt. Klar, auch der Kopf ist ein Teil vom Körper, aber ihr versteht was ich meine.

Egal ob vor der Klinik oder auch mal so: von heute auf morgen aufhören zu trinken bereitet mir keine Probleme. Jedenfalls keine körperlichen. Der Krieg läuft im Kopf. In meinen Gedanken und in den Sätzen, die mir die Sucht und von ihr befeuert auch die Borderline, die Depression und all die anderen Monster in meinem Kopf um die Ohren hauen.

In meinen Augen hätte ich jederzeit aufhören können. Ob dieser Gedanke vom klar denkenden Teil meines Kopfes stammt oder ob ihn die Sucht so felsenfest platziert hat, das kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass das die Wahrheit war, die ich lange gelebt habe – und ein bisschen wohl immer noch tue.

Auch als sie mir in Hamburg das erste Mal schwarz auf weißt Psychische und Verhaltensstörung durch Alkohol : Abhängigkeitssyndrom F10.2 diagnostiziert haben, hat es bei mir nichts verändert. Denn die hatten da ja keine Ahnung. Die wussten ja nicht, dass ich sofort aufhören könnte. Dass ich nur weiter trinke, weil mir die Welt mit Alkohol einfach so viel lieber war als die Alternative: meinem Kopf und meinen Gefühlen ausgeliefert zu sein.

 Ein Freund, ein guter Freund …

Nicht mein Körper ist es, der den Alkohol braucht. Sondern mein Kopf. Mein Herz. Meine Seele. Alkohol war lange Zeit mein bester Freund. Und es war eine innige Freundschaft. Mit allem, was intensive Beziehungen so ausmacht.

Aber: ohne all das komplizierte zwischenmenschliche Chaos.

Nicht umsonst gibt es in der DBT-Therapie ein Modul namens «zwischenmenschliche Fertigkeiten». Dieser Punkt ist für viele Borderline-Betroffene ein schwieriges, entscheidendes, anstrengendes und kompliziertes Thema.

Und genau an dieser Stelle kommt die Sucht ins Spiel – leider eine sehr häufige komorbide Erkrankung bei Borderline. Bei anderen ist es Glücksspiel, illegale Drogen, (Nicht-)Essen – und bei mir eben der Alkohol.

Denn der kann beides: für mich da sein ohne mich zur Verantwortung zu ziehen, ohne Fragen zu stellen, ohne Pflichten oder Auflagen. Er ist einfach da. Ich fühle mich traurig, einsam, allein, elend, verlassen, verletzt, wütend, gebrochen, kaputt, überfordert? Dann her mit der hochprozentigen Umarmung, die bis ins Innerste lindern kann!

Das Ganze hat bei mir zeitweise die Ausmaße einer sich immer weiter selbst verstärkenden Spirale aus Persönlichkeitsstörung, Depression, Sucht, sozialer Angst und daraus resultierender Isolation hochgeschaukelt. Nicht schön.

Aber wie hat das denn eigentlich alles angefangen? Und wie genau sah meine Sucht aus?

 Meine Geschichte – von vorne …

Und hier zögere ich wieder. Wie viel Ehrlichkeit traue ich mir zu? Wie viel Ehrlichkeit traue ich euch zu? Um mir und meinem Blog, meiner Vergangenheit, meiner Diagnose, meiner Zukunft und meiner Mission gerecht zu werden, wäre es jetzt an der Zeit, auch hier die Hosen einmal komplett runterzulassen. Auch wenn ich weiß, dass ich damit den ein oder anderen Menschen in meinem Umfeld eine Mischung aus Schock, Überraschung, Wut, Entsetzen, Fassungslosigkeit, Selbstvorwürfen und anderen Dingen, die mir jetzt gerade nicht in den Sinn kommen, zumute.

Aber da müssen wir jetzt durch. Los geht’s:

Angefangen mit dem Trinken habe ich wie wohl die meisten von uns so mit 15/16. Die ersten Monate war das alles noch ganz unproblematisch und mein Trinkverhalten hat sich nicht maßgeblich von dem meiner Freunde unterschieden.

Wann genau die Sucht bei mir eingezogen ist und wie genau sie es geschafft hat, sich so unbemerkt und dabei so unumstößlich, dick und fett in meinem Leben breit zu machen – ich kann es einfach nicht sagen. Was ich sagen kann ist, dass ich circa 8 Jahre meines Lebens ohne einen Tag Pause getrunken habe. Nicht an jedem Tag gleich viel. Aber an jedem. Einzelnen. Tag. Und an den meisten von ihnen doch leider ganz schön viel.

