Möglichkeiten über Möglichkeiten

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„Ist doch toll, was Ihr heute so für Möglichkeiten habt – das gab’s bei uns früher alles nicht.“ So leicht die Situation für Menschen aus anderen Generationen aussehen kann, so schwer kann genau dieses Überangebot an Optionen auf’s Gemüt, auf die Seele, auf die Mental Health schlagen. Wie es sich als junger Mensch anfühlt, in diesem Möglichkeiten-Meer fast unterzugehen; was dabei hilft, wieder Orientierung zu finden – darum geht’s in diesem Post.

Ein Beitrag von Emmy. Erst war es nur ein Praktikum, dann wurde eine Werkstudentenstelle draus und mittlerweile haben wir das große Glück, dass Emmy schon seit mehreren Monaten das Mental Health Crowd-Team mit ihrer Arbeit, ihren Ideen, ihren Worten und ihren Perspektiven bereichert.


28.06.2019: Ich bekomme mein Abiturzeugnis in die Hand gedrückt. Auf dieses Blatt Papier habe ich ganze 12 Jahre hingearbeitet. So einiges habe ich erlebt. Viele positive, aber auch einige negative Erfahrungen wurden gesammelt. Freunde gefunden und Freunde verloren. Meine erste „6“ geschrieben und meine zweite. Rotz und Wasser wegen Mathe geheult. Mit Freunden ein Zimmer auf Klassenfahrt geteilt. 12 Jahre klangen am Anfang unfassbar lang, doch sie waren schneller um, als ich gucken konnte.

„Was willst du werden, wenn du mal groß bist?“

Im Kindergarten wollte ich ein „wilder Kerl“ werden. In der Grundschule Tierärztin. Doch je näher ich meinem Abschluss kam, desto weniger Ambitionen hatte ich, etwas Bestimmtes zu erreichen oder gezielt einer Karriere nachzugehen.

Die Frage „Was machst du nach dem Abitur?“ ging mir von Mal zu Mal mehr auf die Nerven. Ich hatte keine Antwort darauf und was auch immer ich auf diese Frage entgegnete – ich war nie zufrieden damit. Es war schwer für mich nachzuvollziehen, wie andere in meinem Alter bereits zu diesem Zeitpunkt ein genaues Ziel vor Augen haben konnten. Sie wussten im Detail, ab wann sie wo sein wollen und wussten auch zu berichten, auf welche Weise sie dies bewerkstelligen würden. Jedenfalls wirkte es so auf mich – doch dazu später mehr…

Und was jetzt?

Kurz und gut, bzw. damals gefühlt schlecht: 2019 war ich frische 18 Jahre alt und hatte wirklich überhaupt keinen Plan, wie es für mich weitergehen sollte. Die Gegenwart des Sommers wurde in vollen Zügen genossen, die Zukunft und die nervige Fragerei nach derselben erstmal ausgeblendet. Später füllte ich meine Tage mit Minijobs, aber es half nichts: Perspektivlos zu sein und ins Nichts zu arbeiten fühlte sich nicht gut an.

Ich wollte ein Ziel vor Augen haben, genau wie die, die ich immer beneidet hatte. Doch da war dieses Gefühl von Unsicherheit, Angst und Ohnmacht. Ich versuchte meine Interessen und Talente zu entlarven. Stellte mir tausend und einmal die Frage, was mich glücklich machen würde und hatte so einige Ideen, die sich wieder in Luft auflösten.

Meine Eltern haben mir nie großen Druck gemacht, sie wollten nur, dass ich etwas mit meiner Zeit anstelle. Der Druck kam von mir selbst. Ich hatte das Gefühl, von den ganzen Möglichkeiten erschlagen zu werden. Es war anstrengend bei all den denkbaren Richtungen die richtige Abzweigung zu wählen. Ich war der Überzeugung, dass der von mir gewählte Weg in Stein gemeißelt sein würde. No Return! No come back! Deshalb traute ich mich nie, mich zu 100% zu entscheiden.

Meer an Möglichkeiten

Meine Angst nahm mir die Freude an dieser eigentlich so spannenden und schönen Zeit. Ich hielt mich selbst viel zu klein und erlaubte mir nicht, mir ausreichend Raum zu nehmen. Durch meine Unsicherheit konnte ich meine eigenen Privilegien nicht erkennen und wertschätzen. Meine Kreativität, die ich mir inzwischen als große Stärke zu sehen erlaube, schrumpfte nach und nach.

Ich fing an Jura zu studieren. Nach 2 Wochen brach ich das Studium ab. Danach wollte ich Maskenbildnerin werden, machte eine dreimonatige Ausbildung zur Make-up Artistin. Eine Bewerbungsmappe habe ich nie abgegeben. Später wollte ich Soziale Arbeit studieren, aber auch daraus wurde nichts. Wie man sieht: Die Mischung könnte nicht bunter sein.

