Gefühle sind keine Krankheit – Das Buch der Stunde #3

Das Buch der Stunde #3

Lesezeit: 7 minuten

Das Buch der Stunde #3

Gefühle sind keine Krankheit von Christian Peter Dogs


In dieser Kategorie stelle ich in loser Reihenfolge Bücher vor. Bücher, die es sich zu lesen lohnt; oder die mit den Themen auf diesem Blog zu tun haben; die mir geholfen haben, die bei mir etwas ausgelöst oder verändert haben.

Ich bin keine professionelle Buchkritikerin. Wie eine »gute/richtige« Rezension auszusehen hat, weiß ich nicht. Und darum geht es mir auch nicht. 

Mir geht es darum, ganz im Sinne des schönen Postkartenspruchs »Glück ist das einzige, was größer wird, wenn man es teilt« mit euch zu teilen. Wenn ein Buch, ein Text, ein Autor es geschafft hat, mein Herz, mein Hirn oder im Idealfall sogar beides zu bereichern. 


Heute geht’s um Gefühle sind keine Krankheit von Christian Peter Dogs.

Geschichten, die das Leben schreibt

Als ich anfing, dieses Buch zu lesen, setzte schnell ein „Na endlich!“ ein. Endlich mal ein Profi – Dogs ist selber Psychotherapeut – der einiges ähnlich sieht wie ich. Der auch etwas verändern möchte. Das System Psychiatrie/Therapie derzeit auch nicht weiter so hinnehmen möchte.

Schon im Prolog heißt es: „Therapeuten sollten als Menschen erlebbar sein, mit Stärken und Schwächen – und keine korrigierenden Kontrollinstanzen darstellen, die zum Lachen in den Keller gehen.“ Danke, Herr Dogs! Ich kann die Profis unter den Lesern nicht oft genug bitten, gegenüber Patienten keine glatte Wand zu sein, an der sie ständig abrutschen.

Trockene Fakten oder Sachinfos gibt es im Buch wenige. Wenn dann sind sie meist in Geschichten eingebaut und gut verpackt. Sowohl die langjährige Arbeit als Therapeut als auch seine eigene – wahrlich nicht einfache – Biografie finden sich in großen Teilen des Textes wieder. So werden Gedanken oder Beobachtungen mit realen Patientengeschichten veranschaulicht, was vieles leichter greifbar macht.

Dogs Arbeit in unterschiedlichen Settings lässt Blicke hinter die Kulissen zu, die durchaus spannend, manchmal aber auch erschreckend sein können. Trotz des Titels geht es hier um deutlich mehr als „nur“ Gefühle. Eher geht es überraschend wenig um Gefühle direkt. Es geht um das deutsche Therapiesystem, um Behandlungsarten, um Menschen – Patienten und Profis. Und es geht darum, wie wir aus der aktuellen, nicht ganz so optimalen Situation heraus kommen könnten.

Es geht gut los…

Das Buch ist in vier Teile aufgeteilt. In Teil 1 macht Dogs sich auf die Suche, warum wir Menschen – und insbesondere wir Deutschen – eigentlich so ein seltsames Verhältnis zu unseren Gefühlen haben. Warum wir schlecht bis gar nicht mit den schwierigen Seiten des Lebens umgehen können. Was „typisch“ deutsche Tugenden damit zu tun haben und wie viele von Ihnen bis heute (unbewusst) auf uns wirken.

Wer in Deutschland aufwächst, ist fast schon dafür prädestiniert, sich eines Tages ziemlich schlecht zu fühlen. Bereits Kindern wird beigebracht, ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie lernen, sich zu beherrschen, sich zusammenzureißen, keine Gefühle zu zeigen – in vielen Familien ist so etwas erstrebenswert. (…) Beim Aufwachsen fehlt es oft an der nötigen Wärme. Auch das ist ein deutsches Phänomen mit ungünstigen Auswirkungen. „Nicht geschimpft ist gelobt genug.“ So einen Satz haben viele tief in ihrem limbischen System verankert.

Bin ich auch kein Fan von Pauschalisierungen so tendiere auch ich zu der Meinung, dass viel gewonnen wäre wenn wir unseren Kindern schon früh beibringen würden, mit ihren Gefühlen umzugehen. Den angenehmen wie den unangenehmen. Da aber viele Erwachsene das nie gelernt haben, können sie es auch schlecht weitergeben. Und immer so weiter. Bis wir den Teufelskreis endlich mal unterbrechen.

Dogs wirft einen Blick auf unsere heutige Leistungsgesellschaft und wie diese mit unserer psychischen Verfassung zusammenhängt:

Das Leben verlangt ja viel von den meisten heute. Konkurrenz im Privaten wie im Beruflichen, sehr anstrengende Arbeitsbedingungen – und dann ist da niemand mehr, der erklären könnte, worauf es ankommt. Eltern, Pfarrer, Lehrer: Sie wissen es oft selbst nicht oder sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um andere zu stärken und vorübergehend zu stützen – vor allem aber: zu beruhigen.

