Bali – 2| Ankommen im Süden

Lesezeit: 10 minuten

Bali 2| Ankommen im Süden

Während in Deutschland die zu warme Vorweihnachtszeit den Alltag bestimmte, haben wir den Dezember in einer tollen Villa in Strandnähe verbracht. Vier Wochen waren wir hier. An der Südwestküste Balis. Eigentlich immer noch zu kurz um so RICHTIG einzutauchen. Aber lange genug, um auch so etwas wie Alltag zu etablieren. Und viel zu entdecken!


Für mich steht fest: wir haben unsere Zeit in der Villa mit einer geradezu perfekten Mischung aus süßem Nichtstun, arbeitsreichen Tagen und ausführlichen Entdeckungstouren verbracht. Ankommen in der Auszeit – sozusagen. Ja, wir haben ganze Tage in der Villa verbracht. Mit Lesen zum Beispiel. Und in den Pool springen. Und dann haben wir wieder ganze Tage auf dem Roller verbracht. Viel davon geplant haben wir nicht. Aufwachen und beim Frühstück entscheiden, was wir das Leben an diesem Tag mit uns anstellen lassen wollen.

Auf den Straßen von Bali

Das erste Abenteuer hat schon gleich am ersten Tag nach dem Einzug auf uns gewartet: ein Roller. Unsere spanische Vermieterin/Mitbewohnerin/inzwischen Freundin Elena hatte – ohne unser Wissen – organisiert, dass uns ein solches Zweirad in die Einfahrt gestellt wurde. Wir, aus dem Häuschen wie zwei Kinder.

Aus dem Häuschen vor Aufregung. Und Nervosität! Arvid ist so ein Ding zumindest schon einmal gefahren. Ich dagegen bin kompletter Neuling. Wenn man den Verkehr hier auf Bali sieht, dann wird einem schnell klar, dass dies entweder der perfekte, oder der absolut ungeeignetste Ort ist, um das Roller fahren zu lernen. Aber gut, wir wollen die Insel erkunden. Und nicht jedes Mal 450.000 Rupiah (ca. 30€) an Gusti oder einen anderen Fahrer abtreten.

Arvid nach der ersten Roller-Fahrt | Froh und verschwitzt. Zu gleichen Teilen.

Arvid nach der ersten Roller-Fahrt | Froh und verschwitzt. Zu gleichen Teilen.

Also, Helme auf und los. Zum Glück ist unser Haus umgeben von einem ruhigen Wohngebiet. So konnten wir unsere verborgenen Talente erst einmal auf Spielstraßen-Niveau testen. Das ging ganz gut. Aber das Fahren an sich ist ja auch nicht das Problem. Wie Fahrrad. Nur schneller. Kompliziert wird es, wenn andere Verkehrsteilnehmer ins Spiel kommen. Nach einer halben Stunde im Kreis fahren und kichern haben wir den Sprung auf die Straße gewagt. Ab auf die Jalan Batu Belig. Hauptverkehrsstraße hier an der Küste. Ziel: Supermarkt. Etwa 2km entfernt.

Arvid hat die erste Runde übernommen. Ich hinten drauf. Bis wir uns aus der Einfahrt getraut hatten, verging für balinesische Zeitverhältnisse eine halbe Unendlichkeit. Aber schließlich kam eine Lücke, die so groß war, dass wir sie nicht mehr ignorieren konnten. Und schwupps – fahren wir Roller auf Bali! Und nach 10 Minuten waren wir tatsächlich am gewünschten Supermarkt. Schweiß gebadet. Und übers ganze Gesicht strahlend!

Anfangs waren wir besonders glücklich, wann immer es gerade aus ging. Denn das hatten wir schnell raus. Schwieriger waren da schon Kurven, Ampeln, Ein- und Ausfahrten, Abbiegen und solche Späße. Nach einigen Tagen, an denen wir extrem langsam, extrem passiv, extrem zurückhaltend, extrem zögernd und extrem vorsichtig gefahren sind, haben wir bald auf sehr langsam, sehr passiv, sehr zurückhaltend, sehr zögernd und sehr vorsichtig upgegraded. Aber auch bei aller deutschen Disziplin – manchmal hilft einfach nur noch: Losfahren! Denn sonst kommt man gar nicht weiter.

Und ich muss zwei Dinge sagen:

1. Wenn man erstmal drin steckt, dann ist der Verkehr gar nicht mehr so schlimm, wie er von außen aussieht. Alle folgen einer Art System. Einem System ohne offizielle Regeln. Aber jeder macht mit. Und das funktioniert überraschend gut. Man schwimmt mit dem Strom der Roller. Und solange man sich an die wichtigste und einzigste Verkehrsregel hält, die es zu geben scheint, rollt es wunderbar. Diese lautet: alles was vor einem fährt, hat Vorfahrt. That’s it!

2. Wir brauchen so einen Roller. Wenn wir zurück sind. In Deutschland. Unbedingt. Sofort. Auch wenn wir bestimmt am Anfang dank balinesischer Fahrweise für einiges an unfreiwilligem Aufsehen sorgen werden. Aber es ist einfach zu praktisch! Und macht zu viel Spaß, als dass wir diese neuerworbenen Kenntnisse hier auf der Insel zurück lassen wollen.

Meine Villa, Mein Strand, Meine Hood

Sonnenuntergang am heimischen Strand im heimischen Warung. Da ist das glückliche Lächeln wohl vorprogrammiert.

Sonnenuntergang am heimischen Strand im heimischen Warung. Da ist das glückliche Lächeln wohl vorprogrammiert.

Wie schon im ersten Bali-Artikel geschrieben, haben wir uns für die Gegend um Canggu herum hauptsächlich wegen der tollen Angebote auf airbnb, der Nähe zum Strand und einer bunten Gastro- und Shopping-Szene entschieden. Und das war auch genau, was wir gefunden haben. Wobei wir irgendwann festgestellt haben, dass wir eigentlich gar nicht in Canggu, sondern in Kerobokan wohnen. Manchmal hieß unsere Gegend aber auch Seminyak. Oder Nord-Kuta. So sicher ist man sich da nicht. So wichtig ist das vielleicht aber auch gar nicht.

Wohl gefühlt haben wir uns dennoch – auch ohne zu wissen, wo genau wir eigentlich wohnen. Was natürlich zum großen Teil an unserer Villa und ihren Annahmlichkeiten lag. Eine ganze Etage für uns. Zwei-Seiten Balkon. Tolle Vermieterin. Große Küche. Pool. Zwei Mal die Woche Zimmerservice. Ihr versteht – nicht wohlfühlen ging praktisch nicht.

Dazu kamen immer wieder neue Leute ins dritte-Villa Zimmer, das Elena auch über airbnb vermietet. Mal blieben sie nur für eine Nacht, mal für ein paar Tage. Dabei waren ein Pärchen aus Neuseeland, eine Business-Coachine aus England, drei spanische Surferjungs, ein (vermeintlich) schwules Pärchen aus Singapur, zwei Mädels aus Holland – und so weiter. Auf jeden Fall immer wieder anders – und immer wieder interessant.

Man packe auf dieses wunderbare Gesamtpaket noch den kurzen Fußweg zum Strand – und erhalte den Hauptgewinn. Egal ob abendliche Laufeinheit, Sonnenuntergänge im Schwulen-Warung oder lange Spaziergänge – das Leben am Meer kann schon sehr schön sein. Surfer beobachten, Einheimische beobachten, Selfie-Marathone beobachten – ein endloser Spaß.

Yoga-Delivery | Hier in Canggu kann man sich wirklich alles nach Hause liefern lassen. Auch Yoga. Danke, Kartana! Du warst ein super Lehrer!

Yoga-Delivery | Hier in Canggu kann man sich wirklich alles nach Hause liefern lassen. Auch Yoga. Danke, Kartana! Du warst ein super Lehrer!

Und ja, wir haben auch die 24-h-Supermärkte und die große Auswahl an Restaurants jeglicher Klasse, Kategorie und Preisspanne genossen. Und ja, wir waren in einer französische Bäckerei frühstücken, haben uns in einem Day-Spa drei Stunden lang zum Spottpreis massieren lassen und uns eine Yoga-Delivery gegönnt. Eine private Yoga-Stunde, direkt bei uns zuhause. Wir haben also alle Vorteile, die das Hip-Sein einer Gegend nun mal auch so mit sich bringt, in Anspruch genommen.

Bis auf ein überteuertes Edelrestaurant würden wir auch alles genau wieder so machen. Und ganz klar weitermpfehlen. Aber beim Essen gilt: wir ziehen inzwischen jeden einheimischen Warung mit wild möbliertem Speiseraum, zerliebter Küche und kleiner Speisekarte einem 4-Sterne Laden vor. Nicht nur des Geldes wegen. Sondern auch wegen der Atmosphäre. Und den Erlebnissen. Und oft auch schlicht wegen dem hervorragenden Essen.

Den Süden Balis erkunden

Und natürlich hatte unser Zuhause eine tolle Ausgangslage zum Erkunden der Region Südbali. Die Ergebnisse der Stunden vor dem Rechner konntet ihr zum Teil schon begutachten. Oder werdet es bald noch tun können. Die Tage, die wir versteckt hinter Buchseiten oder lümmelnd am Pool und auf unserem Balkon genossen haben, könnt ihr euch gerne vorstellen – wenn ihr euch ein bisschen wegträumen wollt. Von den Entdeckungstouren in drei Himmelsrichtungen möchte ich euch allerdings doch ein wenig erzählen.

Uluwatu-Tempel | Ruhig, grün, beeindruckend, stufig, heiß - der Tempel in Kurzfassung.

Uluwatu-Tempel | Ruhig, grün, beeindruckend, stufig, heiß – der Tempel in Kurzfassung.

Erstmal: Tempel. Die stehen bekanntlich hier auf Bali an jeder Ecke. Stichwort „höchste Tempeldichte der Welt“. Man kann also jeden Tag 20 davon besichtigen – wenn man denn möchte. Unter diesen zahllosen heiligen Gebäuden befinden sich aber ein paar, die etwas sehenswerter sind als der Rest. Dazu zählen ganz klar Tanah Lot und Luhur Uluwatu. Beides Tempel an der Küste. Zu den beeindruckenden Bauten und einer interessanten Geschichte kommt also noch ein herrlicher Ausblick.

In Tanah Lot haben wir zum Glück einen Tipp aus unserem Lonely Planet befolgt. Und sind ganz früh morgens dort gewesen. Noch vor 7 Uhr. Und das war einmalig. Der Parkplatz noch leer – keine Touristenbusse. Die unzähligen Shops, Läden, Stände, Bars und Restaurants – noch zu. Dafür: viel Ruhe, viele Einheimische die den kühlen Morgen für ein erfrischendes Bad im Meer nutzen. Es war herrlich. Je später der Morgen desto zahlreicher die Besucher. Von einem ruhigen Plätzchen aus haben wir dem bunter werdenden Treiben noch ein wenig zugeschaut – bevor wir wieder auf den Roller sind und los.

Denn ganz wichtig hier: Cruisen. Einfach drauf losfahren. Mal links, mal rechts. Wo einen der Wind und die Straßen so hintreiben. Dabei bekommt man dann eine Show zu sehen, die abwechselnd aus sattgrünen Reisterassen, fantastischen Weitblicken über die Insel, ursprünglichen Dörfern und chaotischen Kleinstädten besteht. Wir beide wechseln uns mit dem Fahren und dem Gucken immer ab. Es gibt so viel zu sehen. Und der Popo tut irgendwann weh und freut sich über Abwechslung.

Kindle-Freiheit | Da kann selbst ein unruhiges Persönchen wie ich mal zwei Stunden am Strand liegen.

Kindle-Freiheit | Da kann selbst ein unruhiges Persönchen wie ich mal zwei Stunden am Strand liegen.

Manchmal sind wir aber auch mit einem groben Ziel losgecruist. Und haben uns einzelne Orte oder Gegenden zum Erkunden vorgenommen. Mal ging es an die Ostküste rüber nach Sanur. Wunderbarer Strand, viele bunte Fischerboote – aber noch mehr aufdringliche Händler und Verkäufer. Das kann einem die beste Stimmung vermiesen.

Ein andernmal haben wir uns aufgemacht, den Süd-Süden von Bali zu erkunden, die Halbinsel Bukit. Über den abgefahrenen Fischmarkt bei Jimbaran zum schönen Tempel Uluwatu und weiter an einen ruhigen Strand. An dem wir dann kleben geblieben sind.

Überhaupt haben wir viele Strände gesehen und besucht. Manche rau und wild und ein Traum für Surfer. Andere weiß und palmengesäumt und wie aus dem Prospekt. Andere flach und badetauglich und perfekt für Familien. Wieder andere gesäumt von Restaurants und Bars und ideal zum Sonnenuntergang-Genießen. Es ist wirklich für jeden etwas dabei.

Mit Borderline auf Bali

Während unseren Wochen in Canggu gab es so einige Momente, in denen sich die Borderline bemerkbar gemacht hat. Am häufigsten in Momenten, in denen sich die arme Seite von Bali gezeigt hat.

