Das Buch der Stunde #1

Lesezeit: 7 minuten

Das Buch der Stunde#1

Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben von Matt Haig


Eine neue Kategorie ist geboren: Bücher, die es sich zu lesen lohnt; die mit den Themen auf diesem Blog zu tun haben; die mir geholfen haben, die bei mir etwas ausgelöst oder verändert haben.

Ich bin keine professionelle Buchkritikerin. Wie eine »gute/richtige« Rezension auszusehen hat, weiß ich nicht. Und darum geht es mir auch nicht. 

Mir geht es darum, ganz im Sinne des schönen Postkartenspruchs »Glück ist das einzige, was größer ist, wenn man es teilt« mit euch zu teilen, wenn ein Buch, ein Text, ein Autor es geschafft hat, mein Herz, mein Hirn oder im Idealfall sogar beides zu bereichern.


 

Den Anfang macht »Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben« vom britischen Autor Matt Haig.

Zugegeben, der Titel klingt erstmal ganz schön drastisch. Das Buch ist dann aber gleichzeitig ernst und leicht und hilfreich und warm und humorvoll – zu gleichen Teilen.

Die Dommi und das Lesen

Ich lese gerne und viel. Meistens mehrere Bücher gleichzeitig, dazu noch Zeitschriften, Zeitungen und natürlich online, Artikel und Blogs.

Am wenigsten lese ich wohl Fiktion, was aber nicht heißt dass alles, was ich lese hat mit kaputten Köpfen zu tun hat. Aber es macht schon einen großen Teil aus. Ich lese und lerne einfach gerne über »meine« Themen – seien das Borderline, Depression, Sucht oder Reisen, Berge, Sport, Laufen, Yoga, Achtsamkeit, Social Media, Bloggen, Buddhismus, Coachen, Meditation und all die Themen in den Peripherien dieser Themen. Ihr seht: breit gefächerte Homogenität =)

Nun habe ich mich in der letzten Zeit immer wieder dabei entdeckt, wie ich dachte »Mensch, dieses Buch ist so toll/diese letzte Seite war so gut/diese Wörter beschreiben so genau – das möchte ich eigentlich gerne teilen!« Am liebsten mit der Welt, wenigstens aber mit den Menschen, die sich auch für das ein oder andere meiner Themen interessieren.

Und deswegen sitzen wir jetzt hier zusammen.

Ziemlich gute Gründe …

Der britische Autor Matt Haig

Der britische Autor Matt Haig

… euch dieses Buch zu empfehlen. Ich habe schon einige Bücher rund um Depressionen gelesen. Nicht nur Fachbücher, sondern immer wieder auch biografische Erzählungen. Das Buch von Matt Haig sticht aus diesen Büchern aber deutlich heraus.

Ich bin ehrlich und sage euch, dass mich das Buch nicht von der ersten Seite an gepackt hat. Am Anfang dachte ich noch, das Thema Angststörungen und Panikattacken würde eine zu große Rolle einnehmen – was an sich sehr interessant ist, aber eben keines meiner primären Problemfelder.

Ich hatte das Buch aufgeschlagen mit der Hoffnung, die Geschichte eines Leidensgenossen lesen zu dürfen. Vielleicht sogar eine Geschichte mit Happy End? (Nein, kein Spoileralarm an dieser Stelle =).

Was ich dann aber wirklich in den Seiten dieses Buches gefunden habe, geht weit über meine Hoffnung hinaus. Ich habe gelernt – über mich, über die Krankheit, über das Leben. Ich habe gelacht, ich habe gehofft, ich habe geschimpft. Und vor allem: die letzte Seite mit großer Zufriedenheit lesen können. Ohne blöden Nachgeschmack. Ohne enttäuschte Hoffnungen. Sondern bereichert und begeistert.

Wie die Krankheit, so das Buch

Das könnte im ersten Moment böse klingen, ist aber unheimlich positiv gemeint.

Ob Absicht oder Zufall, schon der Aufbau des Buches erinnert mich an die Krankheit Depression. Nicht jeder Tag mit ihr ist gleich, auch wenn viele sich gleichen. Es gibt solche und solche Phasen. Was dir gestern noch selbstverständlich schien, liegt morgen außerhalb deiner Vorstellungen. Was dich gestern beschäftigt hat, hast du heute vergessen.

