Halt mal, Hoffnung

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Halt mal, Hoffnung

Warum ich jetzt erst begriffen habe, wie wichtig Hoffnung ist – für mich, für meine Arbeit, für uns alle. Ein Beitrag über was ganz schön Großes, was ich trotzdem ganz schön lange irgendwie nicht gesehen habe.


Dass ich diesen Post hier jetzt schreibe, wundert mich selber. Oder eher: das Thema wundert mich. Oder noch anders: warum ich jetzt erst darüber schreibe. Es mir überhaupt bewusst ist. Die Hoffnung.

Ein Tweet voller Hoffnung

Dass Ihr nun diesen Post lesen könnt, hat wohl mehrere Gründe bzw. Auslöser. Das erste Mal wirklich aufgefallen sozusagen, ist mir das Thema wohl im Juli. Denn da hat einer meiner Lieblingsautoren Matt Haig folgendes auf Twitter gepostet:

Stay alive for other people. The people you’ll meet. The people you will become.

You are more than a bad month. You are a future of multifarious possibility. You are another self at a point in future time, looking back in gratitude that this lost and former you held on.

Stay.

Tweet von Matt Haig am 9. Juli

Bleib am Leben für andere Menschen. Die Leute, die du treffen wirst. Die Menschen, die du werden wirst.

Du bist mehr als ein schlechter Monat. Du bist eine Zukunft voller Möglichkeiten. Du bist ein anderes Selbst zu einem Zeitpunkt in der Zukunft und blickst in Dankbarkeit zurück, dass du dieses verlorene und ehemalige Selbst behalten hast.

Bleib.

Und auch wenn ich diese Worte heute lese, und auch wenn ich sie am 9. Juli nicht das erste Mal gelesen habe (da Haig den gleichen Post schon zuvor gemacht hatte) bekomme ich Gänsehaut. Die Worte gehen direkt ins Herz, in den Bauch, ins Hirn. Auch ich bin heute so viele Menschen, von denen ich niemals gedacht hätte, dass ich sie mal sein werde. Habe so vieles geschafft, von dem ich niemals gedacht hätte, dass ich es jemals schaffen könnte.

Und noch mehr Hoffnung

Kurz nachdem der Tweet auf meinem Display erschienen war, haben wir den Film „Silver Linings“ geschaut – was ins Deutsche übersetzt der Lichtstreifen am Horizont ist. Auch wenn ich den Film schon kannte – und ihn wieder gut, stark und berührend fand – ist mir doch erst bei diesem Mal Schauen bewusst geworden, wie viel Kraft uns Hoffnung geben kann. Und wie schwer die Dinge, wie schwach wir werden, wenn da kein Silver Lining mehr zu sehen ist.

Das nächste Mal lief mir die Hoffnung über den Weg, als ich auf dem Bundesweiten Trialog in Ansbach ein paar Worte über das Thema „Lebensqualität mit Borderline“ gesagt habe. Und mir dabei selber bewusst wurde, dass „Hoffnung geben“ einer der Kernpunkte ist, den ich mit meiner Arbeit erreichen möchte. Anderen Menschen, die gerade an Orten sind, an denen ich auch vor so vielen Jahren war, Hoffnung geben. Orte, an denen es nur dunkel ist, an denen man viel darüber nachdenkt, mit allem Schluss zu machen, sich das Leben zu nehmen. Ich selber habe viel, viel Zeit an solchen Orten und in ihrer Nähe verbracht.

Dass ich heute noch hier bin, hat verschiedene Gründe. Einige davon wohl auch Zufall oder Glück. Eine meiner Lösungen war es, mir Gründe im Außen zu suchen, die mich weiter leben ließen. Da ich selber nicht Grund genug war, musste ich andere Dinge finden, die mich am Leben hielten. Das waren Dinge wie Marathons oder eine neue Staffel Sherlock. Etwas am Horizont, auf das ich zuarbeiten konnte. Im Grunde haben die Rennen, dieser Schauspieler, mir also Hoffnung gegeben. Auch das erkenne ich so richtig erst beim Schreiben darüber.