Über viele Monate lag mein Konsum bei einer Flasche Wodka plus Bier und Wein und Trallala hier und da – täglich. Diese Zeit nenne ich gerne meine «Hochphase».

Mit Mitte 20 kam dann irgendwann mal so ein Punkt, wo ich eine temporär vorhandene gute psychische Verfassung genutzt habe, um mal einen Bruch in die TrinkRoutine zu bringen. Von heut auf morgen mal keinen Tropfen. War nicht einfach. Hat aber funktioniert (jedenfalls für ein paar Tage). Und war irgendwie ganz gut!

 … bis heute

Seitdem ist es mal so mal so. Auf die Menge und die Art des Trinkens während meiner Hochphase bin ich aber praktisch nie wieder zurück gefallen. Es gab Tage, Wochen, Monate in denen ich gar nicht getrunken habe. Dann gab es Zeiten, in denen ich zwar Alkohol konsumiert habe, aber nur sehr kontrolliert. Und dann gab es die Phasen, in denen ich wieder voll und ganz in alte Suchtmuster gefallen bin. Ohne die gleichen Mengen zu erreichen, aber doch mit vielen Parallelen.

Alkohol ist und bleibt einfach ein Mittel, das meinem Kopf eine Pause verschafft – und manchmal braucht der nichts mehr als das. Alkohol kann die Löcher in mir füllen und mich gleich im Anschluss in ein tiefes Loch fallen lassen. Er kann mir Wärme schenken, Anspannung lindern und Gefühle regulieren.

Und genau an diesem Punkt kann mir die Sucht immer noch gefährlich werden: wenn es um Gefühle geht. Wenn die Borderline mich mal wieder mit einer Überdosis davon überschüttet reagiert mein ganzes System sofort und ohne Zögern mit dem Ruf nach Alkohol.

Das Suchtgedächtnis ist stark. Es weiß und wird wohl nie ganz vergessen, dass Alkohol mir dabei helfen kann, diesen wilden Ozean zu bändigen. Die Wogen zu glätten. Die tosende Brandung unbeschadet zu überstehen.

15 Jahre lang hat der Alkohol eine große, eine entscheidende, eine stützende und gleichzeitig zerstörerische Rolle in meinem Leben gespielt. Das ist einfach mal die Hälfte meines Lebens. Ich muss mir das immer wieder sagen. Immer wenn ich wieder ungeduldig werde mit mir und meiner Recovery. Wenn es mir nicht schnell genug geht.

 Warum aufhören?

15 Jahre. (M)Ein halbes Leben. Ganz schön lange Zeit, um was zu ändern. Und wie oben geschrieben ist mir ja nicht erst in den letzten Monaten aufgefallen, dass ich ein Problem habe. Warum ich also nicht schon früher was unternommen habe?

Mir hat schlicht und ergreifend ein Grund gefehlt, nicht mehr zu Trinken.

Ich bin einfach nicht Grund genug für mich, nicht mehr zu Trinken. «Abhängig? Na und, was solls? Trink ich eben. Ist über zehn Jahre mehr oder weniger gut gegangen, wird also noch mindestens weitere zehn Jahre gut gehen.»

Mit Horrorgeschichten und -bildern habe ich versucht, mich davon zu überzeugen, was für fiese Sachen Alkohol mit dem menschlichen Körper anstellen kann. Und ist ja nicht so, dass der Alkohol bei mir nicht schon einiges an Schaden angerichtet hätte. Aber: WTF? Geh ich eben kaputt! Sterb ich eben früh!

Wenn du eh schon mit dir selber zu kämpfen hast, dich scheiße findest und immer wieder drüber nachdenkst, dich von dieser Welt und diese Welt von dir zu erlösen, dann sind solche Gedanken alles andere als abschreckend. Je nach Verfassung sogar eher noch anfeuernd.

Da kombinieren sich der depressions-geschwängerte Gedanke «Die wären alle besser dran ohne dich» mit der erschöpften «ich will bitte einfach nicht mehr kämpfen müssen»-Stimme und der borderline-befeuerten «ich gehöre einfach nicht dazu – da ist immer eine Wand zwischen mir und den anderen»-Seite zu einem unerklimmbaren SelbstzerstörungsBerg.

 Ja, ich nehme die Diagnose an!

Während ich diesen Artikel schreibe liegt mein letzter Schluck Alkohol immer weiter zurück. Mittlerweile nun doch schon einige Wochen. Genaues Datum: 5. Februar 2017 – und es fühlt sich gut an.

