Ich stehe mit dem Rücken zur Kamera, an einer Scharte in den Bergen und gehe aus dem Bild, mit großem Rucksack auf.

Ein paar Gedanken zum Jahreswechsel

Lesezeit: 6 minuten

Ein paar Gedanken zum Jahreswechsel

Ein Artikel über ein Jahr voll BERG & MENTAL, über meine aktuelle Mental Health, über Täler, Gefühle, über die große Motivation hinter allem – und warum es mich weiter zieht.


Kein großes Thema, sondern viele kleine finden sich in diesem Beitrag. In dem Sinne also ein „klassischer“ Blogpost. Denn im klassischen Sinne ist ein Blog ja eine Art Tagebuch: „Das oder auch der Blog /blɔg/ oder auch Weblog /ˈwɛb.lɔg/ (Wortkreuzung aus englischWeb und Log für Logbuch oder Tagebuch) ist ein auf einer Website geführtes und damit meist öffentlich einsehbares Tagebuch oder Journal, in dem mindestens eine Person, der Blogger, international auch Weblogger genannt, Aufzeichnungen führt, Sachverhalte protokolliert („postet“) oder Gedanken niederschreibt.“ (wikipedia.de)

Also schreibe ich meine Gedanken nieder. Gedanken, die von turbulenten Tagen, die hinter mir liegen, beeinflusst sind.

Hello Tal, my old friend…

Heute, jetzt gerade is der 27. Dezember. Das BERG & MENTAL hat vor genau 25 Tagen seine Türen geöffnet. Seit ungefähr 14 Tagen sind meine – sonst eher stillen – Begleiter wieder etwas lauter geworden. Man könnte auch sagen: meine Krankheiten haben mich in ein doch eher tiefes Tal befördert.

Richtig überraschend kam das wohl nicht. Waren doch die letzten Wochen, Monate vor der Eröffnung schon eher anstrengend. Emotional, physisch, mental, sozial, finanziell, zeitlich, ernährungstechnisch – irgendwie auf allen Ebenen, die einem so einfallen. Dass ich überhaupt so lange so stabil geblieben bin, liegt wohl an meiner festen (Morgen)Routine, die auch in diesen turbulenten Zeiten nicht von meiner Seite gewichen ist. Und an Selbstfürsorge, der Abstinenz, den Medikamenten, all dem, was ich in den letzten Jahren in Therapie & Co lernen durfte. All das zusammen hat dafür gesorgt, dass ich überhaupt so lange durchgehalten habe.

Oder eigentlich: immer noch durchhalte. Denn ja, die Krise war da. Einige Tage lang waren die Gedanken sehr dunkel. Mr. A, die Depression und die Borderline tobten in meinem Kopf wie schon seit vielen Monaten nicht mehr. Und ich kann sagen: weit war es nicht mehr bis zum Rückfall bzw. zur Einweisung in die Klinik.

Aber es ging ohne. Ich bin da rausgekommen ohne zu trinken, mich zu verletzten oder mir sonst wie zu schaden. Daher: Krankheiten 0 – Dommi 1. Was habe ich stattdessen gemacht? Nein, nicht gleich geredet. Wenn #redenhilft auch sonst mein Hauptmotto ist, so fällt es mir im Tal sitzend doch selber ganz schön schwer zu sagen, was gerade Sache ist. Also habe ich geschrieben, das geht einfacher. Aber ich habe auch gekämpft, gegen die dunklen Stimmen im Kopf. Mein Ratio-Therapie-Verstand hat kräftig und lautstark gebrüllt, meine Skills haben sich in ihre Kluft geschmissen, und die Achtsamkeit hat meinen Kopf mehr oder weniger im Jetzt gehalten.

Ganz vorbei ist die Show noch nicht, der bittere Nachgeschmack hängt noch fest. So ganz ist noch nicht wieder alles beim alten. Dafür war das doch zu heftig. Ich gebe mir Zeit, versuche zu verstehen, lebe aber auch ein bisschen aus – alles was da so hochkommen will. Gleichzeitig versuche ich, gut zu mir zu sein. Mich zu bewegen, halbwegs gut zu ernähren etc. etc. Denn das hat ja alles gelitten in den letzten Wochen.