Gefühle für alle

Im letzten Abschnitt dieses ersten Teiles sieht der Autor sich bestimmte Gefühlslagen bzw. Störungsbilder etwas genauer an. Von Trauer über Wut und Narzissmus bis zu Essstörungen und PTBS. Und vor allem versucht er Gründe zu finden, warum „negative“ Gefühle heute kaum noch da sein dürfen:

„In einer Leistungsgesellschaft sind fröhliche Gesichter erwünscht und nicht weiter auffällig, der Traurige, Weinende aber soll sich verstecken, weil er vermeintlich schwach ist – und auch, weil er mit seiner Reaktion zeigt, dass das Leben eben nicht immer zu kontrollieren ist, sondern manchmal sehr schwer und verstörend sein kann. Viele spielen dieses Spiel mit, vertuschen, wie verletzbar sie sind, wie schlecht es ihnen geht, und so machen es sich schließlich alle gegenseitig schwer, das zu leben, was wahr ist. Ein anstrengendes, verwirrendes Spiel: sich hinter einer Fassade zu verstecken, eine Maske aufzuhaben, bis man selbst kaum mehr auseinanderhalten kann, was Maske ist und was das eigene Gesicht.

Und ermutigt die Leser, auch mit diesen Gefühlen offener, besser umzugehen. Denn nur weil wir sie nicht rauslassen, verschwinden sie ja nicht. Sondern suchen sich andere Wege, in körperlichen Problemen oder psychischen Störungen. Wenn wir wieder lernen würden, Ärger und Wut rauszulassen, könnten wir so manch schlimmere Geschichte verhindern.

Der Übergang von Gefühlen zu Krankheitsbildern ist bei Dogs fließend, was ich mir für den Laien schwierig vorstelle. „Sehr oft ist die Depression ein überdeutliches Signal, dass man sich selbst zu wenig wichtig nimmt, sich nicht traut, Raum einzufordern und seine Gefühle zu zeigen.“ Das mag im Kern so stimmen, und auch an seinen weiteren Beobachtungen rund um Depressionen mag einiges dran sein. Jedoch braucht es hier meiner Meinung nach ein gutes Grundwissen über die Störung, um das dargestellte sinnvoll einsortieren zu können.

Ein Therapeut macht sich Luft

Der zweite Teil des Buches trägt den Titel „Therapie in Deutschland – eine Kritik“. Los geht es darin mit einer Art Bestandsaufnahme die man zusammenfassen könnte mit: Zu viele Menschen werden zu oft, zu lange wegen den falschen Dingen mit den falschen Methoden behandelt.

Kein Teil des Systems bleibt verschont von diesem Rundumschlag – und auch hier stimme ich Dogs in einigen Punkten zu. Kritik am aktuellen System, an gewissen Methoden und Verfahren (die Psychoanalyse würde Dogs am liebsten komplett streichen), an seinen Kollegen, an Kliniken, Gutachtern und Kassen. Ohne die Erfahrung bzw. die Einblicke zu haben, die der Autor in all seinen Jahren als Behandler gesammelt hat, bestätigt es mein Gefühl, dass man da einiges mehr an Effizienz rausholen könnte – zum Wohl des Patienten, und der Kosten.

„Wir müssen alle Gefühle leben können, damit die Psyche gesund bleibt.“

Den Abschluss dieses Teil bildet ein Blick auf „Sinnvolle Therapiemethoden“. Hier werden nicht nur die großen Schulen genannt, sondern zahlreiche Ansätze und Verfahren vorgestellt. Und hier fällt auch die kluge Aussage:

So ist es nicht überraschend, dass viele Patienten bei der Entlassung aus der Klinik wieder eine Verschlechterung ihrer Symptome verspüren, weil sie sich wieder dem Alltag mit all seinen Problemen und Konflikten stellen müssen.

Deshalb ist es so wichtig, sich in der Therapie seiner Gegenwart zu stellen und sich nicht in seiner Vergangenheit zu verkriechen. Es ist die Art und Weise, wie wir jetzt leben, die uns krank macht oder nicht gesund werden lässt – es ist nicht die Vergangenheit. Die kann uns höchstens erklären, warum wir uns heute so oder anders verhalten. Die Vergangenheit müssen wir akzeptieren, die Zukunft können wir gestalten. Das ist das Prinzip, das viele Menschen mit psychischen Problemen verstehen müssen.

Insgesamt merkt man dem Buch an, dass hier jemand dahinter steckt, der viele Jahre Unzufriedenheit mit sich herumgetragen hat. Mit seiner Zunft, seinem Berufsstand, dem System. Was nicht hießt, dass Verbitterung oder ähnliches auftaucht. An den vielen zusammengetragenen Geschichten und Begebenheiten merkt man, dass einige dieser Punkte den Autor einfach schon lange beschäftigen – und ich habe die Erleichterung, vieles davon endlich mal aufschreiben und raus in die Welt schicken zu können, geradezu spüren können.