Was hat sich verändert? Hab ich endlich den einen Grund gefunden, der mich dazu bewegen kann, nicht mehr zu trinken?

Nein, habe ich nicht.

Aber viele kleine.

  • Ich will mir selber – und auch ein paar anderen Menschen – beweisen, dass ich stärker bin.
  • Ich will den Marathon in Hamburg in unter vier Stunden laufen.
  • Ich will dem Alkohol nicht länger erlauben, der Depression immer wieder die Tür aufzuhalten.
  • Ich will mehr Buddhismus in mein Leben einbauen und wenn es mir damit Ernst ist, dann muss der Alkohol draußen bleiben.
  • Ich will das Wunderwerk «Körper» in dem ich jeden Tag aufwachen darf, eigentlich nicht so scheiße behandeln.
  • Ich bin es mir langsam Wert. Noch nicht ohne Vorbehalt. Aber ich arbeite daran.
  • Ich will diesen wenn auch nicht schönen aber doch entscheidenen Teil meines Lebens nicht länger aus meiner (Schreib)Arbeit ausklammern.

Und weil ich mit dem Problem nicht alleine bin! Und auch hier gerne kämpfen und verändern will. Weil ich zeigen will, dass das stereotype Bild vom »abgefuckten Alkoholiker« nur ein sehr kleiner Teil der Wahrheit ist. Weil ich anderen Betroffenen Mut machen will, dass es geht. Dass man auch da rauskommen kann.

 Nie wieder ohne?

Ja, der Gedanke nie wieder ein schönes Glas Rotwein zu trinken, macht mir Angst – keine Frage. Nein, ich bin mir noch nicht sicher ob die komplette Abstinenz oder doch vielleicht das kontrollierte Trinken die richtige Lösung ist.

Für den Moment entscheide ich mich aber klar für die Abstinenz. Die Grenze zwischen «gesundem Konsum» und «Schussfahrt ins Loch – Richtung Depression und alten Mustern» ist schmal. Sehr schmal. Zu schmal. Oft probiert. Immer schief gegangen. Bisher. Da ist ein klares NEIN einfacher. Und genau das lebe ich gerade.

Was ist mit Feiern, Partys, Silvester, Weihnachten, dem Bier am Strand und dem Cocktail auf der Dachterrasse? Gute Frage.

Ich weiß es nicht.

Aber so weit denke ich im Moment auch gar nicht. Darf ich nicht denken.

Im Moment zählt nur das klare «Nein».

Der Unterschied zu den Malen davor ist, dass aus einem «Ich darf nicht» ein «Ich will nicht» geworden ist. Oder vielleicht sogar ein «Ich muss nicht». Und das fühlt sich verdammt gut an. Nicht nach Verlust, nach Niederlage, nach Verzicht – sondern nach Freiheit, Kraft und Stärke.

Ja, ich habe Momente, Tage, Phasen in denen ich kämpfe. In denen Suchtdruck und Gedankenspiralen so stark werden, dass ich kurz davor bin, zu trinken. Neben einem «ZuViel» an Gefühlen triggern mich Orte und Situationen, die für mein System mit Konsum verbunden sind. Ich ertappe mich dabei, wie mein Körper automatisch in Supermärkte, zu Kiosken und Kühlregalen steuert. Und das wird bestimmt noch eine Weile so bleiben.

 Und wie geht’s jetzt weiter?

Für mich? Sobriety is the goal! Mindestens bis zum Marathon am 23. April in Hamburg keinen Tropfen. Aber lieber noch ein ganzes Jahr sober – und dann sehen wir weiter.

Für dich? Kann ich nicht sagen – aber freuen würde mich, wenn du nach Lektüre dieses Artikels deinen eigenen Alkoholkonsum, den deiner Liebsten und vielleicht den unserer Gesellschaft ein wenig kritischer siehts. Und vielleicht sogar dann und wann eine geile Kirschschorle dem Bier vorziehst.

Für uns? Auf diesem Blog werde ich, was den Alkohol angeht, kein Blatt mehr vor den Mund nehmen – würde nach dem Artikel hier auch wenig Sinn machen. Auch merke ich, während ich an diesem Artikel schreibe, wie viel ich darüber schreiben könnte. Nicht nur über die Sucht an sich, sondern auch die Zusammenhänge zur Borderline und dem Rest.