Wenn die Depression gerade mal wieder aktiv ist, dann weiß ich nicht, was mich in den nächsten Stunden und Tagen erwartet. Welche Gedankengifte die Krankheit für mich auf Lager hat. Ich weiß nicht, ob sie mich in dunkle Erinnerungen oder eine schwarze Zukunft schickt.

Die Gedanken und die Zeit springen umeinander herum. In der Krankheit, wie im Buch. Neben der ganzen Unsicherheit ist eines aber sicher: die Depression ist da. Voller Wucht in erster Reihe, oder unterschwellig und über Umwege.

Ein schwarzer Faden

Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben ist keine durchgehende Erzählung, beschreibt aber trotzdem den Weg einer Besserung. Manche Kapitel, die nahe beieinander stehen haben wenig miteinander gemein. Andere, zwischen denen viele Seite liegen, sind miteinander verbunden.

Haig mischt Gedankenbrocken, Listen, Anekdoten, Ratschläge, Beobachtungen und schafft es auch in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt immer einen roten Faden beim Leser zu lassen.

Für wen ist dieses Buch?

Ganz ehrlich? Mir fällt niemand ein, der dieses Buch nicht lesen wollen/sollen könnte. Haig schafft es ganz klar, der sonst immer sehr unifarbenen, dunklen Materie Depression Facetten zu geben, Farben, Abstufungen.

Angehörige werden nach der Lektüre dieses Buches »ihren« Betroffenen vielleicht besser verstehen können.

Betroffene werden nach der Lektüre dieses Buches vielleicht neben Mut und Hoffnung auch ein paar leichtere Minuten geschenkt bekommen haben. Wenn du gerade mitten drin steckst in einer dunklen Wolke und die Konzentration dir das Lesen schwer macht, dann lass dir gesagt sein: die oft kurze Kapitellänge und die unkomplizierte Art vom Autor zu Schreiben erlauben auch kurze Leseeinheiten.

Interessierte und Fachleute erhalten einen interessanten, realitätsnahen Eindruck wie die Krankheit Depression von innen aussieht. Das Buch ist eine Chance, das eigene Wissen zu erweitern und bereichern.


Um euch eine Vorstellung von diesem wunderbaren Buch zu geben und um euch zu zeigen, warum ich es für so gelungen halte, habe ich euch drei Ausschnitte herausgesucht, die vielleicht einen Eindruck von diesem kleinen Meisterwerk geben können. Seine Lektüre ersetzen, können und wollen sie aber in keinem Fall.

Ausschnitt 1: Die Liste

Ich arbeite gerade selber an einer Zusammenstellung von Tipps, Hinweisen und Anregungen für Angehörige im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen. Ob ich das so wundervoll und so auf den Punkt bringen werde können wie Haig, weiß ich noch nicht:

Wie man für jemanden mit Depressionen und Ängsten da ist

1. Du wirst gebraucht und geschätzt, verlass dich drauf, auch wenn es nicht immer so aussieht

2. Hör zu.

3. Sag nie: »Reiß dich zusammen« oder »Kopf hoch«, es sei denn, du lieferst eine detaillierte, narrensichere Anleitung mit. (Liebevolle Strenge funktioniert nicht. Am Ende hilft ganz allein die gute alte »Liebe«.)

4. Sei dir immer im klaren: Es ist eine Krankheit. Dinge werden gesagt, die nicht so gemeint sind.

5. Lerne. Begreife vor allem, dass das, was dir leicht vorkommt – Einkaufen zum Beispiel –, für einen Depressiven eine nicht zu bewältigende Aufgabe sein kann.

(…)

7. Hab Geduld. Mach dir klar, dass es nicht leicht wird. Depressionen sind wie Ebbe und Flut, sie schwellen an und ab. Sie bleiben nie gleich. Nimm einen glücklichen/schlimmen Moment nicht als Beweis für die Genesung/einen Rückfall. Es kann länger dauern.

(…)

10. Wenn möglich, gib dem Depressiven nicht das Gefühl, seltsamer zu sein, als er sich sowieso schon fühlt. Drei Tage auf dem Sofa? Nicht die Vorhänge aufgezogen? Tränen wegen schwieriger Entscheidungen wie zum Beispiel, welche Socken anziehen? Na und? Kleinigkeit. Einen Normalstandard gibt es nicht. Normal ist subjektiv. Auf unserem Planeten gibt es sieben Milliarden Versionen von normal.