Etwas mehr Licht, bitte

Heute sind diese Orte nicht mehr Teil meines Lebens – auch wenn Gedankenhimmel in mir drin sich ab und zu noch etwas dunkel einfärbt ist es doch kein Vergleich zu früher.

Aber bei vielen anderen Menschen sind sie es noch. Alle 5 Minuten versucht in Deutschland ein Mensch, sich das Leben zu nehmen. Alle 53 Minuten nimmt sich ein Mensch in Deutschland das Leben. Und auch, wenn man es nicht versucht, alleine der Gedanke, die Möglichkeit, Suizid  zu begehen, kann einem das Leben noch dunkler machen.

Ich weiß nicht, was es damals mit mir gemacht hätte, von jemandem wie mir gesagt zu bekommen, dass all das irgendwann vorbeigehen wird. Dass hinter dieser riesigen Dunkelheit noch was anderes ist. Es nicht für immer so bleiben muss. Dass man eines Tages da raus kommt. Haigs Tweet zu lesen, den Film zu sehen – ich hätte die Hoffnung darin wahrscheinlich nicht erkannt.

Oder besser: Die Dunkelheit in mir hätte wahrscheinlich versucht, das kleine helle Licht am Ende des Horizonts schnellst möglich zu erdrücken, es mich gar nicht erst richtig erkennen lassen. Aber vielleicht hätte ich es kurz sehen können. Wissen, dass da noch was kommt.

Gestern habe ich den Satz gehört: „Jedem Suizid geht ein nicht-geführtes Gespräch voraus.“ Das möchte ich ergänzen um: „… ein nicht-gesehener Hoffnungsschimmer.“

Das ist das, was wir alle machen können: ein bisschen Licht bringen, wenn ein Angehöriger von uns gerade mit dem Dunkeln kämpft, die Hoffnung verloren hat. Wir können sie eine Weile für ihn halten, sie ihm zeigen, ein Licht drauf werfen – auch wenn er sie gerade (noch) nicht selber halten kann. So wie meine Rennen, so wie Benedict Cumberbatch es – unwissentlich – für mich gemacht hat. Sie haben meine Hoffnung gehalten, als ich sie noch nicht selber tragen konnte.

Holder of Hope

Wie ein roter Faden hat sich das Thema dann auch in den Herbst gezogen. Wo diese dunklen Orte am Welttag der Suizidprävention (dazu auch der Post: Die Dunkelheit lässt grüßen) Thema waren. Genau wie einen Monat später, am Welttag der Seelischen Gesundheit, bei dem dieses Mal die Suizidprävention im Mittelpunkt stand.

Gleichzeitig arbeite ich derzeit an meinem TEDx-Talk, den ich im November an der TU in München halte. Im Verlauf des Prozesses, diese wichtigen 15 Minuten gut vorzubereiten, ist mir klar geworden, was meine Kernbotschaften sind. Was ich möchte, das bei den Leuten hängen bleibt:

  • Das ist zum Einen die Prävention
  • Zum Zweiten die Normalisierung des Themas Mental Health
  • Und zum Dritten ist da: die Hoffnung

Bei meinem vielen Nachdenken über das Thema in den letzten Wochen und Monaten ist mir erst nach und nach die Tragweite bewusst geworden, die mit der Hoffnung kommt. Mir ist bewusst geworden, wie lange ich keinerlei Hoffnung hatte, dass es jemals besser werden könnte. Und heute ist sie nicht nur wieder zurück in meinem Leben, sondern ich kann sie sogar weitergeben, teilen.

Im Englischen gibt es den Ausdruck „Holder of Hope“. Also jemand, der die Hoffnung hält. Wenn man sie vielleicht selber gerade nicht tragen, nicht halten, nicht aushalten kann. Denn alleine die Nähe zu dem dunklen Ort des Suizids lässt eine solche Möglichkeiten gar nicht mehr denken. Da ist keine Hoffnung. Nur Hoffnungslosigkeit. Deshalb braucht es Menschen, die auch mal dort waren, es aber hindurch geschafft haben – und die ihre Geschichte erzählen.