Ich will und werde nicht missionieren – es ist deine Sache ob, wann und wieviel du trinkst. Ich werde niemandem sein schönes Glas Wein, den Cocktail am Strand oder den teuren, feinen Tropfen ausreden (dazu weiß ich selber schließlich gut genug, wie lecker dieses Zeug sein kann). Mir reicht schon, wenn du ab und an mal nicht automatisch zum Glas oder zur Flasche greifst sondern dir kurz bewusst machst, warum du jetzt gerade trinkst.

Und für die, die mich persönlich kennen? Die mich sehen und mir ins Glas schauen können? Sprecht mich ruhig an – lasst euch nicht von den süßen Worten der Sucht einlullen, sollte ich mit was zu Trinken vor euch stehen. Mir hilft es, wenn ich weiß, dass ich «unter Beobachtung» stehe.

Die Tür, die ich mir selber vor der Nase zugeschlagen habe, mein Notausgang – da will ich erstmal nicht mehr durch. Und je mehr von euch davor stehen und mir den Weg versperren, desto leichter macht ihr es mir. Und dafür sage ich an dieser Stelle einfach mal «Danke»!

Watch it: Zwei Videos zum Thema

Zum Abschluss habe ich dieses Mal noch zwei kleine Videos für euch. In beiden geht es um Sucht und Abhängigkeit. Es geht nicht speziell um Alkohol, sondern darum, was für eine große Rolle das Umfeld und soziale Isolation beim Thema Abhängigkeit spielen:

TED-Talk: Johann Hari – Alles, was sie über Sucht zu wissen glauben, ist falsch

Sehr ähnlich, aber doch ganz anders:

kurzgesagt: What causes addiction? Easy, right? Drugs cause addiction. But maybe it is not that simple

„Ihr habt doch keine Ahnung!“ – Teil 2

Lesezeit: 9 minuten

„Ihr habt doch keine Ahnung!“ – Teil 2

Weiter geht’s mit dem Ende der Ahnungslosigkeit. Nichts baut Vorurteile so sehr ab wie die Vermittlung von Wissen.


Im ersten Teil dieses Posts habe ich darüber geschrieben, warum es so wichtig ist, dass wir Betroffenen öfter versuchen zu beschreiben, wie wir uns fühlen. Auch wenn das absolut keine leichte Aufgabe ist. 

Ich habe versucht, euch ein weiteres Puzzleteil in die Hände zu geben, mit dem ihr eurer Bild vom Leben mit Borderline wieder ein klein bisschen erweitern könnt. In Teil 2 möchte ich euch ein bisschen mehr über die anderen beiden Diagnosen erzählen, die mein Hirn unsicher machen.

Das Trio in meinem Kopf

Ich weiß nicht, wie genau Borderline, Depression und Sucht sich gegenseitig beeinflussen, wo die Grenzen sind, wo die eine aufhört und die andere anfängt, wer zuerst da war oder wer das größte Zimmer in meinem Kopf hat – wahrscheinlich sind die Übergänge zu fließend, als dass ich eine klare Zuordnung vornehmen könnte.

Ich kann nicht mal sagen, ob die drei eigentlich Freunde, Verbündete oder Feinde sind. Ob sie sich gegenseitig anfeuern oder sabotieren. Wahrscheinlich sind sie in diesem Punkt eine ziemlich normale WG: mal fetzen sie sich, mal vertragen sie sich; zeitweise gehen sie sich aus dem Weg und sehen sich wochenlang nicht, dann schmeißen sie gemeinsame Partys; mal sind sie genervt voneinander, mal sind sie froh, sich zu haben.

Mal schubst die Depression die Borderline zur Seite, dann lähmt der schwarze, schwere Umhang sogar die Achterbahn. So wie ich über die Achterbahn der Emotionen in meinen Texten schreibe könnte man meinen, das wäre doch mal eine ganz nette Abwechslung. Wenn dafür aber ein großes, schwarzes Nichts samt abwärtsdrehendem Gedankenstrudel im Kopf einzieht, ist das mehr ein Vom-Regen-in-die-Traufe-Taumeln.

Und auch beim Alkohol kommt es mir so vor, als könne ich zwischen Pest und Cholera wählen. Entweder ich trinke, dann wird die Borderline-Achterbahn gebändigt. Oder ich lasse es und muss mit allem klar kommen, was meine Persönlichkeitsstörung so mit sich bringt. Und leider fällt es der Depression auch leichter, auf die Achterbahn aufzuspringen, wenn sie alkoholbedingt gerade langsamer fährt.

Depression für alle!