Es ist vielleicht nicht die beste Idee, als so sensible Person wie ich es nun mal bin, auf eine Insel zu reisen, auf der das soziale Gefälle so krass ist. Und so nah nebeneinander existiert. Es ist wirklich unglaublich: fünf Meter neben einem Luxushotel steht eine Bretterbude, in der eine fünfköpfige Familie lebt – isst, schläft, arbeitet. Aus dem Hintereingang so mancher Touristenhochburg huschen die Köche einmal über die Straße, um sich beim Straßenverkäufer ihr Mittagessen zu kaufen. Alles andere wäre undenkbar und zu teuer. Links der Infinity Pool – rechts der Reisbauer der in der prallen Hitze auf seinem Feld schuftet. Ich könnte ewig so weiter machen.

Und mir tut es jedes Mal weh, diese Bilder zu sehen. Vor allem, weil sie hier zum Alltag, zum Straßenbild gehören. Ein wirkliches Gegenmittel habe ich noch nicht gefunden. Ich möchte diese Gefühle und Gedanken in keinster Weise vollständig loswerden. Es wäre nur manchmal schön, wenn sie mich nicht alle paar Minuten so knallhart von der Seite treffen würden.

Wenn die Emotionen zu stark werden, hilft nur eines: Ablenkung. Nicht mehr hinschauen. Auf was anderes konzentrieren. Und auf Dauer hilft es mit weiterhin, mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Um ihre Sichtweise, ihre Einschätzungen und ihre Geschichte zu hören. Und es hilft mir, mit Arvid gemeinsam diese Erlebnisse zu reflektieren. Sie einzuordnen. Momentan überlegen wir, ob man daraus nicht sogar eine Art Fotoprojekt machen könnte. Mehr wird aber noch nicht verraten.

So schwer mir diese „Anfälle“ den Alltag manchmal machen, so klar werde ich mich davon aber auch in Zukunft nicht abhalten lassen, weiter zu reisen. Weiter zu entdecken. Die Stimmung mag darunter manchmal leiden. Meine persönliche Entwicklung kann davon aber nur profitieren.

Eine Zweite Sache, die hier in Canggu das erste Mal seit dem Start von THE|trip aufgetaucht ist, waren ein paar schattige Gedanken. Und irgendwie ist es hier gerade besonders fies, wenn finstere, depressive Wolken im Kopf auftauchen. Dann kommt sofort der „Aber du bist doch gerade auf Bali! Also eigentlich im Paradies! Wie viele Menschen wären jetzt gerne hier? Wie kann es dir schlecht gehen? Wir kannst du es wagen, nicht permanent vor Glück zu explodieren?“-Wächter. Und der ist natürlich in keinster Weise hilfreich.

Was das angeht, muss ich wohl zwei Dinge lernen: 1. Es ist ok, auch bei Sonnenschein und 35 Grad mal melancholische Momente zu haben. Denn 2. Die gehen auch wieder weg.

Mit diesen beiden Punkten kämpfe ich auch zuhause ziemlich oft. Zu akzeptieren, dass Traurigkeit und Melancholie genau so normal sind, wie ihre angenehmeren Kollegen Freude und Glück. Dass die „negativen“ Emotionen genau so wichtig sind, wie die positiven. Ich esse ja auch nicht immer nur Pizza und Crème Brulée. Das wäre weder ratsam noch gesund. Ein bisschen Spinat und Brokkoli tun dem Körper zwischendrin auch ganz gut.

Mein Problem besteht wahrscheinich darin, dass ich in der Vergangenheit zu oft erlebt und mein Körper somit gelernt hat, dass ein schlechter Gedanken schnell zu einem Expresszug in die Depression werden kann. Trauer bedeutet Absturz bedeutet Loch bedeutet ungesunde Verhaltensweisen. Deswegen hat sich in mir eine Art Abwehr gegen jede Art von negativem Gefühl entwickelt. Ich will die am liebsten gar nicht haben! Wer weiß, ob die wieder weggehen?

Ich bemühe mich also, zu lernen, die positiven Seiten von negativen Gefühlen zu erkennen und zu verstehen. Den Wechsel wertzuschätzen. Zu viel gut ist nicht gut, zu viel schlecht aber auch nicht. Wie bei so vielem liegt die Wahrheit wohl in der Mitte. Nicht nur bei Gefühlen und dem Essen. Die gesunde Mischung – das sagt ja eigentlich schon alles. Ich muss es mir nur noch öfter sagen. Und vielleicht eine Pizza mit viel Gemüse bestellen.



Fazit zu 4 Wochen Süd-Bali

Während ich hier so schreibe rekapituliere ich den Monat in der Villa natürlich nochmal besonders gründlich. Und ich muss sagen: wir hätten es nicht besser machen können. Ich fühle mich angekommen, erholt und motiviert.

Die Rückkehr des Reisepasses | Nach fast zwei Wochen waren wir mehr als froh, unseren Pass mit der gültigen Visums-Verlängerung von unserer Agentur zurückzubekommen.

Die Rückkehr des Reisepasses | Nach fast zwei Wochen waren wir mehr als froh, unseren Pass mit der gültigen Visums-Verlängerung von unserer Agentur zurückzubekommen.

Elena ist die beste Gastgeberin, die man sich vorstellen kann. Unsere Villa samt Umgebung der absolute Volltreffer. Wir haben alles gesehen, was wir uns nicht vorgenommen haben. Und wir haben die Diems Gecarpt so sehr uns der Sinn danach stand.

Selbst den Abschied hat Canggu uns leicht gemacht. Mit Regeneinlagen, die für regelmäßige Überschemmungen vor unserem Schlafzimmer gesorgt haben. Mit Windböen, die uns die Jalousien nur so um die Ohren geworfen haben. Mit Stromausfällen tag und nacht, minuten- und stundenlang. Mit einer allabendlichen Flugameisen-Heimsuchung ohne Entkommen.

Das Gute daran war, dass es uns nicht zu schwer gefallen ist, die Villa zu verlassen. Wir freuen uns auf Nächte, in denen wir nicht alle paar Stunden zum Wasser schieben aufstehen müssen und von herumfliegenden Jalousien wach gehalten werden. Aber den ganzen Rest werden wir wohl schon ein bisschen vermissen. Zum Glück heißt die nächste Station „Balis Berge“. Und wir sind guter Dinge, dass die Natur und Ruhe da oben es schaffen werden, die Wehmut in Schach zu halten.

Borderline im Gepäck

Lesezeit: 8 minuten

Borderline im Gepäck

Schande über mich! In den bisherigen Reiseberichten habe ich vor lauter Begeisterung und schöner Bilder viel zu wenig darüber geschrieben, wie sich meine Borderline Persönlichkeitsstörung im Reisealltag so anstellt. Das hole ich jetzt nach:


Mehr Borderline!

Knapp zwei Monate nach dem Start von traveling | the | borderline habe ich eine kleine Umfrage auf euch losgelassen. Ich wollte wissen, wie die Seite bei euch da draußen ankommt. Aus den zahlreichen ausgefüllten Umfragen, die bei mir eingetrudelt sind, konnte ich vor allem rauslesen, dass ich wohl irgendwie auf einem guten Weg bin.

An dieser Stelle auch ein Danke an jeden einzelnen, der die Umfrage ausgefüllt hat (wenn du jetzt neugiereig geworden bist, die erste Runde verpasst hast und auch noch gerne ausfüllen möchtest, dann hast du hier die Möglichkeit dazu).

Eine Bemerkung gab es, die mir besonders im Kopf geblieben ist. Und zwar, dass in meinen bisherigen Reiseberichten meine Bewältigung der Borderline-Problematik im Reisealltag etwas zu kurz kommt.

Das stimmt wohl. Und ich werde versuchen, das in Zukunft zu ändern.

Aber erstmal habe ich mich gefragt, woran das liegt? Wahrscheinlich spielen hier mehrere Komponenten mit rein.

  • jeden Tag gibt es Momente und Minuten, in denen die Borderline die Oberhand gewinnt. Wenn ich hier schreibe, dann aber meistens über Tage und längere Episoden. Da gehen dir kurzen Momente dann unter.
  • von den „unschönen“ Momenten macht man keine Fotos. So gibt es keine fotografische Unterstützung, für meine Erlebnisse. (dass man sehr wohl auch davon Bilder machen kann, zeigt übrigens ein Film namens Ida’s Diary ganz hervorragend – ein Tipp am Rande)
  • ich bin nicht stolz drauf, wenn ich an Arvid mal wieder meine Stimmungsschwankungen, Launen und schlechten Seiten auslasse. Und natürlich fällt es besonders schwer, über Sachen zu schreiben, auf die man nicht stolz ist.

Das sind Gründe, die mir auf Anhieb eingefallen sind, als ich die Bemerkung gelesen hatte. Aber wie ist es denn nun? Wie zeigt sich meine Borderline hier in Asien im Alltag? Um das in den bisherigen Berichten versäumte etwas nachzuholen gibt es hier nun eine Art Überblick, wie sehr und auf welche Art und Weise meine Persönlichkeitsstörung mich in den letzten Wochen auf Reisen gestört hat.

Mit Borderline auf Reisen

Wie ich schon im Beitrag Und die Achterbahn fliegt mit … ganz am Anfang der Reise erzählt habe, verabschiedet sich die treue Borderline natürlich nicht, nur weil ich mich in einen Flieger setzte und einmal über den halben Erdball fliege. Ganz im Gegenteil. Zuhause hilft mir meine Routine beim täglichen Kampf mit den verschiedenen Symptomen. Durch Singapur laufen, einmal quer durch Malaysia fahren, Kuala Lumpur entdecken – auf Reisen sein – eher keine Routine. Zum Glück. Toll für uns, weil wir viel sehen und erleben. Toll für meine Borderline, weil ich meine Schutzschilder nicht so stark im Auge habe, wie daheim.

Die ersten Tage hat es mich ganz schön durchgerüttelt. Und ich habe schnell gemerkt und entschieden, dass ich etwas ändern muss. Und daraufhin versucht, die zuhause alltäglich absolvierten und fast automatisch ablaufenden Schutzmechanismen wieder hochzufahren. Das heißt also drauf achten, was ich meinem Körper so an Lebensmitteln vorsetze. Wenn möglich täglich zu meditieren. Ausreichend Sport und Bewegung. Und achtsam mit mir und dem Leben umgehe.

Mit der gesunden Ernährung klappt es hier in Asien naturgemäß sehr gut. So viel Gemüse und Reis und Fisch. Vielleicht könnte der Alkohol noch weniger werden. Aber auf das Bier am Strand möchte ich momentan noch ungern verzichten. Auch für die Meditation finde ich immer ein Plätzchen und (mindestens) eine Viertelstunde.

Schwieriger ist da schon der Sport. Besonders, wenn man dank der Temperaturen und fehlenden Strecken nicht dem wichtigsten Sport nachgehen kann: eine Runde laufen! Zum Glück bin ich auf alles vorbereitet und habe mir auf meinen Rechner zahlreiche Sport-DVDs kopiert. Und mir eine tolle App geleistet, die so anstrengend und gut konzipiert ist, dass auch zehn Minuten am Tag völlig ausreichend sind.

Kleiner Haken: für all diese Aktivitäten brauche ich doch ein Mindestmaß an Platz. Gar nicht so einfach. Vor allem wenn man sich zu zweit EINEN mittelgroßen Raum taucht. Hier muss ich mich mal wieder ganz klar bei Arvid bedanken. Wenn er mal wieder das Zimmer räumen muss, damit ich vor mich hin sporteln und schwitzen kann. Aber andererseits: ich sehe den Sport als meine Medizin. Wenn ich Diabetes hätte dann müsste er auch akzeptieren, dass ich mir Insulin spritzen muss. Aber natürlich ist es toll, wenn nicht jedes Mal große Diskussionen losgehen, weil ich mich meiner Selbstfürsorge widmen will, muss, kann und soll.

In Kuala Lumpur hatte ich Glück. Und einen Pool auf dem Dach. Den hatte ich jeden Morgen aufs Neue (fast) für mich alleine. Da oben konnte ich dann in Ruhe schwimmen, meditieren und eine kleine Runde Yoga machen. Und wenn ich dann nach einer Stunde wieder ins Zimmer bin hat Arvid System es auch in eine Art Wachzustand geschafft. Und wir können gemeinsam in den Tag starten. Selbstfürsorge pur!

Wenn ich es dann noch schaffe, meine Tage hier mit Achtsamkeit zu füllen, dann stehen alle Schutzschilder auf grün. Achtsamkeit, also voll im Hier und Jetzt sein, ist für mich auf Reisen vielleicht sogar noch ein klein wenig wichtiger als zu Hause. Einfach weil sie dabei hilft, all diese kostbaren Momente wirklich auszukosten und auch festzuhalten. Und Achtsamkeit heißt für mich auch, dem mächtigen Man-Müsste-Mann öfter mal die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Nicht müssen, sondern in mich reinhorchen, was ich will. Enorm wichtig!

Eine Borderline-Beziehung auf Reisen

Unterwegs in Asien ist Arvid natürlich meine einzige wirkliche Bezugsperson. Klar, wir lernen Menschen kennen und begegnen vielen Leuten. Aber meine Borderline ist ja doch ein bisschen schüchtern. Es braucht immer eine Weile, bis sie sich an der Ratio vorbeischleichen und sich einem Menschen zeigen kann. Das kam auf THE|trip bisher noch nicht vor.