Teil 3: Was kann ich selbst tun?

Im dritten – sehr kurzen – Teil gibt Dogs schließlich ein paar Tipps, was jeder einzelne für seine Psyche tun kann. Es geht um gesunde Beziehungen, Selbstfürsorge, Selbstwirksamkeit. Und Entspannung:

Als ich vor kurzem bei einem Vortrag gefragt wurde, warum die psychischen Erkrankungen so zunehmen, gab ich zur Antwort: „Weil wir die Fähigkeit verloren haben, in unserer Freizeit zu entspannen und Kräfte zu sammeln. Wenn wir Zug fahren, schauen wir nicht mehr aus dem Fenster, im Flugzeug schalfen wir nicht mehr oder lesen wir nicht etwas Entspannendes, unser Hinr wird ständig overloaded.“

Ein weiterer Punkt, in dem ich dem Autor absolut zustimmen kann. Und den ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Unsere Hirne werden heutzutage so bombardiert mit Reizen, dass wir kaum mit dem verarbeiten hinterherkommen. Nichtstun, Müßiggang, Ruhe, Freidrehen, aktives langweilen – enorm wichtige Beschäftigungen. Die in der sich immer schneller werdenden Welt drohen, in Vergessenheit zu raten.

Ende: unbefriedigend

Im vierten und letzten Teil des Buches geht es schließlich um „Eine Klinik nach meinen Vorstellungen“ – also, natürlich nicht meinen, sondern nach Vorstellungen des Autors. Und das ist dann auch der Abschnitt des Buches, mit dem ich wohl die größten Probleme hatte.

Wenn auch hier wieder spannende Ansätze und Ideen aufgezählt werden („schweigendes Essen, Inaktivitätstage, Hilfosigkeitstage, Nein-Tage, Komplimente-Tag, Positivwoche, meditatives Gehen, Medizinwanderungen“) und stimmige Vergleiche vorkommen so wurde mir das Geschriebene hier doch etwas zu selbstbeweihräuchernd.

Die eigene Arbeit als gar so toll, der eigene Ansatz als der beste, die eigenen Methoden als die einzig wahren dargestellt. Damit habe ich einfach meine Probleme. Leider wurde dieser Ton gegen Ende des Buches immer deutlicher. Was dafür sorgt, dass es genau dieser Eindruck ist, der nach der Lektüre bei mir Hängen bleibt.

Fazit: Gefühle sind keine Krankheit

Was Herr Dogs in Zusammenarbeit mit Frau Poelchau hier in ein Buch gepackt hat, ist auf jeden Fall mal erfrischend anders. Ja, manche Ansichten sind doch radikal. Nicht alle Gedanken kann ich nachvollziehen bzw. gut heißen. Und doch sind viele spannende Ansätze dabei, die ich vorher so noch nicht kannte. Die einfach einen neuen Blick auf althergebrachtes bringen. Ob man diesen dann beibehält oder wieder ganz zur eigenen Sichtweise zurückkehrt, ist damit ja noch nicht entschieden.

Die Hervorhebung der eigenen Arbeit, das Loben des eigenen Tuns und der eigenen Klinik wurde mir am Ende einfach etwas zu viel – egal wie viel Erfahrung jemand mitbringt. Bescheidenheit ist doch auch eine schöne Tugend.

Neuligen auf dem Gebiet der Psychologie würde ich das Buch nur begrenzt empfehlen. Für ein Einstiegswerk sind einige der dargestellten Sachverhalte doch sicherlich etwas zu überzogen, so dass ein gewisses Grund- oder Fachwissen dabei helfen kann, keine falschen Schlüsse zu ziehen.

„Fortgeschrittene“ können hier neue, ungewöhnliche Impulse bekommen – auf die man sich einlassen können muss. Ich kann mir wahrhaft vorstellen, wie Kollegen von Herrn Dogs das Buch wutentbrannt in die Ecke feuern – und damit leider etwas verpassen. Mit etwas Abstand, nicht zu viel Ernst oder Verbissenheit und wohl auch etwas Humor kann die Lektüre dieses Buches durchaus Spaß machen und bereichernd sein.


Gefühle sind keine Krankheit – Warum wir sie brauchen und wie sie uns zufrieden machen

von Christian Peter Dogs und Nina Poelchau

Taschenbuch: 240 Seiten

Verlag: Ullstein Taschenbuch; Auflage: 1. (29. März 2019)

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3548377831

Preis: 12 €


Meine Meinung wurde weder vom Verlag angefragt, gekauft oder beeinflusst: Ihr lest einfach was ich über dieses Buch denke und wie ich fühle.