Wenn ich auch nicht sagen kann, welchen Beziehungsstatus Borderline und Depression gerade haben, so kann ich auf jeden Fall sagen, wie es sich anfühlt, wenn die Depression mal wieder oben auf ist. Wenn nichts mehr geht. Ein Umhang aus Blei mich niederdrückt. Wenn Kopf und Herz schwer und schwarz werden. 

Das Wort „depressiv“ wird im Alltag gerne falsch verwendet. Zu schnell, zu leichtfertig, zu ahnungslos. Depressiv sein ist nicht das gleiche wie traurig sein. Trauer ist gut, normal und wichtig. Depression ist tödlich, unbarmherzig und mächtig.

Von außen mag es Ähnlichkeiten geben, aber mal einen Tag nicht von der Couch zu kommen weil dich Netflix so hypnotisiert ist nicht das gleiche, wie einen Tag lang nicht von der Couch hochzukommen, weil du es einfach nicht kannst.

Weil selbst der Gedanke, acht Meter rüber in die Küche zu laufen dich erschöpft. Und das nicht nur einen Tag, sondern auch mal eine Woche so bleibt. Wenn Essen, Duschen, Trinken, Reden, Bewegen, Kommunizieren in jeglicher Form ein Ding der Unmöglichkeit werden.

Wenn du irgendwann so lange reglos da lagst, ohne Hoffnung, ohne Kontakt, ohne Essen, dass dein Körper den Notknopf drückt und eine Art Überlebensinstinkt aktiviert, der den Körper automatisch bewegt, säubert, rausgehen und etwas zu essen kaufen lässt. Meistens ungesund. Aber egal. Dein Körper schreit nach Nährstoffen

Du musst all deine Kraft darauf verwenden, den nächsten Moment zu überstehen. Die Zeit, das Leben fliegt an dir vorbei. Du merkst es. Kannst aber durch den dicken Schleier, der dich von der Welt trennt nichts dagegen unternehmen. Und das Wissen, dass es so ist, lässt dich noch tiefer in deine Verzweiflung sinken.

Gift in meinen Gedanken

Die Depression vergiftet meine Gedanken. Spielt mir falsche Tatsachen vor. Wiederholt so lange die immer gleichen Lügen bis ich nicht mehr weiß, was eigentlich die Wahrheit sein könnte.

Mein Körper ist wie gelähmt. Und mein Wille gleich mit. Während in meinem Kopf kein Stillstand einkehrt. Mein von der Depression regiertes Hirn hört nicht auf, mich mit giftigen Gedankensalven zu beschießen! Da oben herrscht Dauerfeuer.

„Was bist du nur für ein erbärmliches Etwas! Hast alles und kriegst doch nichts auf die Reihe. Andere Menschen haben nichts und sind trotzdem glücklich!“ – „Keiner schert sich um dich! Du könntest hier auf der Couch verrecken und keiner würde es merken! Du bist ganz allein!“ – „Mach einfach Schluss – das ist doch kein Leben! Und die anderen wären auch viel besser dran ohne dich. Ohne dein ständiges Jammern. Endlich kein Problemfall mehr, nach dem sie alle paar Wochen mal schauen müssen.“ – „Wie oft soll ich es dir noch sagen: du bist ein nutzloser Haufen Mensch!“

Das schlechte Gewissen steht permanent an meiner Gedankenseite. Zweifel nagen an allen Ecken der Gedanken. Urteile warten darauf, gefällt zu werden. Hoffnungslosigkeit schaut immer öfter vorbei. Gedanken an Selbstmord drehen ihre Runden.

Gesehen hat mich in diesem Zustand noch kaum ein Mensch – mir fallen genau zwei ein – denn andere Menschen sind ein Grund, zu funktionieren. Und wenn ich die Wohnung nicht für mich alleine habe traut sich auch die Depression nicht so richtig raus aus ihrem Versteck.

Pflicht sei Dank

Ich sehe es als (m)ein „Glück“, dass ich dieses enorm, dieses verflucht hohe Pflichtgefühl habe. Denn so lässt mich meine treue Funktionalität immer wieder aufstehen, wenn der nächste Termin, die nächste Schicht oder das Ende meiner Einzelhaft ansteht.

Wenn es soweit ist, schickt mein Hirn eine Art Monsterfänger los. Es fühlt sich an wie das Zielschlussauto, dass beim Marathon nach und nach die verbleibenden Läufer einsammelt. Dann ist die Bahn frei. Leer. Die Monster sind in ihren Käfigen, der Autopilot übernimmt. Lässt mich aufstehen, duschen und meine Pflicht erfüllen gehen.