Mehr davon

Diese Seite, dieses Thema, kommt in der Diskussion und vor allem in der medialen Berichterstattung über psychische Krankheiten definitiv zu kurz. Stichwort: Nachrichtenfaktor Negativität. Schlimme, schlechte Nachrichten verkaufen sich einfach so viel besser als gute, schöne.

So hören und lesen wir oft, zu oft, über Menschen, denen eine Krankheit alles genommen hat. Die den Kampf verloren haben. Bei denen es kaum noch Hoffnung gibt. So ist das gesellschaftliche Bild der Betroffenen maßgeblich geprägt von diesen Geschichten, die kein Happy End haben.

Das brauchen wir aber. Ganz dringend. Dass man auch, trotz, gerade den Widrigkeiten des Lebens, ob psychische Krankheit oder ein anderes Hindernis, einem das Leben schwer macht. Die Nachricht, dass man es schaffen kann. Dass man trotzdem in tolles Leben, das alles hinter sich lassen kann.

Gerade wenn ich an Schulen gehe merke ich, wie dringend solche „Vorbilder“ benötigt werden. Menschen die zeigen, dass man da wieder raus kommt. Je schwieriger die Verhältnisse der Schüler sind, desto mehr Dankbarkeit bekomme ich, für das Silver Lining das die Begegnung mit mir in so manchem auslöst. Da komme ich mir manchmal vor wie eine Kompassnadel, ein Orientierungspunkt, ein Ziel, an dem man sich ausrichten kann.

Ich wünsche mir, dass diese Seite, diese wichtige Botschaft mehr erzählt wird. In Büchern, in Filmen, in Zeitungen, Schulen, Serien, Artikeln und Posts. Und von Menschen wir mir, die lange die Hoffnung verloren hatten – sie aber wiedergefunden haben. Das darüber sprechen kann genau der Schimmer sein, der die Wende in einem Leben sein kann. Oder der zumindest dafür sorgt, dass der Schimmer nicht ganz erlischt.

#onedayatatime

Die Grenze zwischen „Hoffnung geben“ und „Floskeln vergeben“ ist dabei leider ziemlich schmal. Ein „Das wird schon wieder“ oder „Morgen sieht die Welt schon viel besser aus“ ist dann schnell gesagt. Kann aber leider kontraproduktiv wirken.

Denn es geht in den dunklen Momenten nicht darum, dass ALLES wieder gut wird. Das kann man sich sowieso nicht vorstellen. Was in diesen Momenten zählt, ist einfach nur das Durchhalten, das Aushalten, dass Weitermachen. Den nächsten Schritt gehen, die nächste Minute schaffen, den nächsten kleinen Sieg erringen. Den Blick nicht in die ferne Zukunft richten, sondern auf das Hier und Jetzt.

Auf Instagram habe ich mal den Spruch „So far, you’ve survived 100% of your worst days – you’re doing great“. Der trifft den Nagel auf den Kopf. Ebenso nutze ich ja sehr gerne den Hashtag #onedayatatime. In der Dunkelheit erscheinen auch kurze Distanzen oft lang. Aber einen Tag, den kann ich mir noch irgendwie abringen. Ein ganzes Leben ohne Alkohol? Ohne einen Schluck Rotwein? Das macht Angst. Heute durchzuhalten – das kann ich mir vorstellen. Versteht Ihr, was ich meine?

Von außen kann man an diese Seite appelieren. Den Blick auf all die Dinge lenken, die geschafft wurden und weiterhin werden. Eben die kleinen Schritte, die kleinen Siege. „Wieder einen Tag geschafft“ – „Wieder eine Stunde durchgehalten“. Und man kann zeigen, dass man da ist – und da bleibt. So lange es eben nötig ist.