Ich bin fast schon überrascht und vor allem sehr froh, wie harmonisch unsere Partnerschaft bisher auf dieser Reise ist. Kaum Streits, wenn dann kleine Zankereien. Ich bin jeden Tag glücklich, ihn an meiner Seite zu haben. Um mit den Worten des Symptoms N°2 zu sprechen: die Idealisierung lässt der Abwertung gerade keine Chance. Wir haben so lange auf diese Reise hingearbeitet, uns vorgefreut und gewartet. Und uns im Zuge dessen ein halbes Jahr kaum gesehen. Er hat in Schweden gearbeitet, ich in München. Wir haben also ein bisschen was aufzuholen. Das spielt bestimmt auch eine Rolle.

Das heißt nicht, dass Arvid hier in Asien von den Turbulenzen meiner gestörten Persönlichkeit verschont bleibt. Aber was die Gefühle ihm Gegenüber angehen, so gibt es keine Spur von Zweifel an unserer Partnerschaft. Was ja zuhause durchaus vorkommen kann.

Vor den Stimmungsschwankungen und den plötzlichen Wutanfällen bleibt er leider nicht verschont. Die sind einfach zu fest eingebaut. Die bekomme ich auch durch größte Mühe nicht weg. Und die machen mir hier auch am meisten zu schaffen. Wie ich im Post BPD Symptome erklärt | N°6 erzähle, bestimmt dieser Teil von Borderline auch zu Hause einen großen Teil meines Alltags.

Und so passiert es, dass die Borderline Arvid mehrmals am Tag am Kragen packt und mit in die Achterbahn zerrt. Dann wird er angepöbelt, angeschnauzt und abgefertigt was das Zeug hält. Nicht viel anders als zu Hause also. Der Unterschied, zu dem, was ich im Artikel über die affektive Instabilität schon geschrieben habe, liegt wohl am ehesten darin, dass meine Wutausbrüche hier noch viel mehr Fehl am Platz wirken als zu Hause. Und das schlechte Gewissen nochmal ein Stück größer. Wenn ich mit einem kleinen Anfall mal wieder ein schönes Essen ruiniere. Oder die gesamte Tagesplanung in Gefahr bringe.

Die Stimmungsschwankungen sind auf jeden Fall das Symptom, was am treuesten mitreist. Wie ich damit umgehe unterscheidet sich kaum von meinen Strategien zu Hause: versuchen, die Anspannung generell niedrig zu halten, weil die Ausbrüche dann weniger (heftig) sind. Und meiner Ratio einen Schubs geben, dass sie doch bitte da oben für Ordnung sorgen soll. Wir sind doch schließlich im Urlaub, da gibt es also noch weniger Grund, wild durch die Gegen zu pöbeln. Klappt (noch) nicht so gut, wie ich mir das Wünsche. Aber ich arbeite weiter dran.

Der Rest der Symptombande

Was steht noch so auf der schönen Symptomliste?

  • mein Selbstbild und meine Selbstwahrnehmung sind vielleicht ein bisschen stabiler als zuhause. Ich sitze viel und plane meine Zukunft, denke über Möglichkeiten und konkrete Maßnahmen nach.
  • die Impulsivität lebt sich hier ein bisschen weniger stark aus. Oder anders: sie schafft es, sich ganz gut unter dem Denkmantel des Urlaubs zu verstecken. Denn diese Reise ist nun mal auch Urlaub. Da möchte man sich mal was gönnen. Sei es ein Kleidungsstück, was man nicht braucht. Sei es ein Bier zu viel. Oder ein leckeres/teures Essen. Das Ganze läuft aber noch nicht aus dem Ruder. Und zu streng will ich auch nicht mit mir sein. Wie haben unser Budget immer im Blick und schlagen wenn überhaupt meistens sehr bewusst über Strenge.
  • Selbstverletzung (SVV) & Co sind bisher noch nicht hier in Asien aufgetaucht. Die sitzen wahrscheinlich in Deutschland und wundern sich, wo ich hin bin. Tja, zu langsam, Jungs. Der Flieger ist abgehoben. Und ihr müsst nicht auf mich warten. Ich finde es ganz schön ohne euch.
  • die innere Leere hat es auch nicht in den Flieger geschafft. Die sitzt wahrscheinlich daheim neben den Jungs der SVV und langweilt sich. Recht so. Ich bin auch momentan zu voll mit Reiseerlebnissen, Zukunftsplänen und anderen Vorhaben, als dass für die Leere noch Platz bleiben würde.
  • die Wut: siehe Stimmungsschwankungen. Ja, die kommt oft raus.
  • paranoide Vorstellungen. Auch die sind dabei. Das heißt bei mir nicht, dass ich denke, die schwarzen Männer wären hinter mir her oder die Geheimdienste kontrollieren unsere Gehirnströme. Mit Paranoia ist in diesem Zusammenhang zu verstehen, dass ich denke, andere Leute reden über mich. Finden mich blöd. Lästern hinter meinem Rücken. Beobachten mich um dann über mich lachen zu können. Und so fort. Wie zuhause macht mir das auch hier zu schaffen. Verstärkt wird das natürlich dadurch, dass ich die Sprache hier nicht verstehe. Oder nur einige, wenige Brocken. Und wie auch zuhause versuche ich diesen Teil von Borderline mit meiner wunderbaren Ratio in den Griff zu bekommen. Auch das ist ein Skill. Indem man sich bewusst macht, dass die Menschen mit großer Sicherheit über etwas anderes Reden. Und auch wenn sie über mich reden versuche ich mir zu sagen: Sollen sie doch. Gar nicht so einfach, kann ich euch sagen.

Wie war die Fahrt also bisher?

Ich muss sagen: nach den Anfangsschwierigkeiten komme ich eigentlich sehr gut klar. Ich würde sagen, es hat sich mittlerweile auf einem ähnlichen Alltagslevel wie zuhause eingependelt. Es gibt bessere und schlechtere Tage.

Dass es (mittlerweile) so gut ist, liegt aber auch einfach daran, dass wir Tempo aus unserer Reise herausgenommen haben. Vier Wochen an einem Ort. Das ist das Beste, was mir und meiner instabilen Welt passieren kann. Ohne den Stress, den Ortswechsel nun mal mit sich bringen, können wir uns richtig auf diesen Platz hier einlassen.

Ich kann mir genug Zeit dafür nehmen, in mich reinzuhorchen. Worauf habe ich gerade Lust? Was will ich heute machen? Ohne Stress oder Druck, dass wir was verpassen. Oder etwas nicht schaffen. Oder, oder, oder. Dem Man-Müsste-Mann einfach immer wieder die Tür vor der Nase zuschlagen. Das tut meinem Kopf extrem gut.

Denn zu den Gefühlen, die mich gerne übermannen, zählt auch der Neid und eine besondere Form der Angst. Ich kenne das von zuhause. Wenn ich vom Berg runter gehe, möchte ich eigentlich sofort wieder rauf. Wenn ich gerade drei Stunden in der Sonne im Biergarten saß und auf dem Heimweg an zwei weiteren Biergärten vorbei fahre – dann beneide ich die Menschen. Und möchte auch gerne dort sitzen. Obwohl ich genau das gerade getan habe.

Darunter liegt bestimmt die Angst, etwas zu verpassen. Aber sicher auch eine Form der Unsicherheit, die so vielleicht nur bei Borderline-Betroffenen auftaucht: wenn es schön ist, dann will ich das gerne festhalten. Denn ich weiß nie, wie die nächste Station heißen wird und wie es dort aussieht.

Da herum entfaltet sich dann ein kleiner Kampf zwischen Kopf – dem vollkommen klar ist, dass wir eine tolle Zeit hatten und es total ok ist, jetzt vom Berg runter bzw. nach Hause zu fahren – und dem Herz, das Angst davor hat, nie wieder so glücklich zu sein.  Wahrscheinlich schlägt dies in eine ähnliche Kerbe wie der Man-Müsste-Mann. Wenn alle hier am Strand sitzen, dann muss es hier ja schön sein. Warum fahren wir also nach Hause? – Weil wir gerade vier Stunden hier am Strand gesessen, den Carpe ohne Ende gediemt haben, wir jetzt müde sind und eigentlich total gern nach Hause und ins Bett wollen. – Ach so, ok. Danke für’s Erinnern!

In solchen Momenten rufe ich mir einen Satz ins Gedächtnis, den ich vor Jahren mal gehört habe und der mir oft hilft:

Wenn etwas vorbei ist, sei nicht traurig, dass es zu Ende ist. Sondern sein froh, dass es gewesen ist.

Und wie geht die Fahrt weiter?

Über diese ganzen Symptome und Alltags-Special Effects darf eine Sache aber nicht vergessen werden: ich bin und bleibe eine junge Frau, die gerade vier Monate durch Asien reist. Dabei viel erlebt. Sieht. Genießt. Probiert. Und lernt. Die Städte, Länder und eine ganze Welt entdeckt. Eine Reiselustige auf lustiger Reise! Auch das gehört in diesen Artikel. Und auch das muss hier stehen.

In Zukunft werde ich, wie gesagt, versuchen, mehr vom Thema Borderline in jeden neuen Bericht einfliessen zu lassen. Ich muss mir einfach noch öfter noch bewusster machen, dass dies nur zweitrangig ein Reiseblog ist. Oder eigentlich drittranging. Sondern primär ein Alltagsblog. Und gleich dahinter ein Borderline-Blog. Was ziemlich oft das gleiche ist. Auch auf Reisen.

Eine Seite mit, über und für Borderline. Für euch. Für euch Betroffene. Für euch Angehörige. Für euch Interessierte. Wie es in Singapur ist, könnt ihr wahrscheinlich in 100 deutschen und 10 Mal so vielen englischen Blogartikeln lesen.

Wie es aber ist, mit einer treuen Borderline Persönlichkeitsstörung durch Singapur und Asien zu laufen, das könnt ihr nur hier bei mir lesen. Und dafür muss ich es natürlich schreiben.

An dieser Stelle also noch mal ein großes Danke an die oder den, der mich darauf aufmerksam gemacht hat.

Dir ist auch etwas aufgefallen? Oder du wünschst dir was? Schreibe mir, gerne anonym.

BPD Symptome erklärt | N°6

Lesezeit: 9 minuten

Eine Fahrt durch die komplette Gefühlswelt, bitte. Ich hab aber nur fünf Minuten.

BPD Symptome erklärt | N°6

In der Reihe BPD Symptome erklärt möchte ich euch nach und nach anhand der „offiziellen Kriterien“ des DSM die Symptome der Borderline Persönlichkeitsstörung vorstellen. Wie bei allen Beiträgen auf meiner Seite gilt: hier geht es um meine Welt, um meine Erfahrungen, um meine Ansichten. Heute also geht es zu Kriterium N°6:

Instabile Gefühlswelt (affektive Instabilität) mit einem extremen Gefühlserleben und plötzlichen, oftmals heftigen Stimmungsschwankungen, die bereits durch kleinste Ereignisse ausgelöst werden können.

Die Emotionen fahren Achterbahn. Von Lebensfreude Pur geht es rasant weiter zu Wutausbruch Deluxe. Für mich persönlich das Borderline-Symptom, das den Alltag am anstrengendsten macht. Und auch für die Umwelt nicht nur Spaß bedeutet.


Ich finde keinen Anfang. Wie soll ich euch beschreiben, wie sich das Leben für mich anfühlt? Denn das ist meiner Meinung nach das, was ihr in diesem Artikel lesen könnt: Wie sich mein Alltag anfühlt. Dieser Teil von Borderline ist sehr raumgreifend und kräftezehrend. Und fester Bestandteil meinem Lebens. Stimmungsschwankungen und Anspannung – das sind wohl meine zwei größten Gegner. Nein, nennen wir sie nicht Gegner – sondern Herausforderungen.

Gefühle übernehmen die Kontrolle

Dieses Symptom ist das Herz meiner Borderline Persönlichkeitsstörung. Könnte man sagen. Wenn ihr mich fragt „Wie fühlt sich Borderline an?“, dann werde ich wohl sehr viel über dieses Symptom reden. Denn es nervt. Und es ist anstrengend. Und es begleitet mich jeden Tag.

Es passiert von einer Sekunde auf die andere: ich bin entspannt und guter Dinge. Dann: eine Kleinigkeit, eine Gedanke, ein Bild, ein Wort – und ich werde zur wütenden Furie und fauche mein Gegenüber an. Oder anders: ich bin ausgelassen und fröhlich – und in der nächsten Sekunde zu Tode betrübt, könnte heulen und möchte mich verkriechen.

Wie es dann weiter geht, ist ganz verschieden. Entweder, ich kehre zur Ausgangslaune zurück und nach zwei Minuten ist alles vorbei. Oder der kurze Ausreißer übernimmt die Kontrolle und es bleibt so. Das Ganze passiert nicht nur in die negativ Richtung. Genau so kann es anders rum passieren. Dass ich wegen irgendetwas traurig oder bedrückt bin und durch eine Kleinigkeit scheint plötzlich wieder die Sonne in meinem Gehirn.

Auch wenn der April heute nicht mehr das ist, was er mal war, so kann man sich das Innere meines Kopfes vielleicht trotzdem ein wenig ähnlich vorstellen: der April macht was er will. Genau so meine Emotionen. Auf Regen folgt Sonnenschein folgt Gewitter folgt Sonne folgt Sturm folgt Schnee folgt Sonne folgt Nebel. Und wie die Meteorologen bin auch ich völlig ahnungslos, was passieren wird.

Wie oft das denn passiert? Darauf gibt es keine wirkliche Antwort. Ganz selten gibt es einen kompletten Tag ohne. Wenn ich mal so drüber nachdenke, dann komme ich durchschnittlich auf einen heftigen Wechsel pro Stunde, die ich wach bin. Durchschnittlich. Das kann also bedeuten, dass es drei Stunden ohne und dann eine Stunde mit drei Loopings gibt.