Das heißt nicht, dass die Depression nicht mehr da ist. Aber der mit Pflichtgefühl betriebene Autopilot ist stark und kann machen, dass die Monster zwar noch in meinem Kopf sind und aus ihren Käfigen nach mir geiern, aber sie kommen nicht mehr so nah an mich ran. Solange mein Umfeld mir einen Grund bietet zu handeln, mache ich das.

Die Sucht macht Druck!

Nahtloser Übergang zur nächsten Kampfarena: egal ob ihr es Suchtdruck oder Craving nennt; egal ob es ein irrsinniges Verlangen nach Alkohol, Selbstverletzung, Hunger, Gras oder Händewaschen ist – Sucht in all ihren Formen ist ein ganz schön mieses Dreckstück. Die Sucht spielt PingPong mit deinen Gedanken. Die Spieler:

  • Das Wissen: natürlich weiß ich, dass es nicht gut ist, Alkohol zum Anspannungsabbau zu trinken. Ein Teil meines Gehirns checkt, dass ich damit gar nichts besser mache, sondern eher alles nur schlimmer. Dass Alkohol ein Gift ist, dass mich fest im Griff hat.
  • Die Verharmlosung: die Kölner sagen „Et hätt noch emmer joot jejange.“ Und das sagt dieser Teil meines Kopfes auch gerne. Es passt doch alles. So schlimm ist das gar nicht. Keine Verkehrsunfälle, keine Vorstrafen dank Alkohol, nur leichte körperliche Folgeerscheinungen – warum also was ändern? Passt doch alles! Alkoholabhängig? Ich doch nicht!
  • Das Verlangen: nach Erleichterung. Nach einem Ausweg. Einem Filter. Einem Ende. Weniger fühlen, weniger denken, weniger Chaos. Bitte! Selbstschädigung? Scheiß drauf – ich will einfach nur, dass es besser wird!!! Mich belohnen, fürs Kämpfen, fürs Durchhalten.
  • Die Kämpferin: „Alle sagen, das geht nicht. Dann kam eine, die wusste das nicht und hat’s einfach gemacht.“ Manchmal wäre ich gern die, die es schafft, alleine, aus eigener Kraft, die Sucht zu überwinden. Die irgendwann sagen kann „I’m sober now for three whole months“ oder auch years.

Zu diesen Akteuren gesellen sich gerne noch alle möglichen Satzritter und Gedanken. Die Sportlerin sagt, dass ich doch morgen 15  Kilometer laufen gehen wollte und das nix wird, wenn ich jetzt noch eine Flasche Wein trinke. Die Gesundheitsbewusste pöbelt, weil sie keine Lust auf die Kalorien hat. Die Kaputte will mir beweisen, wie kaputt ich bin. Die Verletzte will wieder in ihr vertrautes Loch und sich einfach nur darin verkriechen. Die Depression sagt, dass das doch eh alles keinen Sinn macht.

Krieg im Kopf

Diese Parteien können sich stundenlang in meinem Kopf im Kreis drehen. Stellt euch eine Wippe vor – die eine Seite steht für „Alkohol trinken“ die andere für „Nüchtern bleiben“. Die Argumente, Gedanken und Sätze springen hin und her, mal hängt die Waage klar zur einen Seite und bewegt sich keinen Millimeter. Mal kippt sie im Sekundentakt von Seite zu Seite.

Manchmal tobt dieser Krieg nur leise im hinteren Teil meines Kopfes, manchmal stürzt er sich aber auch nach vorne, ganz in die erste Reihe. Will gesehen, muss gedacht und gekämpft werden. Da ist dann nicht mehr viel Platz für anderes. Es ist ein richtiger Tunnel der Gedanken. Wenn ich da so richtig drin stecke bekomme ich gar nicht mehr wirklich mit, was um mich herum passiert.

Das starke Verlangen nach irgendetwas, dass die Situation besser macht in Kombination mit der borderlinetypischen Impulsivität besonders wenn es um Selbstschädigung geht, macht die Sache dann oft nicht leichter. Da hilft alles Wissen, alle Vorsätze, alle Vereinbarungen nichts – es muss einfach JETZT aufhören.

Ein Freund, ein guter Freund …

Ähnlich wie bei der Depression fällt es mir auch hier leichter, diesen Impulsen in Gegenwart von anderen Menschen zu widerstehen. Schwierig wird es erst wieder, wenn ich alleine bin. Alleine mit meinen Gedanken. Alleine zuhause sitze. Alleine im Supermarkt einkaufe, alleine an der Tankstelle vorbeifahre, alleine im Bahnhofskiosk stehe – dort dann vor den mir so vertrauten Kühlregalen mit den so vertrauten Dosen und Schriftzügen stehe, die mir wie alte Freunde zurufen und mich einladen, mal wieder eine gute Zeit zusammen zu haben.