S. 150 f

Ausschnitt 2: Das Reisen

Dass Reisen mir gut tut, weiß ich schon länger. Der Name traveling | the | borderline kommt ja nicht von ungefähr. Aber ich habe mir nie so richtig Gedanken darüber gemacht, warum das eigentlich so ist. Seit ich diese Passage in Matts Buch gelesen habe, weiß ich es vielleicht:

Paris

(…)

Noch etwas: Stimulation, Aufregung, von der Sorte, die man an neuen Orten findet. Was manchmal furchterregend ist, kann auch eine Befreitung sein. An vertrauten Orten beschäftigt sich das Gehirn nur mit sich selbst. Es hat nichts Neues zu registrieren, wenn du bloß in deinem Zimmer sitzt. Keine potentiellen äußeren Gefaren, nur innerliche. Aber wenn du dich zwingst, Neuland zu betreten, vorzugsweise tatsächlich ein anderes Land, konzentrierst du dich unweigerlich ein bisschen mehr auf die Welt außerhalb deines Kopfes.

(…)

Für viele depressive Menschen ist das Reisen ein Gegenmittel für ihre Symptome.

(…)

Natürlich sind Reisen nicht immer eine Lösung. Oder auch nur eine Möglichkeit. Aber mir hilft es immer, wenn ich die Gelegenheit habe wegzukommen. Ich glaube, vor allem rückt es die Perspektive zurecht. Wir stecken oft mit unseren Gedanken fest, aber wir stecken nicht an einem Ort fest. Uns an einen anderen Ort zu begeben, kann helfen, uns aus unserem unglücklichen geistigen Zustand herauszuhebeln. Bewegung ist das Gegenmittel zu Stillstand. Und es hilft. Manchmal. Nur manchmal.

S. 176 f

Abschnitt 3: Das große Ganze

Haig geht aber in seinem Buch auch immer wieder über seine ganz eigene Krankheitsgeschichte hinaus. Stellt Zusammenhänge her, analysiert und beobachtet unsere Gesellschaft. Und hat auch hier wieder eine große Erkenntnis, die wir eigentlich alle in uns tragen, in wenigen Worten greifbar und präsent gemacht:

Die Welt

Die Welt wird immer stärker darauf ausgerichtet, uns unglücklich zu machen. Glück ist nicht gut für die Wirtschaft. Wären wir glücklich mit dem, was wir haben, warum sollten wir dann noch mehr wollen? (…)

Ruhe wird zum revolutionären Akt: glücklich sein mit einer Existenz ohne Upgrades. Zufrieden sein mit unserem nachlässigen, menschlichen Ich, das wäre nicht gut fürs Geschäft.

Aber wir haben nur diese eine Welt. und wenn wir genau hinsehen, ist die Welt der Waren und der Werbung nicht das wirkliche Leben. Das Leben sind die anderen Dinge. Das Leben ist das, was übrig bleibt, wenn man das ganze Zeug wegnimmt oder zumindest für eine Weile ignoriert.

Das Leben sind die Leute, die dich lieben. Niemand würde wegen eines iPhones am Leben bleiben. Was zählt, sind die Menschen, die wir mit dem iPhone erreichen.

Und wenn es uns langsam besser geht, wenn wir wieder leben, dann sehen wir das Leben mit neuen Augen. Vieles wird klarer, und wir achten auf Dinge, auf die wir vorher nicht geachtet haben.

S. 220 f

Drei Danke – eine Bitte

Abschließen werde ich diesen Artikel mit einem Danke. Oder gleich mehreren:

Danke an Matt Haig, für dieses offene, ehrliche, direkte, wunderbare, ergreifende und wertvolle Buch.

Danke an den dtvfür den Mut und die Entscheidung, dieses Buch in ihr Programm aufzunehmen. Und für die tolle Kooperation im Vorfeld dieses Artikels.

Danke an meinen Kopf, dass er es mir trotz der vielen Dunkelheit, Kriege und Kampfarenen darin noch erlaubt, mit Wörtern, Texten und Büchern immer wieder Lichtblicke, Hoffnungsschimmer und Sonnenschein-Momente zu erleben.