Und ich versuche, zu lernen. Warum ist es passiert? Was kann ich ändern? Welche Schritte, Maßnahmen können wir einleiten, damit meine Gesundheit nicht dauerhaft leidet, „nur“ weil wir nun einen eigenen Betrieb führen.

Jeden Tag aufs Neue

Vor allem hat mir diese Talfahrt aber mal wieder gezeigt, dass meine Krankheiten eben chronisch sind. Dass ich sie nicht hinter mir lassen kann wie einen Beinbruch, der irgendwann verheilt ist und man aufhören darf, jeden Tag, jeden Schritt über ihn nachzudenken. Und auch, dass mein Motto #chooserecoveryeverydamnday weiterhin gelten muss, jeden Tag. Dass sich manche Dinge zwar verändern, leichter werden – andere aber so bleiben, instabil. Oder jedenfalls, dass das im Moment noch so ist.

Und wohl auch, dass ich mir jetzt ein neues Ziel suchen darf – oder eher: muss. Die letzten Monate hat mich die Eröffnung des Ladens sozusagen getragen. Derzeit gibt es aber wenig Dinge, Ziele in den nächsten Monaten, auf die ich mich konkret freuen, auf die ich hinarbeiten kann. Dafür werde ich mich in den nächsten Tagen mal Zeit nehmen und schauen, was 2020 eigentlich alles auf mich wartet (und ob vielleicht bald mal wieder ein Film mit Benedict Cumberbatch in die Kinos kommt).

Gleichzeitig mit diesem Gefühlsberg steht ein nächstes, doch eher emotionales Ereignis an: am 1. Januar werde ich meinen zweijährigen Sobriety-Day feiern. Zwei Jahre ohne Mr. A. Ich schreibe es, als wäre es was besonderes, weiß dass es das auch ist. Anfühlen tut es sich aber derzeit nicht so. Und das ist auch ok.

Gefühl und Verstand leben in diesen Tagen sehr weit auseinander. Der Kopf weiß, was wir da gerade großartiges leisten, wie wichtig BERG & MENTAL ist, wie toll ich das alles gerade mache, wie sehr ich stolz auf mich sein kann etc. etc. Die Gefühle passen aber gar nicht dazu. Die sind eher geprägt bzw. vereinnahmt von einem kleinen, dicken, dunklen Monster, so dass Stolz, Freude & Co gerade noch ein bisschen geduldig sein müssen. Oder von anderen gelebt werden, aber nicht von mir.

Gerade in den letzten Tagen habe ich wieder viel verstanden, warum ich mich gerade so schwer tue, die Eröffnung des Ladens als etwas großartiges zu sehen.

Mental Health für ALLE!

Ganz unachtsam lebe ich schon wieder im morgen, will mehr, größer – denn dieser eine Raum, dem wir dem Thema hier geben, ist einfach noch nicht genug. Das Thema ist so viel größer. Jeder einzelne Mensch, der in den Laden kommt mit seiner Geschichte, ist wichtig. Jeden einzelnen von ihnen können wir hoffentlich erreichen, vielleicht ein Stück in die richtige Richtung schubsen. Ich will aber noch mehr. Ich will Unternehmen, die Politik, die Medien, Institutionen, Fußballvereine – die Gesellschaft erreichen. Dem Thema Mental Health überall dort einen Platz verschaffen.

Deswegen frustrieren mich die kleinen Schritte im BERG & MENTAL derzeit manchmal. Weil ich dahinter den großen Berg sehe, auf den ich Lust habe. Und ich weiß, dass jeder Schritt zählt, keine Sorge. Aber es zieht mich weiter. Mein Ziel ist nicht, jeden Tag im Laden mit den Menschen zu sprechen. Gerne immer wieder, regelmäßig, als Basis. Aber darüber hinaus will ich noch mehr, mich nicht ausruhen sondern in dem Wissen, dass andere Menschen den Raum, den ich mit erschaffen habe, nutzen um mir bei meinem Ziel zu helfen. Denn alleine schaffe ich all das nicht, das weiß ich natürlich.