Denn das habe ich vor Kurzem erst so richtig begriffen: der Alkohol hat in den letzten Jahren vieles übernommen, was bei anderen Menschen Freunde tun. Für mich da sein – wann immer ich ihn brauche. Zuverlässig. Ohne Widerrede. Und vor allem, ohne dass ich das Gefühl habe, in seiner Schuld zu stehen oder ihm zu Last zu fallen. Er nimmt mich, wie ich bin. Wenn ich mich verletzt, einsam, traurig, verloren, hoffnungslos fühle – dann greife ich nicht nach anderen Menschen, sondern zum Glas.

Das ist ein Muster, das lange Zeit hatte, sich zu etablieren. Und es braucht Kraft und Willen und Geduld, um dagegen anzukämpfen und zu lernen, dem Impuls nicht mehr nachzugehen, wenn es schwierig wird. Aber ich merke, wie viel ich darüber schreiben könnte – und es tun will und muss und werde.

An dieser Stelle muss das aber erstmal reichen. So lange habe ich diesen Teil von meinem Trio Infernal nicht aus der Deckung gelassen, da muss ich mich jetzt erstmal dran gewöhnen. 

Eine kleine große Bitte!

So ist es also in meinem Kopf. Dann müssen wir jetzt nur noch klären, wie du jetzt damit umgehst. Mit meinen Worten und dem Wissen, das gerade mal an der Oberfläche kratzt. Weil diese paar Zeilen nur den Anfang vom Ende der Ahnungslosigkeit darstellen können. Was ich dir aber auf jeden Fall mit auf den Weg geben kann:

Wenn sich jemand dir öffnet, um über seine psychischen Probleme (gilt im Grunde natürlich eigentlich für alle Probleme) zu reden, dann sag nicht „Oh das kenn ich, ist bei mir auch so!“ Bitte. Niemals. Auch keine Variation dieses Satzes. Bitte. Es ist mit das Schlimmste, was du mir als Betroffener antun kannst.

Denn du weißt es einfach nicht. Du weißt nicht, wie es sich anfühlt, in meinem Kopf zu wohnen. Wie es ist, jeden Tag aufs neue deine unfreiwilligen Bahnen auf der Borderline-Achterbahn zu drehen. Was es bedeutet von deiner Depression auf die Couch gedrückt zu werden und den Weg ins Badezimmer nicht mehr zu schaffen. Dir einzugestehen, dass dein Leben von einer Droge beherrscht wird. Du weißt es einfach nicht. Und das freut mich natürlich für dich.

Über diese Dinge zu reden, ist schwer. Wenn jemand dich daran teilhaben lässt dann liegt das sehr wahrscheinlich daran, dass du irgendwas verdammt richtig gemacht hast! Mach dir oder euch das nicht durch einen einzelnen, unüberlegten Satz kaputt.

Meine Reaktion auf diesen Satz ist eine Mischung aus unbändiger Wut, sau viel Trotz, ordentlich Schmerz und dem Impuls, mir und dir jetzt sofort zu beweisen, wie scheiße es mir geht. In der Vergangenheit hat das oft zu einer gehörigen Einheit Selbstschädigung geführt, von der ich dann aber nicht möchte, dass sie jemand bemerkt oder mitbekommt, wie scheiße es mir geht weil ich ja funktionieren will und nicht möchte, dass jemand merkt, wie schlecht es mir geht oder die richtig falschen Fragen stellt… – ihr seht das Dilemma.

Es ist gar nicht so schwer

Du musst gar nicht viel machen. Eigentlich vor allem zuhören. Vielleicht nachfragen. Kaum ein Betroffener wird von dir die ultimative Lösung erwarten. Denn darum geht es nicht. Es geht darum, einfach da zu sein. Mit den Ohren, mit dem Herzen, mit den Augen, mit den Gedanken – mit allem.

Versuche, dich für ein paar Minuten zurück zu stellen. Sei ganz bei dem Menschen, der sich dir gerade anvertraut. Der gerade Dinge mit dir teilt, die sich nicht leicht teilen lassen.