Und meine Bitte: wenn euch gefallen hat, was Matt in seinem Buch und ich über ihn geschrieben habe, dann führt euch dieses Buch zu Gemüte. Ob direkt beim dtv, beim Buchhändler eures Vertrauens oder – wenn das Geld vielleicht gerade knapp, der Wille aber da ist – der örtlichen Bücherei. Ihr werdet es nicht bereuen.


Buchcover »Ziemlich beste Gründe« von Matt Haig

Buchcover »Ziemlich beste Gründe« von Matt Haig

»Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben«

von Matt Haig
dtv Allgemeine Belletristik
Deutsch von Sophie Zeitz
Deutsche Erstausgabe, 304 Seiten, ISBN 978-3-423-28071-6
18. März 2016

EUR 18,90 € [DE], EUR 19,50 € [A]

Dieser Artikel entstand mit der freundlichen Genehmigung und Unterstützung des dtv.

Meine Meinung wurde weder vom Verlag angefragt, gekauft oder beeinflusst – ihr lest einfach was ich über dieses Buch denke und wie ich fühle. 

Relapse N°273 – Alles auf Anfang

Lesezeit: 10 minuten

Relapse N°273 – Alles auf Anfang

Nennt es Rückfall, nennt es Relapse, nennt es Ehrenrunde, nennt es Restart. Fakt ist: es hat mich – wieder – erwischt. Daher auch die Ruhe in der letzten Zeit. Daher dieser Artikel.

Ein Artikel über die letzten Wochen, die nicht einfach waren. Ein Artikel übers Hinfallen und Wieder-Aufstehen. Ein Artikel über neues und altes. Ein Artikel nicht nur über, sondern auch für mich.


Wer mich kennt, mir auf einem meiner sozialen Kanäle folgt oder einen siebten Sinn sein eigen nennt der wird mitbekommen haben, dass ich in den letzten Wochen eine neue Runde auf der Recovery-Achterbahn gedreht habe. Und auch irgendwie noch drehe.

Wochenlang war alles gut. Mir ging es gut. Ich habe nicht getrunken – war kurz vor der Drei-Monats-Sober-Marke. Habe mich nicht selbst verletzt. Wurde von keiner Depression aufs Sofa gedrückt. Habe auf mich geachtet. Habe für mich gesorgt – mit Yoga, gesundem Essen, Meditation, vielen Laufeinheiten, viel geschafft, meine Tage strukturiert. Kurz: ich habe mir selbst ein Gerüst gegeben, dass mich gehalten und gestützt hat.

Nicht nur das: ich bin einen Marathon gelaufen. Einen f****** Marathon. 42,192 Kilometer. In 4 Stunden, 1 Minute und 5 Sekunden.

Und: Ich habe in Brüssel einen Vortrag gehalten. Bei der Jahresversammlung von MHE. Auf Englisch. Vor lauter Profis aus dem Bereich Mental Health. Aus ganz Europa.

Aber das alles hat nicht gereicht. Um mich zu stützen; mich zu tragen; mich im Leben zu halten.

Leben leer, Flasche voll

Denn der Relapse – ja, ich vermeide das Wort Rückfall, die Ehrenrunde ist mir einfach lieber – kam. Und er kam heftig. Aber nicht plötzlich. Nicht ohne Ankündigung.

Vortrag in Brüssel | Auch dieses Foto ist noch von vor dem Relapse. Zeigt mich bei meiner Mission, meiner Leidenschaft. Umgeben von Menschen, die gleich ticken. Ähnliche Ziele haben.
Vortrag in Brüssel | Auch dieses Foto ist noch von vor dem Relapse. Zeigt mich bei meiner Mission, meiner Leidenschaft. Umgeben von Menschen, die gleich ticken. Ähnliche Ziele haben.

Zwei Highlights innerhalb einer Woche – der Marathon und der Vortrag. Zwei Highlights, auf die ich mich lange gefreut, auf die ich lange hin gefiebert und hin gearbeitet habe. Zwei Tage, die mir so viel bedeutet haben. Zwei Tage, für die es sich zu Leben gelohnt hat.

Und plötzlich waren sie vorbei.

Und an ihrer Stelle? Nichts mehr. Kein neues Highlight am Horizont. Kein Ziel, auf das ich mich konzentrieren kann.