Wie sieht das für die Umwelt aus?

Wie bei den meisten Dingen, die mit Borderline zu tun haben, bekommt Arvid die größte Portion von der ganzen Geschichte ab. Und meistens ist es irgendeine Art von Wut. Wenn er mal wieder nicht schnell genug schaltet, denkt, tippt, entscheidet, fährt oder spricht – kann ich aus der Haut fahren. Das heißt nicht, dass Arvid besonders langsam wäre. Sondern mein Kopf fährt einfach meistens auf der Überholspur im Schnellzug. Mein Körper hat sich daran gewöhnt und hält einfach mit. Und ein langsamerer Kopf stellt in diesem Vergleich eine Schranke dar, die nicht schnell genug hoch geht. Oder ein Signal, welches nicht schnell genug umschaltet. Und wegen dem der Zug dann bremsen muss. Was er gar nicht gerne tut. Überhaupt nicht gerne.

Dass ein „normaler“ Kopf und Körper mit diesem Tempo nicht mithalten können, ist niemandes Schuld. Sondern einfach Tatsache. Mein System versucht das Problem zu lösen, indem es Dampf ablässt. Mich einmal rumtoben lässt. Und meine Wut jedes Hindernis aus dem Weg rammt. So dass der Zug wieder Fahrt aufnehmen kann. Wie ich inzwischen gelernt habe, ist diese Wut oft nur Folgegefühl. Und da sie so eine zentrale Rolle in der ganzen Borderline-Thematik einnimmt, ist sie sogar ein eigenes Symptom. Dazu gibt es also einen eigenen Artikel.

Besonders zu spüren bekommt Arvid also die Fälle, in denen die Wut oder einer ihrer nahen Verwandten das Ruder übernimmt. Und meistens auf Grund von Ungeduld. Darüber hinaus kann und will ich aber auch nicht verstecken, wenn Freude, Glückseligkeit und Euphorie oben auf der Leiter Platz genommen haben. Auch das kann anstrengend sein. Vor allem, wenn es aus dem Nichts kommt. Dann springe, hüpfe, gluckse und singe ich gerne mal, was das Zeug hält. Und möchte meistens auch eine schöne Portion Aufmerksamkeit dafür.

Gut, wenn Arvid gerade Lust und Zeit dafür hat. Schlecht, wenn er gerade beschäftigt ist oder keine Lust drauf hat. Die Lust kann ich manchmal besiegen, denn ich kann dann so ansteckend happy sein, dass er nicht lange widerstehen kann. Wenn er aber zum Beispiel am Rechner sitzt und arbeitet und für meine Spirenzchen keine Zeit hat, dann sieht die Sache schon wieder anders aus. Dann kann aus der Fröhlichkeit ganz schnell wieder Wut werden. Ihr seht, ein Teufelskreis.

Wenn mich Trauer oder Niedergeschlagenheit zu Boden ziehen, dann sieht man das schon weniger. Oder weniger deutlich. Wer mich genau beobachtet und ein gutes Gespür dafür hat, dem wird vielleicht auffallen, dass ich ruhiger oder verschlossener werde. Hier tauchen dann auch gerne fiese Gedanken auf, die sonst nur aus ihrem Versteck kommen, wenn die Depression gerade zu Besuch ist.

Das Verhältnis zur Anspannung

Wenn mein extremes Gefühlserleben das Herz meiner Borderline Personality Disorder ist, dann ist die Anspannung der Blutdruck. Beides hängt zusammen. Und beeinflusst sich gegenseitig.

Wie beim Körper gilt: den Blutdruck kann ich beeinflussen. Ihn durch gesundes Verhalten senken. Durch Selbstfürsorge. In meinem Falle also genug Sport und Bewegung, gesundes Essen und nicht zu viel Alkohol, Meditation und Achtsamkeit. Und indem ich mir genug Zeit für mich selbst und für all diese Dinge nehme. So schaffe ich es, dass die Anspannung generell niedriger ist.

Außer über den Blutdruck habe ich auf das Herz dagegen kaum Einfluss. Ich kann ihm nicht sagen „Klopf langsamer!“ oder „Schlag weniger fest!„. Das macht dieses Teil der Krankheit auch so ermüdend. Es gibt einfach kaum etwas, was ich dagegen tun kann. Seit ich meditiere und mehr auf mich achte, ist es definitv schon besser geworden. Aber ich fahre immer noch jeden Tag sehr viele unfreiwillige Runden auf der Gefühlsachterbahn.

Wenn der Blutdruck besonders hoch ist, dann schlägt das Herz auch schneller, kräftiger und wilder. Wenn die Anspannung besonders hoch ist, dann sind die Stimmungsschwankungen häufiger, kräftiger und wilder. Tabletten zum Senken des Blutdrucks gibt es schon. Wie wäre es, mit einer Tablette gegen zu hohe Anspannung? Jemand? Medizin-Nobelpreis?

Andersrum funktioniert das Spiel aber auch: viele wilde Herzschläge können die Anspannung nach oben steigen lassen. Die durch die heftigen Wechsel ausgelösten Gefühlsbrocken aus Scham, Hilflosigkeit und Selbsthass schwimmen durchs System, bis sie abtransportiert werden. Vom Blut. Oder Selbstfürsorge.

Opfer des Systems Borderline

Ich bezeichne mich nicht gerne als Opfer. Nicht als Opfer der Umstände. Nicht als Opfer einer Krankheit. Und schon gar nicht als Opfer meiner Persönlichkeitsstörung. Aber bei dieser ganzen affektiven Instabilität fühlt es sich manchmal doch gehörig danach an.

Erstens gibt es wie gesagt wenig, was ich aktiv dagegen tun kann. Im Gegensatz zu manch anderem Symptom. Und zweitens ist da noch das beschissene Gefühl, wenn man mal wieder seine liebsten Menschen ohne Grund angepöbelt, angeschrien oder beschimpft hat. Einfach nicht schön. Jedes Mal wieder, wenn es passiert, fühle ich mich danach beschämt. Und irgendwie auch hilflos.

Denn es ist ja nicht so, als würde die Achterbahn an mir vorbei fahren und ich ihr zuschauen. Ich sitze drin. Und bekomme alles mit. Bei vollem Bewusstsein. Manchmal ist es wirklich wie im Kino. Ich sehe mich von außen, wie ich in der Bahn sitze und herum katapuliert werde. Aber ich kann nichts machen. Kein Schalter zum Stoppen. Keine Taste zum Zurückspulen. Erst wenn die Achterbahn wieder am Einstieg angekommen ist, kann ich einschreiten. Oder besser: mich schlecht fühlen. Oder entschuldigen. Oder schämen.

Stell dir vor, du sitzt mit deinem Schatz gemütlich beim Essen. Welches super lecker ist. Das Restaurant ist nett. Die Getränke schmecken. Alles ist wunderbar. Und dann, nur wegen einem falschen Wort fährst du plötzlich an die Decke und haust deinem Liebling einen Satz wie „Gott, du bist so unfassbar dumm!“ um dir Ohren. Der Aggressions-Zug ist meistens schnell weitergefahren. Zurück bleibt ein Bahnsteig voller Selbsthass und Scham. Und da musst du dich dann wieder herausmanövrieren. Und kommst dir nur noch bescheuerter vor. Und kannst nicht glauben, dass dein Gegenüber immer noch da ist. Danke, Arvid!

Was hilft?

Wie schon angekündigt: nicht viel. Außer die Anspannung generell niedrig zu halten. Und zu lernen, den Kopf und die Gedanken ein bisschen besser unter Kontrolle zu haben. Deswegen zahlt sich meine ganze Arbeit und Mühe mit Meditation und Achtsamkeit hier definitiv aus. In den letzten Monaten ist es auf schon um einiges besser geworden. Ein paar Mal ist es mir sogar schon gelungen, einen Ausbruch zu verhindern.

Und zwar indem ich tief durchatme. Und mir sage, dass es eigentlich keinen Grund gibt, jetzt auszuflippen. Indem meine Ratio die Kontrolle übernimmt und der restlichen Truppe in meinem Kopf erklärt, dass es jetzt echt keinen Sinn machen würde, rumzuschreien / loszuheulen / aufzuspringen oder was auch immer. Und darüber hinaus vollkommen klar ist, dass ich mich danach mit hoher Wahrscheinlichkeit nur schlecht fühlen werde.

Und es hilft, sich mitzuteilen. Darüber zu reden. Ob mit dem Partner oder mit Freunden. Um sie über die ganze Sache aufzuklären. Damit sie Bescheid wissen. Sich nicht erschrecken, schockiert sind oder zurück brüllen, wenn dein Emotionszug vor ihnen entgleist. Ist auch irgendwie nur fair, sie nicht ins offene Messer laufen zu lassen.

Und versuche auch in Momenten, in denen die Achterbahn mit dir durchgeht, zu kommunizieren. Vor allem wenn das Gefühl in Richtung Traurigkeit geht (s. nächster Absatz). Das macht diesen Prozess für die Aussenwelt nachvollziehbarer. Wenn auch immer noch schwer zu verstehen, aber so holst du deine Angehörigen mit ins Boot.

Und hier noch mein Joker: Ablenkung. Auch ein Skill. Wenn die Bilder und Gefühle zu groß werden, dann spiel ein dummes Handyspiel. Ließ eine Illustrierte. Mach ein Hirn Flick-Flack. Schau dir Katzenvideos auf YouTube an (oder dieses kleine Video – einer meiner absoluten Top-Skills. Ein klein bisschen versaut, aber unfassbar lustig. Wer nicht lachen muss, dem kann ich nicht mehr helfen). Keine kognitiven Herausforderungen. Nur etwas, um erstmal wieder schnell am Einstieg anzukommen.

Was kann ich als Angehöriger tun?

Kurz und knapp: Reden, akzeptieren, genießen. Denn es kommt sehr auf die Emotion an, die gerade das Steuer an sich gerissen hat. Hauptsächlich sind das (bei mir) Kummer, Wut und Freude.

Wenn die Achterbahn in ein Trauertal fährt, dann zeige vor allem, dass du da bist. Und den Betroffenen nicht sofort im Stich lässt, nur weil er jetzt kein Sonnenschein mehr ist.

Versuche vielleicht, ein Gespräch über die Ursache in Gang zu bringen. Um mal ein Beispiel zu nennen: mir gehen Obdachlose, einsame (bzw. einsam aussehende) oder hilfsbedürftige (bzw. hilfsbedürftig aussehende) Menschen, die ich auf der Straße oder sonst wo sehe, immer sehr nahe. In meinem Kopf entspannt sich dann sofort eine komplette Geschichte. Ich sehe Bilder von ihnen, wie sie nachts bei Regen auf der Straße sitzen und Hunger leiden. Oder an Weihnachten alleine vor ihrem kargen Esstisch sitzen. Oder vor Schwäche die Packung Milch nicht mehr aufbekommen. Oder, oder, oder. Um nur mal drei von unzähligen Varianten zu nennen. So was macht mein Kopf nur allzu gerne aus einem objektiv unwichtigen, äußeren Reiz.

Das alles passiert in Sekundenschnelle. Ich fühle mich erdrückt von Schmerz, Mitleid, Hilflosigkeit und Wut. Wenn ich diese Gedanken- und Bilderflut nun ausspreche, hilft mir das einerseits, weil sich nicht alles in mir anstaut. Bis die Mauer irgendwann bricht. Außerdem hilft das darüber reden dabei, die Situation wieder etwas näher an die Realität zu holen. Vielleicht gibt es Dinge, die ich übersehe und die meine Emotionen wieder etwas mehr in die Waage bringen können.

Wenn du die volle Ladung Wut abbekommst, dann gilt wie auch schon bei Symptom N°2: versuche, die Ausbrüche nicht persönlich zu nehmen. Das kann extrem schwer sein. Vor allem, wenn du Zielfläche von blindem Hass und Schimpftiraden wirst. Versuche, das dir an den Kopf geknallte nicht in dein Herz und in dein Hirn durchzulassen. Wie bei einem Tourette-Erkrankten könnten uns Dinge herausrutschen, die wir überhaupt nicht so meinen. Und die wir so überhaupt nicht fühlen.

Stell dir einen knallroten Kobold vor (wie der aus dem fantastischen Disney-Film InsideOut), der in unserem Gehirn sitzt und wie wild an den Hebeln zieht und an den Knöpfen drückt, die für unsere Worte verantwortlich sind. Und hoffe mit uns, dass er schnell wieder von der Ratio-Polizei in seinen Käfig gesperrt wird. Dem nicht sehr ausbruchssicheren Käfig. Vielleicht hilft dir dieses Bild dabei, hinter den Verletzungen weiter die Person zu sehen, die du kennst und die dir wichtig ist.

Und wenn du es schaffst, dann lass keine Worte des Vorwurfs über deine Lippen kommen. Mach dir bewusst, dass wir diese Fahrt nicht freiwillig unternehmen. Das ist wieder kein Freibrief, dass du dir alles gefallen lassen musst. Aber ich kann dir immer wieder aufs Neue sagen: sei dir sicher, die Vorwürfe, die wir uns für jedes dich-verletzende Verhalten machen, wiegen größer und schwerer, als alles, was du jemals sagen könntest.

