Mental Health First Aid

Mental Health First Aid

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Mental Health First Aid

Let’s Save Our Souls – Wie funktioniert ‘Erste Hilfe für die Seele’ (Mental Health First Aid)?

Ein Gastbeitrag von Sophia Klose, die in England einen Kurs der Organisation Mental Health First Aid (MHFA) absolviert hat und findet, dass es höchste Zeit wird, diese Ausbildung auch in Deutschland zu ermöglichen. 


Die Stabile Seitenlage kennen die meisten von uns – wenn wir vielleicht auch nicht mehr so im Detail wissen, wie sie geht: so grob haben wir eine Vorstellung was das ist, wann sie gebraucht wird und wozu sie dient. (Und wer sein Wissen auffrischen will: hier ein YouTube Tutorial der Johanniter zur stabilen Seitenlage)

Aber wie hilft man einer Person, die sich in einer psychischen Notlage befindet? Dass man auch hier Erste Hilfe leisten kann, wissen noch deutlich weniger Menschen. Wenn die Psyche ausser Balance gerät, kann es viele Ursachen haben. Manchmal steckt eine „große“ Krise wie Corona dahinter – eine Zeit die für viele von Unsicherheit, Verlust, der Isolation und (Existenz)Ängsten geprägt war. Manchmal kann es aber auch eine vorhandene Erkrankung, eine „kleine“ Krise oder einfach ein Tag sein, an dem man mit dem falschen Fuß aufgestanden ist.

First Aid heißt nicht gleich Notfall

Wichtig ist: ob körperliche oder mentale Erste Hilfe: es müssen nicht immer Extremsituationen sein, mit denen man konfrontiert wird. Ein Pflaster auf den verletzten Finger zu kleben zählt schließlich auch als Erste Hilfe, von Lebensgefahr keine Spur.

Unfälle mit körperlichen Verletzungen kann jeder von uns erleiden. Krisen und hohe psychische Belastungsphasen auch. In Deutschland nimmt sich alle 53 Minuten ein Mensch das Leben, alle 5 Minuten versucht es jemand. Jede:r ist Dritte einmal im Leben von einem Problem mit der psychischen Gesundheit betroffen.

Aber noch wichtiger: wir alle haben eine Psyche, unabhängig vom Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Religion. Und vor allem: wir sind umgeben von Menschen, die auch eine Psyche haben – Freunde, Kollegen, Nachbarn, Kindern, Partnern. Die neben den schönen Gefühlen auch Dinge wie Ängste, Sorgen, Zweifel, Frust, Wut, Trauer erleben.

Genau genommen stehen also die Chancen, einmal Erste-Hilfe für die Seele eines Mitmenschen leisten zu müssen mindestens genau so hoch wie die Chance, irgendwann mal Erstversorgung von körperlichen Verletzungen zu leisten. Für beides gilt: nicht immer weiß man instinktiv was zu tun ist. Darum hilft es, das Helfen professionell zu lernen.

MHFA in England

Ich habe das Glück – ja, in dieser Hinsicht ist man hier tatsächlich im Vorteil – die letzten acht Jahre in England gelebt zu haben. Hier hat sich die Organisation Mental Health First Aid mit ihrem Kursangebot schon gut etabliert. Das Sozialunternehmen wurde im Jahre 2000 in Australien gegründet. Mittlerweile findet man Organisationen mit MHFA Lizenzen in 26 Ländern weltweit.

Die Mission von Mental Health First Aid England: ‘to improve the mental health of the nation through training und campaigning‘. Man hat die Wahl sich zum Ersthelfer für Erwachsene oder Kinder ausbilden zu lassen. Die Kurse dauern jeweils zwei Tage und man erhält ein informatives Kursbuch sowie einen praktischen Pocket-Guide. 

Was mich beeindruckt: die Bevölkerung unterrichtet sich hier zum Teil selbst. Wer an einem der Kurse zum Mental Health First Aider teilgenommen hat, kann sich unter gewissen Bedingungen auch selbst zum Kursleiter ausbilden lassen. So erklärt sich, dass im Jahr 2019 bereits mehr als 400,000 Menschen von Mental Health First Aid England das Zertifikat als Mental Health First Aider erhalten haben.