Diese Leere in Kombination mit der mir so vertrauten, so oft schon er- und durchlebten Gefahr für meine psychische Gesundheit: Tage ohne Termine. Ohne Verpflichtungen. Ohne Gerüst. Ohne Grund, in meiner Rolle zu bleiben.

Nach vollen, geradezu erfüllten Monaten kam beides zusammen: die Leere nach den Highlights und zwei leere Tage. Aber sie blieben nicht lange leer. Sondern die Depression, die Sucht und die Borderline haben die Leere gefüllt. Sich die Tage unter den Nagel gerissen. Aber so was von. Sturmfrei-Party in meinem Kopf – und ich bin mit Tape an die Wand geklebt und kann nur zuschauen, was meine Gedanken, meine Gefühle da veranstalten.

Wie sieht so ein Relapse aus?

Ihr wisst ja, ich bin Freundin der klaren Worte. Und will darum versuchen, euch den Ablauf meiner Krise zu schildern. Damit ihr euch vorstellen könnt, was hinter diesen ganzen Worten steckt:

Zur zeitlichen Einordnung: der Marathon war am Sonntag, 23. April. Dienstag Nacht sind wir zurück nach München gekommen. Nach vier Stunden Schlaf ging es am Mittwoch um 6 Uhr weiter mit Frühschicht. Danach zur Therapie. Abends sortieren und neu packen. Donnerstag Morgen um 6 mit dem Zug nach Brüssel. Konferenz am Freitag und Samstag. Vortrag am Samstag. Abends zurück nach München. Sonntag 12 Stunden-Schicht.

Krise mit Ankündigung

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Wie oben schon geschrieben, war es ja eine Krise mit Ankündigung. Schon bevor ich ihn Hamburg an den Start gegangen bin habe ich diversen Leuten gesagt, dass es nach Brüssel gefährlich werden würde. Dass ich dann aufpassen müsse.

Als ich dann aus Brüssel wiedergekommen bin habe ich schon gemerkt, wie mir das alles ganz schön zugesetzt hat. So eine Woche hätte wohl auch jeden »normalen« Menschen ganz schön gefordert. Nicht nur physisch, sondern auch psychisch extrem fordernde Tage.

Auch wenn ich erst am Mittwoch nach Brüssel auf die Ehrenrunde eingebogen bin – angefangen hat es wohl schon am Sonntag. Vielleicht auch schon in Brüssel, direkt nach dem Vortrag. Oder vielleicht sogar schon davor.

Die dunklen Gedanken haben sich angeschlichen. Erst vorsichtig um die Ecke geschaut. Ob die Bahn auch wirklich frei ist. Und als sie gesehen haben, dass sie freie Fahrt haben, sind sie aus ihrer Deckung gekommen. Die Attacke ging los.

Warum der Kampf? Wofür? Jeden Tag muss ich mich gegen diese Feinde in meinem Kopf stemmen. Brauche so viele HIlfsmittel, einfach nur um durch die Tage zu kommen. Warum tue ich mir das an? Es gibt einfach keinen Grund. Die anderen wären besser dran, ohne mich. Ich will nicht mehr kämpfen. Ich bin so müde. Jeder Tag kostet so viel Kraft. Einfach nur, damit es weiter geht. Nicht gut geht. Sondern weiter geht. Ich bin so ein Stück Scheiße. Ich krieg das nicht hin. Ich will nicht mehr. Darf ich bitte einfach aufhören? So müde. Müde vom Kampf. Vom Leben. 

Am Anfang konnte mein Ratio-Kopf noch dagegen halten. Hat Argumente geliefert. Und die Truppen gesammelt. Aber die waren zu langsam.

Die Fahrt geht los

Am Mittwoch nach Brüssel habe ich noch meine Schicht im Café absolviert. Und mir danach ein erstes alkoholisches Getränk gegönnt. Nach fast drei Monaten ohne. Irgendwie hat es gut getan. Aber natürlich war ich gleichzeitig auch enttäuscht von mir und wütend auf mich.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich aber schon Stunden, Tage Gedankenbombardement hinter mir. Ich bin also nicht sofort eingeknickt. Aber wenn du so viel Kraft, so viel Energie dafür aufbringen musst, dem Drang zu widerstehen und es trotzdem nicht aufhört und dir auch langsam die Argumente ausgehen – irgendwann gibst du nach. Damit es aufhört. Damit wieder Ruhe herrscht.