Ich werde dir nicht raten zu versuchen, die Achterbahn von außen zu steuern. Durch einen Witz oder eine Bemerkung. In manchen Fällen mag das vielleicht sogar funktionieren. Aber genau so gut kann ich mir vorstellen, dass die Sache nach hinten losgeht und der kleine Kobold im Kopf dann erst recht los wütet. Da ist aber bestimmt auch jeder Betroffene, jede Emotion und jede Situation anders. Nächste Möglichkeit: warte einfach zwei Minuten. Die Chancen stehen gut, dass sich das Ganze wieder beruhigt hat.

Was du aber durchaus machen darfst, ist den Betroffenen darauf aufmerksam machen, dass die Achterbahn gerade wohl richtig Fahrt aufgenommen zu haben scheint. So ein Pieks von außen kann manchmal auch helfen, schneller wieder am Einstieg anzukommen. Und auch hier der Joker, der sowohl für Betroffene als auch für Angehörige gilt: Ablenkung. Zum Beispiel durch ein lustiges 9Gag Bild oder YouTube-Video.

Und wenn die Fahrt bergauf geht: genieße sie, solange es geht. Hab Spaß, wenn die Freude regiert. Denn hier zeigt sich auch immer wieder, warum die Bekanntschaft mit einem Borderliner auch toll sein kann. So wie wir unsere Wut ungefiltert raushauen, so passiert es auch mit unserer Lebensfreude und dem Spaß, der in so manchem Moment die Gehirnströme kontrolliert.

Und fürchte dich nicht zu sehr, vor der nächsten Talfahrt. Sie wird kommen. Aber auch da kommen wir wieder raus. Und ihr wisst jetzt wieder einen Teil mehr von meinem emotional-instabilen Alltag. Ende gefunden!


So viel Wut

Beim finalen Durchlesen fällt mir auf, dass ich am meisten über Wut rede. Dabei kommen die Ausbrüche nach oben wahrscheinlich genau so häufig vor. Aber: sowohl für mich als auch meine Umwelt stellt plötzliche, übermäßig gute Laune ein weitaus kleineres Problem dar, als ein Wutausbruch und Schimpfwortsalven. Ist nun mal so. Ich fürchte gerade, dem Symptom nicht gerecht zu werden. Und könnte wohl noch 600 weitere Absätze schreiben.

Deswegen hier nochmal mein beliebtesFakt ist„: ich kann meine Emotionen nicht steuern. Und wie im (ich betone es gerne nochmal) wirklich tollen Animationsfilm „Alles steht Kopf“ sind Freude, Kummer und Wut die drei Parteien, die besonders oft die Kontrolle übernehmen. Wer den Film gesehen hat, kann sich jetzt die bunte Truppe auf einer ordentlichen Portion Drogen vorstellen und dann wisst ihr, wie es da oben zu geht.

Und bevor ich nun wirklich kein Ende finde, hier noch ein sehr schönes und passendes Zitat, welches in der Borderline-Literatur gerne herangezogen wird (wahrscheinlich ist es von Marsha Linehan, sicher bin ich mir aber nicht):

„(…) Wenn wir uns vorstellen, dass Pferde Gefühle sind, dann sitzen ‚normale’ Menschen auf einem alten Ackergaul und die ‚Borderliner’ auf einem Araber-Hengst. Er geht schnell durch, ist schwer zu kontrollieren und lässt sich nur langsam wieder bremsen. Reiten müssen alle Menschen lernen, aber die ‚Borderliner’ müssen Spitzenreiter werden (…)“

Bali – 1| Ankunft in Ubud

Lesezeit: 10 minuten

Bali – 1 | Ankunft in Ubud

Warum wir trotz verlorener Kreditkarte, Haus-Such-Stress und Baustelle vorm Fenster ab der 1. Minute mit einem entspannten Lächeln über die Insel gelaufen sind. Und warum mein Bali-Bild vielleicht genau so falsch war, wie euers. Und warum wir vorhaben, hier noch eine Weile zu bleiben.

Zwei Stunden auf dieser traumhaften Insel hat uns die gemeine Fluggesellschaft geklaut. Frechheit! Deswegen konnten wir auch nix sehen. Auf der Fahrt. Weil Nacht. Der Taxifahrer hat uns beide quasi also blind nach Ubud gebracht. Dieses wunderbare Städtchen gilt gemeinhin als das kulturelle Herz der Insel. Hier, fernab der Küste, umgeben von Reisfeldern kann man Bali von seiner grünen und künstlerischen Seite erleben.

Ankommen in Ubud heißt versonnen Lächeln

Mittlerweile auch ersehntes Ziel vieler Touristen hat sich die Stadt einen Charme erhalten können. Heute wird er ergänzt von einem westlich-alternativen Lebensstil. Damit meine ich zahllose Yogastudios, Heiler, vegane Cafés, Bio-Klamotten und ähnliches. Durch die Straßen laufen gleichermaßen Balinesen, asiatische Touristenguppen mit uniformen Reishüten auf ihren blassen Köpfen und eine wahre Heerschaar an Eat-Pray-Love-Damen mittleren Alters. Möge für viele von ihnen die Hoffnung in Erfüllung gehen, durch das Überstreifen eines wallenden, bunten Leinenkleides und dem fleißigen Absolvieren teurer Yogastunden alle verpassten Chancen und gemachten Fehler ihres bisherigen Lebens in die seelige Vergessenheit zu verbannen.

Das erste Frühstück auf Bali (Gott, wie toll es ist, diesen Satz auch nur zu schreiben!!!) Die Baustelle hinterm Zaun seht und hört ihr zum Glück nicht. Punkt 8 fängt der Hammer an zu Schwingen. Ausschlafen ist nich!

Das erste Frühstück auf Bali (Gott, wie toll es ist, diesen Satz auch nur zu schreiben!!!) Die Baustelle hinterm Zaun seht und hört ihr zum Glück nicht. Punkt 8 fängt der Hammer an zu Schwingen. Ausschlafen ist nich!

Vergessen habe ich auch. Und zwar meine Kreditkarte. Im Geldautomaten. Am Flughafen. Festgestellt am nächsten Morgen. Die ersten Stunden hier auf der Insel hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt. Die Folge waren zahlreiche Besuche der örtlichen Bankfiliale. Und ebenso zahlreiche Telefonate mit verschiedensten Telefonnummer. Alle Mitarbeiter waren äußerst freundlich und überaus hilfsbereit.  Leider konnten sie mir aber wenig helfen. Das lag zum Einen an der doch erschwerten Kommunikation. Englisch ist zwar Weltsprache, aber hier auf der Insel noch lange keine Selbstverständlichkeit. Die Hilflosigkeit hat aber jeder einzelne mit noch einer extra Portion Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft auszugleichen versucht. So kam auf jeden Fall kein Frust auf. Auch die Hilfe unseres einheimischen Fahrers Gusti hat am Ende nichts gebracht. Also habe ich die Karte fast zwei Wochen nach Verlust dann doch sperren lassen. So lange hielt die Hoffnung, dass sie auf verschlungenen Wegen noch zu mir zurück findet. Leider war dies nicht der Fall. Aber man muss ja immer das Positive sehen: wenigstens ist meine Karte nicht in falsche Hände geraten. Keine Abbuchungen vom Konto. Sie hat wohl einfach nur ein frühes Ende in einem balinesischen Geldautomaten gesucht.

Beim Versuch, uns die Stadt zu erlaufen, kam uns das erste Mal der Gedanke, dass zu Fuß gehen hier wirklich gefährlich ist. Sogar deutlich gefährlicher, als sich ohne vorhandene Kenntnisse auf einen Scooter zu setzen. Was wir definitiv ganz bald tun müssen. Bürgersteige gibt es nur vereinzelt. Verkehrsregeln gleich gar nicht. Groß ist die Stadt nicht, aber es gibt so viel zu entdecken. Und sobald man sich von der Hauptstraße wegbewegt, muss man auch nicht mehr um sein Leben fürchten. Sondern ist sofort mitten drin im balinesischen Alltag. Egal, wo man hingeht. Von überall schauen einen entspannt lächelnde Gesichter an. Nach 15 Minuten unterwegs hatten wir uns assimiliert.

Das Nichts-Tun ist hier wahrlich noch süß. Ohne sauer-bitteren Beigeschmack wie bei uns in Deutschland. Kein Kunde da? Was macht der Balinese also? Sitzen. Gucken. Auf dem Handy wischen. Gucken. Mit dem Nachbarn plaudern. Kein aufgesetztes, beschämtes, wiederholtes Wischen über saubere Flächen. Kein verlegenes Ausschauhalten nach etwas zu tun. Wenn’s grad nix gibt, dann gibt’s eben grad nix. Warum nicht locker machen? Sehr beneidenswert.

Die Jagd nach dem Zuhause

Erst die Arbeit – dann das Vergnügen. Also – erst eine Unterkunft für die nächsten Wochen finden, dann weiter Ubud erkunden. Wie schon ein paar Mal geschrieben wollten wir gerne etwas länger an einem Ort bleiben. Wir haben uns erstmal gegen Ubud als Dauerbase entschieden, weil wir beide näher ans Meer wollten. Nach ein wenig Recherche hat sich ziemlich bald die Gegend um Canggu (Tschangu gesprochen) an der Süd(West)Küste der Insel auf den ersten Platz unserer Wunschliste geschoben.

Strandinspektion | Nicht nur das Haus muss gefallen - sondern auch der dazu gehörige Strand. Und das will ordentlichst überprüft werden. Mit Argusaugen!

Strandinspektion | Nicht nur das Haus muss gefallen – sondern auch der dazu gehörige Strand. Und das will ordentlichst überprüft werden. Mit Argusaugen!

Nahe am Meer, viele kleine Läden, aufstrebende Gastroszene – nehmen wir. Also auf airbnb ein paar schmucke Häuser ausgeguckt. Und dann hingefahren. Denn bei so einem langen Zeitraum (und daher auch viel Kohle) wollen wir uns sicher sein. Weil alles andere wenig Sinn macht, haben wir uns für einen Tag einen Fahrer genommen. Von Ubud nach Canggu sind es eigentlich nur 30 km. In Deutschland würde man dafür vielleicht 20 Minuten brauchen. Ok, je nach Verkehr auch mal 30. Hier ist es (mindestens) eine Stunde. Die Straßen. Der Verkehr. Ihr versteht. Aber da wir uns noch nicht satt sehen können an den Straßenszenen und der Natur, die am Autofenster an uns vorbei rauschen, ist das gar nicht so schlimm.

Drei Häuser haben wir uns angeschaut. Eigentlich nur ein paar Straßenzüge auseinander – aber sehr unterschiedlich. Alles „Villen“. Klingt beeindruckend. Heißt aber hier: etwas größeres, und vor allem ziemlich westlich gestyltes Haus. Meistens mit Pool. Aber wir wollen nicht untertreiben: geil waren alle drei. Wir haben dann hauptsächlich nach den Menschen entschieden. Und da fiel die Wahl leicht: im letzten Haus hat uns ein spanischer Sonnenschein namens Elena erwartet. Wellenlänge? Passt! Als sie uns dann noch einen wirklich guten Deal angeboten hat, konnten wir quasi nicht mehr Nein sagen. Umzug in unser neues Domizil: Dienstag, der 24. November. Quasi ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Und dort werden wir also für vier Wochen bleiben.

Bintag ist wie Tempo. Wer Bier will, meint Bintang. Der Traum eines jeden Marketinexperten, wie der Reiseführer es so schön beschreibt.

Bintag ist wie Tempo. Wer Bier will, meint Bintang. Der Traum eines jeden Marketinexperten, wie der Reiseführer es so schön beschreibt.

Das Ganze hat zwar ein paar Stunden gedauert, aber am Nachmittag blieb trotzdem noch etwas Zeit für Sightseeing. Wenn wir schon mal einen Fahrer haben. Der hieß übrigens Gusti (das Balinesische Äquivalent zu Michael. Oder Stefan.) Inseloriginal und echt gutes Englisch. Doppelglück. Er hat uns während der ganzen Fahrt viel erklärt. Zur Kultur. Zur Religion. Zur Entwicklung der Insel. Als die Haussuche abgehakt war, haben wir also gesagt: „Gusti, zeig und was Schönes!“ Und das hat er dann auch: einen riesigen hinduistischen Tempel, in dem lange die Königsfamilie gewohnt hat. Pura Taman Ayun, lautet der wohlklingende Name. Umgeben von einem breiten Wassergraben und einem riesigen Park hätten wir uns darin verlieren können.

Aber Gusti hat ja gewartet. Arvid und ich haben auf jeden Fall gemerkt, dass wir wirklich froh sind, nicht richtig reich zu sein. Wir kämen einfach nicht damit klar, dass jemand für uns arbeitet. Es war uns so unangenehm, dass Gusti immer am Auto geblieben ist, wenn wir uns die Häuser angesehen haben. Ja, es ist sein Job – aber trotzdem. Wir wollten ihn irgendwie immer nicht warten lassen. Also haben wir den Tempel zwar genossen, aber sind auch zügig wieder zum Auto zurück. Und dann auch nach Ubud.

Abwärts auf dem Fahrrad

Zwischen dem ganzen Herumlaufen in und Entdecken von Ubud haben wir uns auch noch einen richtig klassischen Touri-Tag gegönnt. Fahrrad fahren. Bei den Temperaturen zwar eigentlich der Wahnsinn. Aber es ging mit dem Auto ziemlich weit hoch. Und dann mit dem Fahrrad wieder runter. Wenig Anstrengung also. Dafür viel Fahrtwind. Das geht auch bei 35°.