Der zweite Teil meiner Bitte: keine Sätze in Richtung „Jetzt reiß dich doch mal zusammen!“ – „Hör doch mal auf damit!“ – „Das wird schon wieder!“ Ich weiß, im Zweifelsfalle sind diese Aussagen nur gut gemeint. Ausdruck von Ahnungs- und/oder Hilflosigkeit. Darum mein Rat:

Bevor du so etwas sagst stell dir die Frage: würde ich das gleich zu jemandem sagen, der eine körperliche Erkrankung hat? Würde ich einem Diabetiker um die Ohren hauen, er solle jetzt doch endlich mal damit aufhören, ständig den Blutzucker zu messen und sich Insulin zu spritzen, weil er das jetzt schon seit Monaten macht? Würdest du einem Freund mit gebrochenem Bein den Mund verbieten, über seine Schmerzen zu klagen? Ich glaube nicht.

Jemandem mit psychischen Krankheiten zu sagen „Du musst es nur wollen!“ in jedweder Variation und Abwandlung ist wie einem Asthmakranken zu sagen, er solle doch einfach mal ordentlich durchatmen oder einem Krebspatienten zu sagen, wenn er es wirklich wollen würde dann könnte er ja gesund werden. Absurd? Stimmt – aber genau dieser Fehler wird tagein tagaus im Umgang mit Depressiven, Abhängigen, Persönlichkeitsgestörten und all ihren und meinen Leidensgenossen begangen.

Aber Moment mal!!!

Einige von euch werden sich beim Lesen des letzten Absatzes genau das gedacht haben: „Moment mal! Ich bin selber Borderliner/depressiv/abhängig/sonst-wie-geschädigt.“ Dann gilt der vorherige Absatz trotzdem auch für dich! Denn auch wenn zwei Menschen die gleiche Diagnose teilen heißt das noch nicht, dass sie sich gegenseitig in die Köpfe gucken können. Die Dämonen darin können ganz verschieden aussehen.

Versuche auch in dem Fall, dich erstmal zurückzuhalten mit deiner eigenen Geschichte. Konzentriere dich auf den „Ich-bin-für-dich-da“-Teil. Und erst, wenn du das Gefühl hast, dein Betroffener ist alles losgeworden, was rausmusste kannst du anfangen, von dir zu erzählen.

Dass du erahnen kannst, durch welche Höllen dein Gegenüber gerade geht; wie die Gedanken aussehen, die sein Leben gerade ins Schwarz ziehen; wie sich der Bleiumhang anfühlt, der sich mit der Depression um einen Menschen legt.

Die Kommunikation zwischen zwei Menschen, die ähnliches hinter sich haben, ist eine ganz andere. Nicht nur wenn es um psychische Krankheiten geht. Beispiel Reisen. Zwei Menschen, die das selbe Land besucht haben werden anders darüber reden als einer, der schon da war und einer, der noch nie da war. Man hat eine andere Ausgangsebene. Gewollt oder nicht stellt sich augenblicklich eine unsichtbare Verbindung her.

Es kann ein großes Geschenk, eine große Erleichterung sein für einen Betroffenen, der gerade mitten in einer Krise, einem Loch, einem Tal steckt jemanden vor sich zu haben der sagt „Ich war auch schon mal da unten. Und ich habs rausgeschafft. Du kannst das auch!“ Nutzt dieses Erfahrungsschatz!

Aufruf an alle

Damit sich das ändert müssen wir zusammen arbeiten. Und hier wende ich mich vor allem an alle meine CoWarriors da draußen! Fragen werden eigentlich genug gestellt. Nicht immer laut. Manche nur verborgen hinterm Schädelknochen. Aber sie werden gestellt. Und die Antworten können nur wir liefern.

Helft mit, Ahnung zu verbreiten. Lasst die Menschen teilhaben an dem, was in euren Köpfen vor sich geht. Helft mit, ihnen ein Bild davon zu geben, wie sich Borderline/Depression/Sucht anfühlt.

Mir fällt der Vergleich zur Fotografie ein. Der analogen. Helft mit, ein Bild zu entwickeln. Im Moment halten die meisten Menschen nur ein unfertiges Negativ in der Hand, wenn sie im Album ihres Kopfes zum Kapitel „psychische Erkrankungen“ blättern. Lasst uns zusammen dran arbeiten, dass dieses Bild immer schärfer wird. Immer kräftiger. Immer näher an die Realität kommt.

Jeder Abschnitt dieses Doppel-Posts hätte ein eigener Beitrag werden können. Aber genau deswegen, weil sich das alles nicht mal eben schnell neben her in drei Sätzen rüberbringen lässt ist umso wichtiger: Wir müssen reden!