Nur leider ist diese Ruhe ja ein Täuschungsmanöver. Gar nichts wird ruhig. Die Gedanken ändern sich – nicht aber ihre Farbe.

Nach dem einen Wodka-Mischgetränk hätte ich wohl noch die Kurve kriegen können. Hätte der Sucht ins Gesicht lachen können und sagen »Guck – jetzt hab ich nachgegeben aber dabei bleibt es«. Ein kleiner Ausrutscher. Aber leider hat die Alternative gewonnen. Die »Scheiß drauf, jetzt ist auch schon egal.«–Variante.

Mit dem Ergebnis, dass ich den Donnerstag quasi vollständig aus meinem Leben gelöscht habe. Mit Hilfe eines Promillerechners habe ich ausgerechnet, dass ich zwischenzeitlich knapp unter 5 Promille hatte. Das Handy war so tot wie ich – gewollt. Bloß kein Kontakt. Niemanden sehen. Niemand soll mich so sehen. Das Türklingel einer besorgten Freundin ist nur unterbewusst, durch dicken Nebel zu mir gedrungen.

Hallo Leben! Tschüss Leben!

Irgendwann war Freitag. Der Pegel wieder niedriger. Das schlechte Gewissen umso größer. Irgendwie habe ich es geschafft, einen halbwegs normalen Tag zu haben. Bin raus. Aus der Höhle. In die Welt. Unter Menschen. Aber all das nur Dank der Unterstützung von Alkohol. Wir haben zusammen die Fassade aufrecht erhalten. Dem Leben gegenüber.

Bis ich wieder sicher war. Und mich weiter kaputt machen konnte. Weiter ins Loch drücken konnte. Noch weiter ins Dunkle. Und es war dunkel.

Bei all dem gewohnten Absturz, den bekannten Löchern und tief sitzenden Mustern gab es dieses Mal aber eine Premiere: ich habe mich selbst in die Klinik eingewiesen. Akute Suizidalität. Ich musste mich vor mir selbst schützen. Und habe gerade noch die Kurve gekratzt.

Als in meinem Kopf eine gewisse Grenze überschritten war, wusste ich, dass ich handeln muss – oder Ernst mache. Und das war wohl mal wieder der Punkt, an dem die Biologie ins Spiel kam. Der Überlebensinstinkt, der Millionen von Jahren Erfahrung hat, hat sich eingeschaltet und mich zum Telefon greifen lassen. Mich um Hilfe bitten lassen. Und mein Lifesaver kam und hat – mal wieder – mein Leben gerettet. Danke!

Bei Anruf – Krisenstation

Und auch wenn es in dem Moment die richtige Entscheidung war, in die Klinik zu gehen, ist es definitiv eine Erfahrung, die ich nicht unbedingt wiederholen muss. Rettungswagen mitten in der Nacht. Gespräche mit Ärzten und Pflegern. Alles abgeben – selbst die Zahnbürste. Nacht mit zwei anderen Damen in einem Glaskasten verbringen, der unsere ständige Überwachung erlaubt hat.

Am nächsten Morgen Verwirrung. Überforderung. Ruhelosigkeit. Unsicherheit. Und vor allem: keine Kommunikation von Seiten des Personals. Ja, ich weiß, am Wochenenden passiert nicht viel in so Krankenhäusern. Aber so eine Nichtbeachtung fand ich dann doch etwas krass. Wo bin ich hier? Wo finde ich was? Was muss ich wissen? Was passiert mit mir? Wie läuft das mit dem Essen? Wie geht es weiter?

Nach wenig Schlaf, viel um-mich-selbst-drehen-und-mit-mir-argumentieren habe ich mich irgendwann getraut, zu den Pflegerinnen zu gehen. Und nach meiner Zahnbürste zu fragen. Katzenwäsche im Gemeinschaftsbad. Und dann: nichts. Umhertigern. Versuche, zu lesen. Lässt der Kopf aber nur mühsam zu.