Abenteuerlustiger Blick? Check! Sicherheitsausrüstung? Check? Bremsen? Ähm, ja....

Abenteuerlustiger Blick? Check! Sicherheitsausrüstung? Check? Bremsen? Ähm, ja….

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mein Bild von Bali war immer ziemlich dominiert von Strand und Meer. Wie falsch ich damit lag. Klar, es gibt viel Strand. Und sehr viel Meer. Und selbst da reicht die Bandbreite vom einsamen Sandstrand über schwarzen Lavasand bis zum überfüllten Partystrand. Aber es gibt noch so viel mehr. Ursprüngliche Dörfer, zahllose Tempel (Bali hat die höchste Tempeldichte der Welt), Kunst in allen Variationen. Dazu Natur in allen Formen und Farben. Grüne Reisterrassen, undurchdringlichen Dschungel, steile Felsküsten und: Berge! Besser: Vulkane. Der höchste ist 3142 Meter hoch. Heißt Agung. Und wir wollen da rauf!

Diese Vielfalt bringt dann also mit sich, dass man von der Küste weg quasi immer nach oben fährt. In höhere Lagen. Ubud zum Beispiel liegt 200 Meter über Meereshöhe. Klingt nicht nach viel. Heißt aber, dass es hier immer ein wenig kühler ist als an der Küste. Und je weiter man in die Inselmitte fährt desto höher wird es. Und desto angenehmer wird das Klima.

Zur Fahrradtour wurden wir morgens in einem Kleinbus vom Hotel abgeholt. Nach dem Einsammeln acht weiterer Teilnehmer ging es dann bergauf. Aber nicht nonstop. Sondern mit tollen Stopps. Zuerst an sattgrünen Reisterrassen, an denen wir uns einfach nicht satt sehen können. Dann an einer Plantage, auf der neben Kaffee auch viele einheimische Früchte und Kräuter angebaut werden. Anfassen, Probieren und Lernen. Und dann am Höhepunkt unserer Tour. Mit Ausblick auf ein tolles Panorama. Auf den Vulkan Batur und seinen Kratersee. Atemberaubend. Wir müssen wirklich bald auf einem von diesen Gipfel stehen.

Ein Weg, Respekt zu zeigen: Schilder respektieren und während (einer der zahlreichen) Zeremonien brav Schieben.

Ein Weg, Respekt zu zeigen: Schilder respektieren und während (einer der zahlreichen) Zeremonien brav Schieben.

Und dann ging es auf die Fahrräder. Spannend. Nicht ganz, was wir von zu Hause gewöhnt sind. Touri-Räder eben. Wir haben mal alle Bedenken bei Seite gelassen und uns nicht gefragt, wann die Bremsklötze das letzte Mal gewechselt wurden. Zum Glück war die Strecke so schön, dass wir bald nicht mehr viel darüber nachgedacht haben. Stone, unser Guide, hat wieder mehrere Stops mit uns gemacht. Unter anderem an einem Insel-typischen Dorf. Dort hat er uns viel zum traditionellen Leben der Balinesen erklärt und wie so eine Dorfgemeinschaft funktioniert. Außerdem haben wir fleißigen Frauen beim Ernten von Reis zuschauen können, bei einer Familie richtig balinesisches Essen und eine kleine Tanzaufführung bekommen.

Alles in allem ein wirklich voller Tag. Und sehr lehrreich. Und nicht anstrengend. Dank Fahrtwind. Aber auch der erste richtige Sonnenbrand. Dank Fahrtwind. Hab einfach nicht gemerkt, wie doll die Sonne brennt. Nun ja. Einer musste ja quasi sein. Ist dann aber auch abgehakt.

Die alte Fluch-Segen-Frage des Tourismus

Es ist schon ein sehr zweischneidiges Schwert. Die Beziehung zwischen Balinesen und Touristen. Einerseits sind sie so freundlich, hilfsbereit und nett. Aber andererseits hat der Tourismus ihr altes Leben über den Haufen geworfen. Sowohl Gusti als auch Stone haben beide eigentlich Kunst gemacht. Der eine hat Bilder gemalt, der andere Figuren geschnitzt. Bis vor ein paar Jahren konnten sie davon auch noch leben. Aber mehr Touristen – mehr Konkurrenz – und die Touristen kaufen keine Kunst mehr. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Kunst sein zu lassen und sich anderweitig mit den Touristen zu beschäftigen. Und deswegen führen sie jetzt Leute über die Insel und kutschieren sie herum – anstatt zu malen. Richtig schön ist das nicht.

Ubuds Gastroszene in einem Bild. Vegan ist hier fast schon langweilig.

Ubuds Gastroszene in einem Bild. Vegan ist hier fast schon langweilig.

Und in Ubud konzentriert sich dieses Problem noch mal auf ganz besondere Weise. Uns wurde erzählt, dass es vor 40 Jahren nicht mal Strom in der Stadt gab. Heute gibt es eine westliche Infrastruktur und alles, was des West-Menschen Herz begehrt. Unser Eindruck ist aber, dass das einfach alles viel zu schnell ging. Die Menschen und die Städte sind einfach nicht mehr mitgenommen, mit der Entwicklung und der Modernisierung.

So kommt es also, dass hier die gegensätzlichsten Lebensweisen aufeinanderprallen. Und zwei Ubuds nebeneinander existieren. Ein bisschen wie in Singapur mit der High-Society und der arbeitenden Bevölkerung. Aber doch wieder ganz anders. Jeder findet, was er braucht. Der Expat seine ATMs, hochmoderne Hotels und Restaurants mit W-Lan und Klimaanlage sowie Supermärkte, Shops und Wäschereien, die seinen Vorstellungen entsprechen. All das gibt es auch für die Einheimischen. Nur sieht das ganz anders aus. Und spielt in einer ganz anderen Preisliga. Jeder findet das, was er braucht und erwartet. Und genau das macht wohl auch einen großen Teil der Anziehungskraft aus.

Wir finden nur Schade, dass es kaum Plätze gibt, an denen sich diese beiden Welten mal mischen. Die meisten Westler wollen sich einfach nicht auf ein lokales Niveau „herablassen“, und die Locals können sich die neue Welt nicht leisten. Also existiert beides parallel schön vor sich hin. Im Moment versuchen wir, durch Kellner, Verkäufer und Menschen wie unsere Fahrer und Guides ein wenig mehr in die Kultur einzutauchen.

Wie gern, wie verflucht gern würde ich die Radiowerbung hier von denen mal hören!

Wie gern, wie verflucht gern würde ich die Radiowerbung hier von denen mal hören!

Manchmal nervt es aber auch einfach nur doppelt, so klar als Tourist erkennbar zu sein. Ständig wird man auf der Straße angesprochen und angehupt. „Yes, Taxi?“- „Transport? Maybe tomorrow?“ „Hello?“ – „Yes, Information?“ – „I give you special price!“ – „Yes, have a Look at my Shop? Yes?“ Yes ist auf jeden Fall das erste Wort, was jedes Kind hier lernt. Gefühlt jedenfalls. Am Anfang denken wir noch „Wir verstehen euch ja, ihr müsst auch eure Familien versorgen.“ Aber wenn man keine zwei Meter in Ruhe laufen kann, dann nimmt das Verständnis irgendwann rapide ab. Leider. Zum Glück ist es bisher nur auf der Hauptstraße Ubuds schlimm. In den Seitengassen ist es ruhiger. Also halten wir uns dort einfach mehr auf. Und gehen besonders gerne in Geschäfte, vor denen wir nicht sofort angesprochen werden.

Doppelt verliebt

Verliebt haben wir uns trotzdem. Sowohl in Ubud, als auch in die Insel. Wir können verstehen, dass so viele Ausländer hier kleben bleiben. Denn trotz aller Veränderung haben die Balinesen sich ihr entspanntes und sonniges Gemüt bewahrt. Trotz aller Probleme hat man nie das Gefühl, unwillkommen zu sein oder zu stören. Wie es in den Köpfen der Menschen aussieht, kann ich natürlich nicht beurteilen.

Weh tut dann nur, wenn man sieht, wie wenig Einfühlungsvermögen so manch Besucher an den Tag legt. Respekt vor Kultur und Tradition? Nicht selbstverständlich. Manieren und Höflichkeit? Zu Hause gelassen. Aber ganz im Urlaubs- und Entspannungsmodus versuchen wir, uns nicht zu sehr über unsere Mit-Touristen zu ärgern. Sondern mit gutem Beispiel voran zu gehen. Das führt auch zu gemeinen Gefühlen wie grenzenloser Traurigkeit angesichts so manchen Strandverkäufers. Oder Mitleid mit Menschen wie Gusti und Stone. Aber lieber das, als blind zu sein für diese Seite der Insel.

Da freut sich aber einer! Umzug geschafft, Hausstrand erobert! Bali, wir lieben dich!

Da freut sich aber einer! Umzug geschafft, Hausstrand erobert! Bali, wir lieben dich!

Und wir schmieden einen Plan. Nämlich, dass wir Bali richtig erkunden wollen. Deswegen wird es nach unserer Zeit im Süden für eine Weile ins grüne Herz der Insel gehen. Und danach weiter an die etwas rauere Ostküste. Bevor es dann auf eine der Nachbarinseln geht. Wahrscheinlich eine der Gilis. Kleine Landtropfen, nahe an Balis Nachbarin Lombok gelegen.

Ihr seht, der Kopf und vor allem mein Gewissen reisen immer mit mir. Und meine Emotionen und Gedanken stehen nicht still. Und ich denke viel darüber nach, wie wir es besser machen können. Oder was wir anders machen können. Um den Balinesen vielleicht auch etwas zurück zu geben. Von all dem, was sie uns mit ihrer Mentalität und ihrer schönen Insel bescheren.

Viertel nach Abreise

Lesezeit: 10 minuten

Viertel nach Abreise

Nicht unglaublich und deswegen erst recht wahr: ein Viertel unserer Reise ist nun um. Schon. Oder eigentlich: erst. Es kommt uns deutlich länger vor.

Lektionen On-The-Go

Reisen macht ja bekanntlich klüger. Und ein bisschen was haben wir schon gelernt auf unserer Reise. Dass Singapur nicht repräsentativ für Asien ist, habe ich schon ganz am Anfang ausführlich ausgeführt. Hier haben wir eher erschrocken festgestellt, wie weit die Globalisierung schon voran geschritten ist. Und uns gleich als nächstes gefragt, wie es wohl in 20 Jahren sein wird.

Abflug | Kurz vorm Start von München nach Singapur. Schaut euch diese Gesichter voller Vorfreude und Erwartung an.

Abflug | Kurz vorm Start von München nach Singapur. Schaut euch diese Gesichter voller Vorfreude und Erwartung an.

Aber auch darüber hinaus haben wir schon so einiges lehrreiches am Wegrand unserer Reise aufgesammelt. Zum Beispiel: Ja, je nachdem wo wir hingehen, sind wir weißen Langnasen etwas besonderes. Das zeigen uns viele neugiereigen Augenpaaren und Begegnungen wie mit den beiden Töchtern von Riez’s Freund. Und der Besuch eines Seetempels vor ein paar Tagen: aus dem Nichts spricht mich eine Gruppe von circa 10 bekopftuchten Mädchen an. Vielleicht so 12 Jahre alt im Durchschnitt. Ob sie Bitte, Bitte, Bitte ein Foto mit mir haben können. So süß. Und natürlich gerne. Fünf verschiedne Smartphones werden gezückt. Allgemein nervöse und freudige Aufgedrehtheit bei den Mädels. Und ich mitten drin. Und jetzt auf vielen Facebook-Profilen, wahrscheinlich.

Auch habe ich mir vorgenommen, mich nie wieder über Touristen zu amüsieren, die in Deutschland bei etwas nicht weiterwissen, was für mich selbstverständlich ist. Nicht dass dies bisher einer meiner Haupt- und Lieblings-Zeitvertreibe war. Aber ab und zu erwischt man sich doch schon mal dabei, wie die ratlose Gruppe Asiaten vor dem Fahrkartenschaltern einem ein Lächeln auf die Lippen treibt. Ich bin mir sicher, viele dieser Menschen konnten sich während der letzten vier Wochen schon an mir Rächen.

Wie oft haben wir doof geguckt, doofe Fragen gestellt und uns doof angestellt. Oder uns über Sachen amüsiert, die hier selbstverständlich sind. Ob Ticketschalter, Währung, Supermarktkasse, Speisekarte, Bahnsteige, Verkehrsschilder, Pflanzen, Busse, Tiere, Sprache, Religion, Toiletten oder Angewohnheiten der Einheimischen – wir laufen wieder mit Kinderaugen durch die Welt. Entdecken alltägliches neu, werden überrascht und fragen uns auch manchmal, wie es zu dem ein oder anderen Unterschied gekommen ist. Es ist schön, auf Reisen zu sein.

Lektionen in Demut

Wenn ein Geldautomat da ist – nutze ihn! Wer weiß, wann dich der nächste mit seiner Anwesenheit überrascht und mit seiner Funktionsfähigkeit verwöhnt. Hier gilt wirklich noch: nur bares ist wahres. Also immer VORHER in den Geldbeutel gucken. Und nicht erst, wenn man am Ticketschalter ohne Visa-Symbol steht und der Taxifahrer schon lange umgekehrt ist.