Ich gehe gerne vor, reiße Barrieren ein, kämpfe an vorderster Front damit es alle hinter mir leichter haben. Für mich ist das wohl die beste Waffe gegen meine Dunkelheit. Wenn die Barrieren aber eingerissen, die Front gesichert ist, dann ist meine Arbeit sozusagen getan. Dann ziehe ich weiter in dem Wissen, dass sich dort gut gekümmert wird. Und ich auch immer wieder zurück kommen kann, um nachzuarbeiten – wenn nötig.

Es geht um Leben und Tod

Erst letztens habe ich bei einem Vortrag vor Polizisten wieder von den Fällen erzählt, in denen es Mental Health Advocates leider selber nicht geschafft haben, den Kampf zu gewinnen. Auch wenn sie so vielen anderen dabei geholfen haben. Und auch in meinem Kopf werden genau diese Stimmen lauter, wenn es schwierig wird. Und dann ist da aber die andere Stimme die sagt „Ich möchte nicht mit meinem Tod ein Zeichen setzen, sondern mit meinem Leben“.

Gerade dieser Tage denke ich auch wieder viel an Chester Bennington, den Sänger der Band Linkin‘ Park, der sich 2017 das Leben genommen hat. Der mir so viel geben hat und den ich in einem meiner Tattoos immer bei mir trage. Da ist Neid, weil er nicht mehr kämpfen muss. Da ist Wut, dass er es nicht geschafft hat. Und da ist Energie, an seiner Stelle weiterzukämpfen. Seine Frau, seine Band, sein Umfeld setzt sich seit seinem Tod für Mental Health ein. Genau wie Theresa Enke, die Frau des Fußballers Robert Enke der sich vor 10 Jahren das Leben genommen hat. Oder Jonny Boucher, den Gründer vom BERG & MENTAL-Vorbild Sip of Hope.

Sie alle haben Menschen an Depressionen & Co verloren. Und es gibt noch so viel mehr Beispiele, von Avicii über Anthony Bourdain hin zu Robin Williams. Aus ihren verlorenen Kämpfen sind Stiftungen und Bewegungen entstanden, die heute die Welt verändern. Leider können Chester, Robert & Co. das nicht mehr selber erleben. Gerne wäre ich ein Beispiel dafür, dass man auch vor einem Suizid etwas verändern kann am Umgang mit Mental Health.

Denn auf die Frage, warum wir das eigentlich alles machen, was unser Ziel ist steht ganz oben immer die Antwort: Leben retten. Nicht in jedem Kontext, bei jeder Veranstaltung geht es explizit darum. Aber das ist das, was hinter, über allem steht. Durch einen anderen Umgang mit Mental Health schaffen, dass sich Menschen früher, überhaupt Hilfe holen. Mit unserer Arbeit will ich Suizide verhindern. Am Ende wohl auch meinen eigenen.

Danke, 2019 – Hallo, 2020

Schaue ich zurück auf das Jahr 2019 so sehe ich fast nur BERG & MENTAL – wenn da auch noch vieles mehr war. Mein Buch ist erschienen, wir sind gereist, ich habe Vorträge gehalten, mit Freunden & Familie tolle Dinge erlebt, bin gelaufen und gewandert, habe viele Gipfel erklommen, Erfahrungen gesammelt und Hürden gemeistert. Und für alles bin ich dankbar. Und doch wird 2019 für mich das Jahr bleiben, in dem die Idee für Deutschlands erstes Mental Health Café geboren wurde, und in dem wir es eröffnet haben.

Was 2020 auf mich, auf uns wartet, vermag ich nicht vorherzusagen oder auch nur zu vermuten. Wenig ist sicher, dafür vieles möglich. Hätte man mich im Dezember 2018 gefragt, was 2019 so bringen wird, ich hätte niemals auch nur annähernd richtig gelegen. Und so freue ich mich einfach auf alles, was da im nächsten Jahr kommt. Packe viel Hoffnung, Achtsamkeit, Selbstfürsorge und Berge mit rein, nehme unsere #mentalhealthcrowd unter den Arm und mache mich bereit, auf ein 2020 voller Überraschungen.