Aber das war gut so. Ich habe all meine Interessen erkundet, in mich hineingehört, in der Realität ausprobiert. Oft war ich noch streng zu mir selbst und verurteilte meine Meinungsänderungen. Doch nach und nach wurde ich freundlicher im Umgang mit mir selbst. Ich gestand mir selbst Zeit zu.

Es stellte sich heraus, dass diese Zeit von Suchen, Lernen, Fehlermachen unfassbar wertvoll für mich war und heute noch ist. Mir wurde klar, dass es normal ist, hin und wieder an sich und seinem Weg zu zweifeln.

MEIN Weg

Nach meiner bunten und aufregenden Reise entschied ich mich für ein Psychologiestudium. Ich hatte mit dieser Wahl das Gefühl, dass ich viele meiner Interessen vereinte und, dass das mein finaler Weg sein wird.

Im Moment schreibe ich meine Bachelorarbeit und auf dem Weg dahin dachte und denke ich immer noch das ein oder andere Mal, dass das alles falsch sein könnte. Doch dann halte ich Inne und versuche, all dem die Schwere zu nehmen. Ich mache mir bewusst, dass es ein Privileg ist, so viele Möglichkeiten zu haben. Ich nehme wahr, dass es keine Schwäche ist, die Zeit einfach mal anzuhalten und durchzuatmen sowie die Dinge zu hinterfragen, sondern viel mehr eine Stärke, um sich selbst treu bleiben zu können.

Vielleicht studiere ich weiter bis zu meinem Master, vielleicht mache ich noch eine Ausbildung oder ein anderes Studium, vielleicht bereise ich ein Jahr die Welt oder vielleicht fange ich nach meinem Bachelor schon an zu arbeiten. Wer weiß schon was passiert?

Schöne Dinge brauchen ihre Zeit und diese darf und möchte ich mir nehmen. Meine Reise ist noch lange nicht vorbei.


Man ist nie allein

Durch Gespräche mit Freunden und Bekannten wurde mir klar, dass viele unter demselben Druck leiden und gelitten haben.

Übrigens auch die, bei denen früher alles so einfach und unter Kontrolle zu sein schien. Das beruhigte mich zusätzlich. Ich begriff, dass ich nicht allein mit meinen Gedanken und Gefühlen bin. Aus diesem Grund lasse ich andere hiermit an meiner Gedankenwelt teilhaben.

Ideensammlung: Deine nächsten Schritte

Ich möchte mit Euch kleine Tipps und Gedanken teilen, die ich aus Gesprächen mit Gleichgesinnten gesammelt habe:

  • Ausprobieren, Ausprobieren, Ausprobieren
  • Praktika (zu wissen, dass einem etwas überhaupt nicht gefällt ist auch eine Erkenntnis)
  • Reisen, Menschen kennenlernen, Austauschen
  • FSJ nach dem Abschluss, öffnet einem viele neue Türen (Ein FSJ ist ein sozialer Freiwilligendienst, der in gemeinwohlorientierten Einrichtungen geleistet wird)
  • Abbrechen ist keine Schande, und hat nichts mit Schwäche zu tun
  • Es kann immer einen Neuanfang geben
  • Frage dich selbst, ob du damit auch glücklich bist und vernachlässige eventuell den Gedanken an das Finanzielle
  • Mit Personen aus Berufsgruppen sprechen, für die man sich interessiert
  • Jobcoaching, kann einem eine hilfreiche Auswahl liefern
  • In Univorlesungen schnuppern
  • Sanfter Umgang mit sich selbst
  • „trust the process“
  • Der eigenen Intuition vertrauen
  • „Vergleichen zerstört die Individualität“
  • Der eigenen Intuition vertrauen

Tür auf, Tür zu

Unserer Generation stehen so viele Türen offen. Wir haben andere Möglichkeiten als sie unsere Großeltern hatten. Es wäre unfassbar schade diese aus Angst und Überforderung nicht zu sehen und vorbeiziehen zulassen.

Wir können durch Praktika, FSJs, Reisen etc. herausfinden in welche Richtung es uns zieht. Wichtig ist es dabei im Hinterkopf zu behalten, dass nicht in Stein gemeißelt ist. Es ist immer Zeit und Raum für Umdenken und Neuorientieren.

Wir dürfen uns und die Welt da draußen entdecken, dürfen Fehler machen und daraus lernen. Wir dürfen etwas abbrechen und etwas Neues anfangen. Und wir dürfen auf Stopp drücken, wenn uns alles zu schnell geht. 

Unnnd Stopp!