Du bist Tourist, du zahlst. Wir können leider nicht verstecken, dass wir von ganz weit her kommen. Von ganz weit her wo alle ganz doll reich sind. In den Augen der Einheimischen zumindest. Das bedeutet, dass man bei Verhandlungen prinzipiell schon mal schlechte Karten hat. Mit ein wenig Erfahrung, Frechheit und Sprachkenntnissen kann man die Sache wieder ein bisschen ausgleichen. Aber die Preise der Locals werden für uns wohl unerreichbar bleiben.

Was ehrlich gesagt aber auch ok ist. Bei dem Preisniveau hier. Wir haben mal recherchiert, wie hoch der Durchschnittslohn in Indonesien so ist. 2011 lag er bei 250 US Dollar im Monat. Und das ist der Durchschnitt. Händler, Servicekräfte und Taxifahrer leben da noch mal in einer ganz anderen Welt. Da ist uns das Lachen ganz schnell in der Kehle stecken geblieben. Und dann gibt man auch gerne mal zu viel. Ob auf dem Markt, im Taxi oder im Restaurant.

Fähre Festland - Penang | Schaut sie euch an, die zwei müden Gesichter nach einer 10-stündigen, kalten Busfahrt durch die Nacht.

Fähre Festland – Penang | Schaut sie euch an, die zwei müden Gesichter nach einer 10-stündigen, kalten Busfahrt durch die Nacht.

Die Kombination aus den beiden vorherigen Phänomenen führt auch zu einem „Problem“. So nenne ich das jetzt Mal. Viele Indonesier haben (noch) kein wirkliches Verhältnis zu Geldautomaten. Hier geht man zur Bank, um Geld abzuheben. Dass man eine Karte in eine Maschine steckt und aus dieser dann Geld kommt, hat beinahe noch etwas Magisches. Das führt aber leider auch dazu, dass kein Verständnis dafür da ist, dass das Geld nicht einfach so da raus kommt. Sondern man es vorher drauf gearbeitet haben muss. Für die Einheimischen hier ist die Kette „Langnase – Karte – ATM – endlose Geldreserven.“ Und ihnen begreiflich zu machen, dass dem nicht so ist, ist gar nicht so leicht. Wohl auch ein Grund für das Scheitern vieler Beziehungen zwischen Europäern und Indonesiern.

Reiseführer zu. Internet aus. Augen und Ohren auf. Und in sich hinein horchen. Das haben wir definitiv gelernt. Mit erträglich schmerzhaften Konsequenzen in Form von einem mehr oder weniger unfreiwilligen Aufenthalt in Kuala Lumpur. Aber deswegen ein Rat von Herzen:

Wenn ihr die Möglichkeit und die Ressourcen habt, und auch noch der Typ dafür seid – dann lasst die Planung von zu Hause. Wir wissen selber, wie schön es ist, endlos durch Hotel- und airbnb-Inserate zu blättern. Mit google-Maps in entlegene Buchten zu reisen. Und wie viel Spaß es macht, sich mit Hilfe von Tastatur und Maus schon ein bisschen näher Richtung Reise zu tippen und klicken. Aber du weißt erst, wenn du hier bist, worauf du Lust hast. Erst wenn du mitsamt Kopf und Körper angekommen bist, kannst du wirklich wissen, wonach dir der Sinn steht.

Uns ist klar, dass das ein Luxus-Reiseproblem ist. Wenn man nur zwei Wochen hat, dann möchte man keine endlosen Stunden vor Ort mit dem Checken von potentiellen Zielen und Unterkünften verschwenden. Diese Lektion ist also eher für alle Leute, die ähnlich viel Zeit wie wir haben. Die es sich leisten können, mal einen Tag mit Recherche zu verbringen. Und die sich offen halten möchten, wohin die Reise als nächstes geht.

Die Sache mit dem Visa-Run

Bus auf Penang | Seht sie euch an, die zwei blassen Gesichter zwischen all den Einheimischen.

Bus auf Penang | Seht sie euch an, die zwei blassen Gesichter zwischen all den Einheimischen.

Wenn du einen Visa-Run planst, dann sei dir sicher, dass du auch wirklich das Land verlässt. Für uns eine der lustigsten Geschichten bisher. Und vielleicht der unumstößliche Beweis, dass unsere Gehirne langsam den Entspannungs-Modus erreichen.

Aber von vorne: Indonesien gibt einem bei der Einreise ein Visa-On-Arrival (VOA) welches für 30 Tage gültig ist. Dieses kann einmalig für weitere 30 Tage verlängert werden. Insgesamt also 60 Tage Aufenthalt. Dann muss man entweder richtig oganisatorischen und finanziellen Aufwand betreiben, um ein dauerhafteres Visum zu bekommen. Oder man verlässt mal kurz das Land. Und reist gleich darauf wieder erneut ein. Neues VOA. Neue Verlängerung möglich. Das ist dann ein Visa-Run. Das kann man aber natürlich nicht endlos machen. Irgendwann werden die Beamten am Immigration-Schalter unfreundlich.

Wir fühlen uns hier auf Bali sehr wohl. So wohl, dass wir in der Ecke gerne länger bleiben möchten. Auf jeden Fall noch ein paar Wochen. Der Plan steht auch schon. Teilweise sind Unterkünfte schon gebucht. Und nun kommt der Haken: wir waren mal wieder etwas übereifrig und haben über unseren ersten 60-Tage Zeitraum hinaus gebucht. Hmmm, doof das. Was also tun? Bleibt wohl nur ein Visa-Run. Jedenfalls wenn wir nicht all unsere Pläne komplett über den Haufen werfen wollen. Bei der Flugsuche sehen wir, dass wir unter 100 Euro pro Person nicht wegkommen. Und das sind dann Flüge nach Singapur. Freude. Unsere Lieblingsstadt. Vielleicht kann man die ganze Sache ja mit einem Zwischentrip verbinden? Leider sind die Flüge zu allen Zielen, die uns auch nur am Rande interessieren, gleich mal doppelt- bis dreifach so teuer.

Aber dann entdecken wir Sulawesi. Auch so eine Insel. Aber viel weniger touristisch. Noch so richtig ursprünglich – sagt man. Stand sowieso mehr oder weniger noch auf unserer Liste. Toll! Die Flüge dahin sind genau so günstig, wie die nach Singapur! Wird gemacht. Wir buchen Flüge und buchen Unterkünfte um, erstellen einen neuen Masterplan und sind prall gefüllt mit Stolz und Vorfreude. Haben wir doch super gemeistert. Im Reiseführer lesen wir schon mal ein bisschen rum und freuen uns über die niedrigen Preise. In Rupiah. Spätestens hier hätte es bei uns eigentlich klingeln sollen.

Hat es aber nicht. Das musste dann unsere spanische Vermieterin hier in der Villa ein paar Stunden später für uns erledigen. Und dann hat es laut geklingelt. „Sulawesi? But that’s in Indonesia?!“ „……“ Waren wir wirklich so doof? Ja, waren wir. Wir Helden haben tatsächlich vor lauter Flugpreisen und Ziele-Jonglieren irgendwann nicht mehr gerafft, dass Sulawesi genau so Indonesien ist, wie der Boden, auf dem wir gerade stehen. Und wir Pappnasen freuen uns auch noch über die günstigen Preise.

Zum Glück ist unser Gehirn mittlerweile so sehr im Urlaubsmodus, dass uns das Ganze nur kurzfristig minimal geärgert hat. Hauptsächlich haben wir gelacht. Und wie. Unfassbar. Und dann haben wir einen Flug nach Singapur gebucht.


 


 Oft gehört, aber jetzt erst gelernt

Dann gibt es da ja noch so Dinge, die man eigentlich weiß. Zum Beispiel: der Mittagshitze ausweichen. Aber irgendwie haben wir es trotzdem ein paar mal öfter als uns lieb ist geschafft, quasi genau dann loszuziehen, wenn die Sonne gerade ihren Zenit erreicht. Ob es am Jetlag, an der miesen Planung oder Naivität lag – das lasse ich einfach mal so stehen. Fakt ist: Vormittag ist Toll. Nachmittag ist Toll. Abend ist total toll. Mittag: nicht so toll.

Ja, es wird einfach alles auf zwei Rädern transportiert. Auf Bali hauptsächlich auf Rollern. Also, motorisierten. Nicht die zum Anschieben. Egal ob vierköpfige Familie, Hunde, Esstische, Bambusrohre mit vier Metern Länge, 30 Kokosnüsse oder der Kühlschrank. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Und jedesmal gucken wir verdutzt.

Strand auf Penang | Seht sie euch an, die zwei gestressten Gesichter voller Freude, endlich Strand gefunden zu haben.

Strand auf Penang | Seht sie euch an, die zwei gestressten Gesichter voller Freude, endlich Strand gefunden zu haben.

Aber nicht nur die Beladung der Roller, sondern auch deren Fahrer lassen uns oft genug große Augen machen. Es wird wohl noch ein wenig dauern, bis ich mich an das Bild zwölfjähriger Mädchen oder noch jüngerer Jungs auf den Rollern gewöhnt habe – wohl gemerkt: alleine. Nicht als Beifahrer. Ganz normal hier. Vor allem auf dem Land. Anders kommen die Kids nicht zur Schule.

Sprache öffnet einem Tür und Tor. Der Plan mit dem Indonesisch lernen ging zuhause leider nicht so ganz auf. Dafür merken wir hier mit jedem neuen Wort, das wir lernen, was für einen Unterschied solch kleine Gesten machen können. So eine Freude, die bei ganz vielen Indonesiern auftaucht, wenn man auch nur versucht, ihre Sprache zu benutzen. Anscheinend macht der Otto-Normal-Urlauber (vor allem auf Bali) sich nicht einmal die Mühe, auch nur ein Wort Bahasa zu lernen.

Bahasa ist indonesisch für Sprache allgemein, vor allem aber für das „offizielle“ Indonesisch. Daneben gibt es noch zahllose Dialekte. Wobei Dialekt ein wenig missverständlich ist. Hier auf der Insel mussten wir feststellen, dass der „Dialekt“ der Balinesen viel mehr eine ganz eigene Sprache ist. Und sehr wenig bis nichts mit dem Indonesisch zu tun hat, das wir uns mühevoll Wort für Wort anzueignen versuchen.

Beispiel: Terima Kasih ist Bahasa für Dankeschön. Suksuma ist das balinesische Äquivalent dazu. Sehr ähnlich, oder? Und so ist es mit praktisch allem.

Jeder Einheimische hat uns aber bisher dazu geraten, lieber erstmal Bahasa zu lernen. Das versteht eben jeder. Zumindest jeder, der zur Schule gegangen ist. Aber über das ein oder andere Bali-Wort freuen sich die Leute hier schon sehr. Es zeigt halt einfach, dass man sich interessiert und Mühe gibt. Wir haben schon Sätze von uns gegeben, die alle um uns herum zum Lachen gebracht haben. Aber wir wurden verstanden. Und jeder hier hat einen großen Spaß dran, uns dabei zu helfen, zu lernen, wie es richtig geht. Sehr schöne Momente und Erlebnisse hat uns das schon beschert.

Und die letzte Lektion: Lächeln. Kommunikationsmittel Nummer 1. Wenn nix mehr geht, einfach Lächeln. Das öffnet einem erst recht Tür und Tor – und Herzen. Wohingegen ein verkniffener, deutscher Durchschnittsgesichtsausdruck eher für das Gegenteil sorgt. Kann eben wirklich mehr sagen als tausend Worte, so ein Lächeln.

Ist es bisher so, wie ihr euch das vorgestellt habt?

Es ist genau so, wie wir es uns nicht vorgestellt haben!

Und das ist auch gut so. Mehr als ein paar Ideen, Bilder und Annahmen hatten wir sowieso nicht. Es gibt also – Gott sei Dank – keine Ideale, denen wir hinterher jagen müssen. Und die sich dann niemals erfüllen lassen. Wir können uns wirklich auf das einlassen, was uns jeden Tag erwartet. Und das ist bisher größtenteils einfach nur toll. Jetzt gerade, jeden Abend einen neuen, fantastischen Sonnenuntergang am Meer erleben zu können. Nach nur fünf Minuten Fußweg. Zum Beispiel.

Manchen Dinge sind schon so, wie man sie wohl unbewusst erwartet hat. Zum Beispiel so einiges, was mit Sauberkeit und Essen zu tun hat. Aber das gehört für uns dazu. Ist eben anders hier. Also gewöhnen wir uns um. Das mag bei der einen Sache leichter sein als bei der anderen. Aber nichts, was uns umbringt. Um ehrlich zu sein geniessen wir eher, dass uns das mal zum Nachdenken bringt, warum wir manche Dinge in Deutschland denn eigentlich so machen, wie wir sie machen.

Monorail in KL | Seht sie euch an, die zwei amüsierten Gesichter im fremden Nahverkehrsmittel.

Monorail in KL | Seht sie euch an, die zwei amüsierten Gesichter im fremden Nahverkehrsmittel.

Heimweh? Gab es bisher – bei mir jedenfalls – noch nicht. Wenn dann vermisse ich so einige Menschen. Manchmal doller, manchmal weniger doll. Aber weder das Wetter, noch unsere Wohnung, noch irgendetwas anderes daheim habe ich bisher wirklich herbeigesehnt.