Irgendwann dann doch Gespräch mit einer Ärztin. Sie will mich dabehalten. »WIE BITTE?????« Ich war fassungslos. Für mich war klar, wenn ich freiwillig komme darf ich auch wieder gehen wenn ich will. Aber so einfach, wie ich mir das vorgestellt hatte, war das dann nicht. Sondern ein ganz schöner Kampf. Hat meine gesamten rhetorischen Fähigkeiten, ein Gespräch mit einem zweiten Arzt und die Unterstützung eines kleinen Engels namens Tina gebraucht, damit ich gehen konnte. Auch dafür: Danke!

Denn ich war mir sicher, dass ich aus der schlimsten Krise raus war. Dass ich mir – für den Moment – keine Sorgen mehr um mich machen musste. Natürlich ist mir klar, dass die Ärzte das nicht sehen können. Und ihnen haben bestimmt schon viele Leute irgendwelche Geschichten erzählt. Deswegen war ich um so dankbarer, als ich wieder »frei« war. Und mein Schutzengel hat mich für die nächsten Stunden auch nicht aus den Augen gelassen. Hat sich selbst übertroffen und auf mich aufgepasst.

Das Pendel kommt zur Ruhe

Eine weitere Neuheit an diesem Relapse ist, dass ich mir Zeit genommen habe, wieder auf meinen Recovery-Track aufzuspringen. In der Vergangenheit lief das immer eher so: ein Tag Absturz und Alkohol und Loch und am nächsten soll mein Körper dann bitte laufen gehen, am besten noch 10 km in neuer Bestzeit. Als wäre nichts gewesen.

Das bin ich diesmal anders angegangen.

Bei meiner Therapeutin habe ich das Bild eines Pendels benutzt. Wenn ich all meine Anker fest um mich habe, mein Gerüst mich hält, dann bin ich das Pendel im Ruhezustand. Aber wie wir alle wissen: es braucht nicht viel, um ein Pendel in Schwingung zu versetzen. Und je heftiger es angestoßen wird, desto länger dauert es, bis es wieder zum Ruhezustand zurückkehrt.

Außer man hält es gewaltsam fest, anstatt dass man es in seinem eigenen Tempo wieder zur Ruhe kommen lässt. Und genau das habe ich diesmal anders gemacht. Mich ausschwingen lassen. Auf mich gehört. Auf meinen Körper gehört. Langsam wieder zurück gefunden. Zur Gesundheit. Zur Abstinenz. Zum Essen. Zum Schlaf. Zur Meditation. Zum Yoga. Zum Sport. Zur Selbstfürsorge. Zum Laufen. Zu mir. Zur Welt. Zum Leben.

Es hat gedauert. Der große Relapse hat viele kleine beinhaltet. Auch nach der Krisenstation noch Konsum und Selbstverletzung. Es war nicht einfach, da dieses Mal rauszukommen. Es war ein langes Loch. Ein tiefes Loch. Und ehrlich gesagt bin ich noch nicht hundert Prozent überzeugt, dass es schon ganz vorbei ist. Dass das Pendel schon wieder still steht. Aber ich bin mir dieser Instabilität, der Schwingungen bewusst. Und das ist gerade wohl das beste und wichtigste, was ich tun kann.

Alles neu macht der Relapse

Auch neu ist bei dieser Ehrenrunde: die Stimmen danach sind nicht nur gegen mich. Treiben mich nicht nur vor sich her.

Ja, ich bin wütend und enttäuscht und sauer. Ja, ich bin böse auf mich, weil ich den Fortschritt so vieler Wochen in so wenigen Tagen zerstört habe. Ja, ich finds scheiße was ich meinem Körper angetan habe. Dass ich eine Woche nicht laufen war. Dass in meinem Meditationskalender jetzt Lücken sind. Dass ich nicht nur während, sondern auch in den Tagen nach dem Relapse so höllisch unproduktiv war. Nicht geschrieben habe. Nichts für mein Studium getan habe.

Ja, das ist alles scheiße.

Aber: es ist wie es ist.

Und diese Seite ist neu. Dass es da Stimmen, Parteien in meinem Kopf gibt, die auf meiner Seite sind. Die versuchen, mir verständlich zu machen dass es so schlimm nicht ist. Wenn auch kein Grund um stolz drauf zu sein, so ist es auch kein Untergang bzw. kein »dann-hätten-wir-uns-das-alles-ja-gleich-sparen-können«.