Roter Faden Hoffnung

Und der Faden zieht sich noch weiter. Durch mein Leben, durch unsere Arbeit. Nicht nur konzentriere ich mich heute öfter auf die Hoffnung, verliere sie nicht mehr so schnell. Sondern gewinne vor allem dann, wenn ich merke, dass ich anderen Menschen Hoffnung machen, geben kann – nicht nur Schülern.

Meine Akkus sind derzeit, sagen wir es vorsichtig, etwas strapaziert. Die Eröffnung von BERG & MENTAL, die Aktionen rund um den 10. Oktober herum, Geldsorgen, ein voller Terminkalender, Unsicherheit, Angst – all das droht mich manchmal zu erdrücken. Macht mich verwundbar für die dunklen Seiten meines Kopfes.

Dann hilft mir die Hoffnung auch. Die Hoffnung, dass all das hilft. Mir. Und anderen Menschen. Dass ich die Welt ein Stück besser machen, mit meinem Leben, meinem Wirken, Hoffnung machen kann. Ich möchte Menschen, in deren Köpfen die Dunkelheit so groß ist, dass Suizid zur Option wird, Hoffnung geben.

Jede Nachricht auf Instagram, jede Podcastfolge, jedes Kommentar, jedes Mal wenn ich auf einer Bühne oder auf dem Podium bin, jedes anschließende Gespräch, jede E-Mail, jedes Event, egal wo – heute ist die Hoffnung dabei; stärken wir diese Seite in einem, oder sogar in vielen Menschen. Ich trage sie gerne für andere, und werde irgendwie von ihr getragen.

BERG & MENTAL – ein Ort der Hoffnung

Wenn’s mal wieder anstrengend wird, dunkler im Kopf, es definitiv einfacher wäre, alles hinzuschmeißen – gibt es da jetzt also etwas, auf das ich mich immer wieder besinne, konzentriere. Dass dann in meinem Kopf angeht und anfängt zu leuchten.

Bei all den Kämpfen, den Steinen die uns gerade immer wieder in den Weg gelegen, treibt mich dieses Wissen, diese Zuversicht enorm an: das Richtige zu tun, es aus Überzeugung zu tun, gegen alle Widerstände. In und mit der Hoffnung.

Das ganze konzentriert sich natürlich gerade sehr am BERG & MENTAL. Denn hier erschaffen wir genau genommen gerade einen Ort, an dem die Hoffnung zuhause sein wird. An dem es hell ist. Und an dem einem immer jemand dabei helfen, mal eben eine Portion Hoffnung geben kann, wenn man sie selber gerade verloren hat. Der einem sagen kann, dass die Hoffnung noch lange nicht verloren ist, nur weil man sie gerade nicht sehen kann.

Und wenn ich, wenn wir am Ende nur einem Menschen dabei geholfen habe, diesen dunklen Ort zu verlassen, dann haben wir alles richtig gemacht.

Besser spät als nie

Der Duden definiert die Hoffnung als

  1. das Hoffen; Vertrauen in die Zukunft; Zuversicht, Optimismus in Bezug auf das, was [jemandem] die Zukunft bringen wird
  2. positive Erwartung, die jemand in jemanden, etwas setzt

Ich hoffe, dass ihr alle da draußen dieses Vertrauen, diese Zuversicht habt. Oder jemanden, der die Stellung gerade für euch hält. Und wenn das bei euch so ist, dann schaut euch gerne mal um, ob es da jemanden gibt, dem man da vielleicht gerade mit einem kleinen Hoffnungsschimmer zur Seite stehen kann. Am Ende kann man damit nicht nur den anderen, sondern auch den eigenen Horizont ein wenig heller machen.

Hoffnung mag nicht ganz einfach zu begreifen, zu verstehen, zu sehen und auch nicht zu teilen sein. Ich selber habe jetzt mal eben knapp 33 Jahre gebraucht, um sie das erste Mal wirklich wahrzunehmen. Hatte sie vorher viele Jahre verloren.

Es ist also ok, wenn dieser Punkt bei euch vielleicht noch nicht erreicht ist. Ich bin da, halte die Hoffnung solange – denn inzwischen hab ich sie ja zum Glück gefunden.