Ich bin stolz, eine dieser Personen zu sein. Ich arbeite im Londoner Kultursektor und hab bis zu meinem 26. Geburtstag so gut wie kein Wissen über das Thema psychische Gesundheit gehabt. Das ist ein wichtiger Punkt: Man muss kein Psychologe sein, um Erste Hilfe für die Seele zu leisten können.

1. Nachfragen. Mehrmals.

Ähnlich wie bei der körperlichen Erste-Hilfe geht es vielmehr darum, die essentielle Verbindung zwischen der notleidenden Person und den fachlich ausgebildeten Helfern (sprich Notarzt beziehungsweise psychologische Beratung) darzustellen. Es geht darum, Beistand zu leisten und da zu sein, bis die professionelle Hilfe übernehmen kann. 

Was tut man also, wenn ein Angehörige/r, Freund/in, Arbeitskollege/in oder Fremde/r in eine seelische Notlage gerät? Die erste wichtige Frage ist: wie erkennt man, dass eine Person in einer seelischen Notlage ist? Eine körperliche Wunde ist ja oft recht offensichtlich. Wir würden uns selbst nicht scheuen, andere darauf hinzuweisen, wenn etwas wehtut, blutet und behandelt werden muss.

Für unseren verletzten Körper schreien wir, wenn es sein muss, nach Hilfe. Für die leidende Seele eher weniger. Oftmals tun wir das Gegenteil (ich spreche aus eigener Erfahrung): man versucht die inneren Schmerzen so gut es geht zu verbergen. Hier in England sagt man ‘I’m fine’ gefühlte 200 mal am Tag. Manchmal stimmt es, aber oft ist es mehr eine ‘cover-up’ Floskel. Beim zweiten oder dritten Nachfragen würde man vielleicht sich selbst noch einmal korrigieren: ‘Well, actually…’ Das ist ein wichtiger erster Schritt: nachfragen. Mehrmals.


Auch hierzu gibt es aus England ein schönes Video, das wir schon in den sozialen Medien geteilt haben, es aber hier gerne wieder tun weil es einfach so toll passt:


2. Beobachten

Wie man in dem Mental Health First Aid Kurs lernt, gibt es durchaus Indizien, mit denen man inneres Leid äußerlich erkennen kann. Körperliche Anspannung, ein verweintes oder vom Schlafmangel gezeichnetes Gesicht, ein weniger gepflegtes Erscheinungsbild als sonst. Nicht nur an einem Tag, sondern für eine geraume Zeit.

Natürlich kann man trotzdem nicht immer sicher sein, darum sollte man den Mut haben, nachzufragen. Das empfiehlt sich auch angesichts der Tatsache, dass manche Symptome (z.B. Atemnot und Schmerzen in der Brust) sowohl Anzeichen einer Panikattacke als auch eines Herzinfarkts sein können.

In anderen Situationen ist es eindeutiger: eine Person hängt am Brückengeländer, bereit zu springen. Suizidprävention ist ein wichtiges Thema, das ausführlich und auf konstruktive Art und Weise besprochen wird. Ich konnte an mir selbst feststellen, wie bestimmte Denkweisen, Vorurteile und Schamgefühle im Gespräch mit den anderen Kursteilnehmern nach und nach abfielen.

Es war eine bewegende und mutmachende Erfahrung. Wie in allen anderen Kursabschnitten schauten wir auch hierzu einige Fallstudien an. “The Stranger on the Bridge” ist eine inspirierende Geschichte aus London von einem Retter und Geretteten, die sich nun gemeinsam für das Thema Mental Health starkmachen.

3. Rahmen schaffen

Es ist ein tolles Gefühl, wenn Menschen selbst nach Hilfe fragen, weil sie wissen, dass man sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat und helfen kann. Das ist mir bereits mehrmals mit Arbeitskollegen passiert. Ich stelle mir dann erstmal folgende Fragen:

  • Ist gerade ein guter Moment?
  • Muss sofort geholfen werden?
  • Geht es mir selbst gerade gut genug, um zu helfen?