Zum ersten Mal sind da Stimmen in meinem Kopf, die Gegenargumente bringen. Die sagen »Auch Profisportler machen mal eine Woche Trainingspause. Es ist ok, dass du einmal nicht arbeiten konntest, jemand dich vertreten musste. Du wolltest sterben. Du bist krank. Wenn du die Nacht mit Magenverstimmung überm Klo gehangen hättest wäre es auch ganz normal gewesen.«

Diese Gegenpartei ist neu. Und sie ist gut. Und ich bin froh, sie zu haben. Wenn es schon nicht leicht, so macht sie die Situation doch leichter.

Was lernen wir daraus?

Was ihr daraus lernt? Kann ich nicht sagen. Ich hoffe, ihr verliert nicht den Glauben an mich. Daran, dass ich es schaffen kann. Und werde. Und wohl auch irgendwie will.

Was ich daraus lerne? Dass ich wohl noch mehr Hilfe brauche. Mehr Unterstützung. Ein stabileres Gerüst.

Ja, meine Selbstfürsorge, meinen Routine ist gut. Und ich werde sie auch beibehalten. Und im Moment fühle ich mich auch wieder einigermaßen stabil. Aber diesmal werde ich nicht den Fehler machen das, was passiert ist, einfach zu ignorieren. Sondern ich möchte mich vorbereiten. Auf den nächsten Angriff. Möchte vorbauen.

Wie genau das aussieht, weiß ich noch nicht. Ein paar Dinge habe ich aber schon ins Rollen gebracht:

  • ich ziehe das erste Mal nach 15 Jahren Depression und 4 Jahren Therapie in Erwägung, mir medikamentöse Unterstützung zu holen. Bisher habe ich das immer vermieden, nicht weil ich Angst vor der Wirkung habe, sondern weil ich Angst vor den Nebenwirkungen habe. Ich suche gerade vertrauensvolle Hände, in die ich mich begeben kann damit ich dieses für mich große und auch etwas angsteinflößende Thema anpacken kann.
  • Ich suche, ich brauche Highlights. Dinge, die mir wichtig sind und/oder auf die ich mich freuen kann. Darum habe ich mich im Juni für einen Halbmarathon angemeldet. Und auch gleich noch für meinen nächsten Marathon: in Paris. Am 8. April 2018. Ist noch ganz schön weit hin, und ich merke, dass ich auch nähere Ziele brauche. Dieses Wissen jetzt auch wirklich anzuwenden ist das entscheidende. Denn eigentlich wusste ich das ja schon vor Hamburg und Brüssel – und habe mir doch nichts gesucht, was mich weiter antreibt. Ich hoffe, ich habe meine Lektion gelernt.

Die Hoffnung stirbt noch nicht

Ja, ich bin enttäuscht von mir und wütend auf mich. Sauer darauf, dass ich es so hab kommen sehen und es doch passiert ist. Meine natürlich Reaktion wäre jetzt, mich dafür noch weiter fertig zu machen. Mich schon wieder auf den Boden zu drücken, wenn ich noch nicht mal wieder wirklich aufgestanden bin.

Aber ich versuche, ganz »radikal akzeptierend«, ganz achtsam im Hier und Jetzt zu bleiben. Ja, es ist passiert – es war nicht schön – aber ich kann es nicht mehr ändern.

Schlimm wäre, wenn ich die Sache mit Hochmut und Ignoranz abspeisen würde.

Einige Menschen haben mir in den letzten Wochen sehr geholfen. Wissentlich oder unwissentlich. Jetzt aufzugeben, jetzt nichts zu ändern wäre nicht fair ihnen gegenüber. Wenn es mir auch manchmal schwer fällt, für mich selbst weiterzumachen, so haben mir diese Menschen für die nächste Zeit genug Gründe zu geben, zu kämpfen, weiterzumachen, durchzuhalten.

Und das Danke, das hier angebracht ist, kann ich nicht aussprechen, nicht schreiben –  mit keinen Worten dieser Welt. Aber ich kann es zeigen. Indem ich lebe. Einen Fuße vor den anderen setze. Einen Tag nach dem anderen. Mich jeden Tag neu zu entscheiden.

Oder wie ich auf Instagram so gerne schreibe: #onedayatatime #chooserecoveryeverygoddamnday