Wenn das nicht der Fall ist, muss ich rausfinden, ob ein anderer Mental Health First Aider übernehmen kann (im Idealfall gibt es an jedem Arbeitsplatz mehrere ausgebildete Ersthelfer/innen).

Um ein Gespräch zu führen, empfiehlt es sich, erstmal einen geeigneten Ort zu finden. Die Büroküche, wo ständig Leute rein und rauskommen, ist weniger ideal. Ein Spaziergang in einer ruhigen Gegend kann eine gute Lösung sein, denn da muss man sich nicht immer in die Augen schauen und kann sinnbildlich geradeheraus reden. Ist die richtige Umgebung gefunden, gilt erstmal: Zuhören, zuhören, zuhören – ohne zu bewerten oder zu hinterfragen.

4. Zuhören

Nachfragen ist aber durchaus erlaubt, gerade wenn etwas unklar ist. Im Englischen spricht man vom ‘Active Listening’ – Aktives Zuhören. Man ist voll und ganz damit beschäftigt, zu verstehen, wie es der anderen Person geht und warum. Also kein schneller Blick aufs Handy, keine gedanklichen Abschweifungen zum Thema: was esse ich heute zum Mittag?.

Diese ungeteilte Aufmerksamkeit signalisiert man durch Körpersprache aber auch durch das Paraphrasieren von dem bereits Gesagten: ‘Du fühlst dich also ausgebrannt / innerlich leer?’ Es geht um Empathie und Verständnis statt Analyse und Auswertung. Statt ‘Ich glaube, das ist gar nicht so schlimm, das musst du nicht so Ernst sehen, das renkt sich wieder ein’ sagt man zum Beispiel: ‘Tut mir Leid das zu hören, das muss echt eine schwierige Zeit sein für dich.’

Das aktive Zuhören lässt sich sehr gut im Alltag üben. Ich habe festgestellt, dass es manchen Menschen mehr und manchen weniger leicht fällt. Aber wir alle können es lernen.

5. Weg weisen

Als Ersthelfer/in ist man kein Problemlöser sondern ein Wegweiser. Der MHFA Kurs verschafft einen guten Überblick über Symptomatiken psychischer Erkrankungen (die man aber auch nach dem Kurs nicht alle auswendig wissen muss). Man lernt, wo es professionellen Hilfsangebote und Anlaufstellen gibt.

Hat man im Gespräch festgestellt, dass die Person schon einen längeren Leidensweg hinter sich hat (mindestens zwei Wochen am Stück in einem Seelentief gesteckt hat), kann man mit dem Wegweisen beginnen. Man kann sowohl auf professionelle psychologische Hilfsangebote verweisen wie den Allgemeinarzt, der eine Erstdiagnose stellen kann und bei Bedarf geeignete Psychotherapeuten oder Psychiater vorschlagen kann.

Für akute Fälle (Äußerungen von Suizidgedanken und konkrete Pläne, sich selbst Schaden zuzufügen), sollte der Rettungsdienst alarmiert werden oder die Nummer eines Krisentelefons gewählt werden. Als Ersthelfer für die Seele lernt man, dass jeder Fall anders ist. Gleichzeitig ist das Angebot an Unterstützung vielfältig. In manchen Fällen kann man auf Selbsthilfegruppen verweisen. Eventuell können Verwandte und Freunde zusätzliche emotionale Unterstützung geben. 

Geben und Nehmen

Als ich vor zwei Jahren selbst aufgrund von einer Kombination aus privaten und beruflichen Stressfaktoren Erfahrungen mit Depression und Angststörungen gemacht hatte, fand ich es sehr schwierig, um Hilfe zu fragen. Das Stigma im eigenen Kopf kann doch stärker sein als man denkt.

Ein erster wichtiger Schritt war das Gespräch mit meinem Manager bei der Arbeit. Er war kein ausgebildeter Mental Health First Aider, aber durch sein empathisches, unvoreingenommenes Zuhören hat er mir trotzdem sehr geholfen. Kurze Zeit später griff ich endlich zum Telefon, um mich nach Gesprächstherapien zu erkundigen. Von da an ging es – wenn auch auf ziemlich holprige Art und Weise – langsam wieder aufwärts.

Und wie es so kommen kann im Leben, wiederholte sich die Situation noch einmal mit umgekehrten Rollen: anderthalb Jahre später war es mein Manager, der in einer schwierigen Lebenslage das Gespräch suchte und ich war gern bereit, zuzuhören. Diese Begebenheit zeigt: wir alle können in bestimmten Situationen Hilfe gebrauchen und in anderen Momenten essentielle Hilfe leisten. In einer Firma sollten nicht nur Manager/innen und Personaler/innen in Mental Health First Aid ausgebildet werden. Denn wer hilft, wenn es ihnen selber schlecht geht?

Je früher, desto besser

Seit Anfang des Jahres hat Deutschland sein erstes Mental Health Cafe, das BERG & MENTAL in München (das allerdings durch die Auswirkungen des Coronavirus-Shutdowns noch immer um seine Existenz kämpft). Und einige wissen es vielleicht schon: am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim arbeitet man daran, Mental Health First Aid Germany aufzubauen. 

Das sind positive Perspektiven. In beiden Fällen hat die Prävention sowie die frühzeitge Intervention einen wichtigen Stellenwert. Leute aufklären und auffangen, lange Leidenswege durch einen offenen Umgang mit dem Thema Mental Health vermeiden. Wie wäre es, in einer Gesellschaft zu leben, in der Erste Hilfe für die Seele genauso verbreitet ist wie Erste Hilfe für den Körper? Die meisten, denen ich diese Frage in Deutschland gestellt habe, sagen: es wäre schön, das zeitnah herauszufinden.


Nachwort von Dominique:

Es ist bereits einige Jahre her, dass ich zum ersten Mal von Mental Health First Aid gehört habe – und es war für mich ein absoluter Augenöffner. Ich habe mich gefragt: warum ist da noch nicht früher jemand drauf gekommen? Warum ist das nicht genau so selbstverständlich und verbreitet, wie „normale“ Erste-Hilfe-Kurse?

Bei meiner Recherche fand ich dann bald heraus, dass am ZI in Mannheim eine Gruppe dran arbeitet, das Konzept mit Hilfe der Australier für den deutschen Markt anzupassen. Auch in Österreich und der Schweiz gibt es Bestrebungen. Der Prozess scheint jedoch ein langwieriger zu sein (der Link oben geht auf eine News aus dem September 2018) . Für manche zu langwierig, so dass es hier und dort schon „Konkurrenz“-Projekte gibt, die ebenfalls an Kursen dieser Art arbeiten.

Ihr seht also: in Deutschland ist die Lage noch etwas durcheinander, aber grundsätzlich ist die Idee schon mal angekommen bei uns.

Eine der größten Hürden wird meiner Meinung nach sein, den Menschen die Angst zu nehmen, dass sich die MHFA-Kurse nur auf extreme Situationen anwenden lassen. Denn wie Sophia ja schreibt, darum geht es nicht. Es geht nicht NUR darum, einen schwer psychotischen Menschen innerhalb weniger Minuten in den Griff zu bekommen oder akut suizidale Menschen zu beruhigen. Viel mehr geht es um den Kollegen, der plötzlich weinend in der Küche sitzt; die Freundin, die sich immer zu viel auflädt und darüber das Essen vergisst; den Schüler, der im Unterricht eine Panikattacke bekommt.

Und am Ende geht es auch um uns selbst. Denn wenn wir lernen, wie wir anderen in schwierigen, emotionalen Situationen helfen können, dann erkennen wir auch bei uns rechtzeitig die Alarmsignale, können uns helfen oder potentielle Ersthelfer in unserer Umgebung ansprechen, die uns zur Seite stehen.

Wir werden verfolgen und uns immer wieder informieren, wie der Stand in Deutschland ist. Und wir sind ehrlich: wir können es kaum abwarten, die erste Mental Health First Aid-Schulung im BERG & MENTAL durchzuführen, die ersten Ersthelfer auszubilden und dieses tolle, richtige und wichtige Konzept weiter zu verbreiten.


Auf der Seite von Pro Mente Austria gibt es zum Einen weitere Tipps zur Ersten Hilfe für die Seele sowie kleine Booklets und Postkarten, die wichtige Punkte zusammenfassen.