Geld? Langsam haben wir uns an unser (doch recht begrenztes) Budget gewöhnt. Gerade Singapur hat da ein paar kleinere und größere Löcher hinterlassen. Aber hier kommt auch eine Sache ins Spiel, die wir beide uns dann doch anders vorgestellt hatten: das Reisen an sich. Zu Hause haben wir zum Beispiel gesagt „Zwischen Singapur und KL haben wir eine Woche. Da reisen wir dann einfach die Küste hoch.“ Jaja, von wegen. Das klingt wirklich einfacher, als es ist. Es geht bestimmt, einfach so. Aber dafür sind wir wohl nicht ganz die Typen. Wir wissen nach einer 10-stündigen Busfahrt wohl einfach zu gerne, was uns erwartet. Sind nicht so spontan und anspruchslos, wie es manchmal vielleicht hilfreich wäre.

Und wir sind wohl einfach eher von der Slow-Travel-Fraktion. Sogar ziemlich eindeutig. Lieber länger an einem Ort bleiben. Richtig ankommen, richtig entdecken. Als alle zwei Tage Rucksack zu packen und weiterzuziehen. Und da geht es auch zurück zum Thema Geld: das Leben hier ist wirklich nicht teuer. Gerade Lebensmittel und Essen gehen sind genau so günstig, wie alle immer erzählen. Was die Reisekasse strapaziert sind viel mehr die Ortswechsel. Flüge, Busse, Taxen, SIM-Karten kaufen und so fort. Das strengt also nicht nur unsere Köpfe, sondern auch unsere Konten an.

Drei Länder. Hunderte Kilometer zurückgelegt. Großstädte, abgelegene Dörfer und atemberaubende Natur gesehen. Dinge gegessen, von denen wir nicht wussten, was sie sind. Und ebenso getrunken. Dabei mal Glück, mal Pech gehabt. Freundschaften geschlossen, tolle Begegnungen gehabt und dabei immer wieder gedacht: Wow! Wir haben noch so viel Zeit vor uns, bevor es wieder zurück nach Deutschland geht. Wir sind gespannt, was noch auf uns zukommt!

all photos by Arvids|iPhone =)

BPD Symptome erklärt | N°5

Lesezeit: 7 minuten

Danke dir, Blut! War schön dich zu sehen.

BPD Symptome erklärt | N°5

In der Reihe BPD Symptome erklärt möchte ich euch nach und nach anhand der „offiziellen Kriterien“ des DSM die Symptome der Borderline Persönlichkeitsstörung vorstellen. Wie bei allen Beiträgen auf meiner Seite gilt: hier geht es um meine Welt, um meine Erfahrungen, um meine Ansichten. Wenn ihr Ergänzungen habt, könnt ihr diese gerne per Mail oder in den Kommentaren mit mir und allen Lesern teilen. Einen Überblick über die Symptome findest du im Grundkurs Borderline. Heute also geht es zu Kriterium N°5:

Selbstverletzungen, Selbstmordversuche oder Androhen von Selbstmord

Das nächste Symptom ist an der Reihe. Diesmal geht es um Selbstverletzung. Heißt in meinem Fall: Ritzen. Hierzu haben Außenstehende oft die meisten Fragen. Und den schwersten Zugang. *triggerwarning* 


Aus den oben genannten Gründen werde ich auch zwei Drittel des „offiziellen“ Symptoms nur am Rande ansprechen. Denn ich habe weder einen Selbstmordversuch hinter mir. Noch habe ich jemals eine Androhung von Selbstmord ausgesprochen. Die Gedanken waren eine Zeit lang da. Aber es gab viel zu viele Gründe, die mich abgehalten haben, so dass es nie in die Richtung einer konkreten Planung ging.

Auch bedeutet Selbstverletzung in diesem Artikel immer Ritzen. Ganz einfach deswegen, weil ich nur darüber aus persönlicher Erfahrung sprechen kann. Andere Arten der Selbstverletzung sind beispielsweise Verbrennen, Verätzen oder scharfe Dinge schlucken.

Warum das Ritzen so viel Aufmerksamkeit und auch so viel Bedeutung zugeteilt bekommt, hat meiner Meinung nach den einfachen Grund, dass man es von außen sehen kann. Im Gegensatz zu den Sachen, die sich nur in den Köpfen von uns Betroffenen abspielen.

Erstmal: Irrtümer aus dem Weg!

Und derer gibt es viele. Gerade beim Thema Selbstverletzendes Verhalten (SVV). Also weg mit den Irrtümern und her mit den Fakten:

  • Jeder Borderliner ritzt sich

Wie ich schon im Grundkurs Borderline geschrieben habe: nicht jeder Borderliner ritzt sich. Und nicht jeder, der sich ritzt – ist Borderliner. Dies ist eine sehr häufige und leider auch sehr falsche Annahme. Sowohl von Außenstehenden, als auch Betroffenen. Und leider auch immer wieder bei medizinischem Personal.

SVV ist keine Voraussetzung für die Diagnose Borderline Persönlichkeitsstörung.

  • Je schwerer das SVV desto schlimmer die Krankheit

Auch eine sehr verbreitete und leider genau so falsche Annahme. Sätze wie „Wow, dein Arm sieht ja krass aus. Du bist also echt ein heftiger Fall!“ sind einfach nur Schwachsinn. Und trotzdem hört man sie leider inner- wie außerhalb von Kliniken.

Jeder Betroffene ist anders. Jeder trägt seine eigene Symptom-Kombination mit sich herum. Bei dem Einen ist die Selbstverletzung besonders ausgeprägt, die nächste trägt jeden Tag unglaubliche Kämpfe mit ihrem Selbstbild aus. Vergleiche, Rangordnungen und ähnliches helfen keinem weiter. Fakt und wichtig ist: der Betroffene leidet.

  • Borderliner ritzen sich, um Aufmerksamkeit zu bekommen

Eher das Gegenteil: viele Betroffene verstecken ihre Narben und Wunden vor ihrer Umwelt. Und deswegen sind es auch Sprüche in diese Richtung („Du willst doch drauf angesprochen werden. Sonst würdest du deinen Arm ja wohl verdecken!“), die immer wieder aufs neue wehtun, wenn man sie mir um die Ohren haut. Denn der Sprechende weiß nicht, wie lange ich an mir gearbeitet habe, um mit den Spuren der Selbstverletzung offen umzugehen. Und wie lange ich die Sache vor der ganzen Welt versteckt habe.

Es mag Fälle geben, in denen das Ritzen AUCH dazu genutzt wird, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Sei es, weil man sie auf anderem Wege nicht erlangen kann, sei es als Hilfeschrei. In den meisten Fällen ist es aber einfach ein Weg, um mit Dingen fertigzuwerden.

Meine Zeit der Selbstverletzung

Ich habe mich über lange Zeiträume selber verletzt. Meine Wahl fiel auf Rasierklingen und meinen linken Unterarm. Zeitweise auch den rechten. Wenn links kein Platz mehr war. Angefangen mit der Sache habe ich irgendwann so mit 16. Ganz genau kann ich das nicht mehr rekapitulieren. Mir ging es schon lange nicht mehr gut. Und dann habe ich bei einem anderen Mädchen diese Narben gesehen. Und das war der Beginn einer langen, feindlichen Freundschaft.

Zu Beginn habe ich es ab und zu gemacht. Dann immer öfter. Irgendwann zweimal täglich. Ich habe es gebraucht. Es ist Routine geworden. Natürlich war mir bewusst, dass das weder besonders gesund noch besonders klug ist, was ich da tue. Aber in dieser Zeit war es für mich der einzige Weg, um die Tage irgendwie durchzustehen. Ich hatte immer eine Rasierklinge im Geldbeutel, um im Zweifelsfalle schnell „reagieren“ zu können. Ohne bin ich nicht aus dem Haus.

Gut, die Sache hat mir also geholfen. Aber ich wollte trotzdem auf keinen – auf Gar. Keinen. Fall., dass irgendjemand etwas mitbekommt. Also hieß es: Arm verstecken. Am Anfang ging das noch mit Schweißbändern oder Ketten. Aber irgendwann kam ich nicht mehr um lange Ärmel herum. Gerade im Sommer natürlich keine Freude. Und Grund für viele Fragen. Ich kann nicht mehr sagen, wie ich diesen Fragen ausgewichen bin. Was genau ich gesagt habe. Aber glaubt mir: man wird kreativ.

Inzwischen zweifle ich ein wenig daran, dass ich über all die Jahre so überzeugend war, wie ich immer geglaubt habe. Ob die Leute zufrieden waren mit meinen Antworten oder insgeheim Vermutungen hatten. Keine Ahnung. Aber es ist müßig, darüber nachzudenken. Fakt ist: Solange ich nicht wollte, dass jemand etwas mitbekommt, hat niemand etwas mitbekommen.

Irgendwann habe ich dann bei manchen Menschen die Mauer etwas gelockert. Allen voran bei meiner Band. Denn ich wusste, dass alle von ihnen das Ritzen zumindest mal ausprobiert hatten. Wenn auch auf einem anderen Level. Ich konnte also auf etwas Verständnis hoffen. Ab diesem Punkt habe ich gemerkt, dass die meisten Leute das Thema einfach ignorieren. Wenn sie es denn bemerken. Was mir ganz recht war.

Ein paar Jahre lange habe ich die Sache also ziemlich konstant durchgezogen. Aber die Phase mit dem täglichen Ritzen hat ein paar Wochen oder Monate gedauert. Dann gab es eine lange Zeit der sporadischen Selbstverletzung. Und irgendwann wurden die Abstände immer größer. In den letzten zwei Jahren habe ich mich vielleicht noch fünf Mal geritzt.

Im Moment sage ich, die Sache ist vorbei. Ja, ab und zu denke ich noch daran, es zu tun. Dann kommen die Skills ins Spiel, die ich während meiner stationären Therapie Hamburg gelernt habe. Am Wichtigsten ist, dass ich es nicht mehr machen WILL. Das ist Grundlage. Und von dort aus kann ich dann nach anderen Dingen schauen, die mir helfen. Mir was Gutes tun, Skills wie Entgegengesetztes Handeln, Fühlen, Denken und Wahrnehmen –  und drüber reden, wenn es mir schlecht geht. Oder schreiben. Mindestens genau so gut.

Ich habe mich dazu entschieden, auf meiner Seite keine Bilder meiner Narben zu posten. Auf manchen Bildern sind sie zu sehen, denn sie gehören zu mir. Aber ich möchte nicht ein weiteres Bild raus in die Netzwelt schicken, was möglicherweise jemanden triggern oder auf andere Weise schädlich beeinflussen kann. 

Und warum nun das Ganze?

Weil es gut tut. Weil es hilft. Weil es funktioniert. Schnell und zuverlässig. Das ist die Kurzfassung.

Es gibt mehrere Gründe, warum Borderliner sich Ritzen. Oder sagen wir, Komponenten. Mal treten sie einzeln auf. Mal mischen sie sich zu dunklen Gewittern heran.

  1. die innere Anspannung loswerden | Egal wodurch sie ausgelöst wurde. Sie soll wieder gehen. Der Druck soll verschwinden. Alles ist zu voll. Der Kopf. Der Körper. Wie eine Tüte, die bis an den Rand gefüllt ist und kurz davor ist, zu platzen. Und wenn es so weit ist, dann möchte man platzen. Den Druck ablassen. Die Tüte piekst man mit einer Nadel. Der Borderliner schneidet die Haut auf. Das Blut entweicht. Der Druck kann raus.
  2. die innere Leere füllen | Ein weiteres zentrales Symptom von Borderline ist das anhaltende Gefühl innerer Leere. Da ist einfach nichts. Der Körper ist wie eine Hülle. Und man versteht nicht, wie das sein kann. Egal wie sehr man in sich reinschaut, der Scheinwerfer findet nichts zum Beleuchten. Und je mehr und verzweifelter man sucht, desto weniger ist da. Das kann bis zu einer Art Panik führen. Und dann will man Bestätigung. Dass man am Leben ist. Dass man keine leere Hülle ist. Dass da etwas in einem drin ist. Also macht man auf, und schaut nach.
  3. der Hass auf die eigene Person | Wenn man sich selber von Grund auf nicht ausstehen kann. Sich nicht leiden kann. Glaubt, nur das Schlechteste verdient zu haben. Und eigentlich noch nicht einmal das. Wenn man sich verabscheut. Innen wie außen. Dann hilft es, sich zu bestrafen. Denn was soll man sonst mit sich selber machen?

Das sind die drei Hauptgründe, sich selber zu verletzen, die ich für mich und an anderen Betroffenen ausgemacht habe. Es mag sein, dass es noch tausend andere Auslöser gibt, sich selber weh zu tun. Aber das sind die, die ich aus eigener Erfahrung kenne.

Wie mit den Wunden und Narben umgehen?

Da braucht man ganz schön viel Feingefühl. Denn ich weiß, dass einige Betroffene überhaupt nicht gerne auf ihre Verletzungen angesprochen werden. Ich habe inzwischen die Stärke, offen mit dem Thema umzugehen. Wenn mir jemand eine Frage stellen sollte, die nicht angebracht ist und die ich nicht beantworten möchte, dann werde ich das immer klar sagen. Meine Narben gehören zu mir. Sie sind nicht schön. Aber sie sind da.

Mein Tipp ist: fragt vorsichtig aber direkt nach, ob die Person über das Thema reden möchte. Wenn es euch wirklich interessiert. Bitte keine heimlichen Blicke oder Spekulationen hinterm Rücken. Für so etwas sind Borderline-Betroffene extrem empfindsam. Wir bekommen das mit. Wenn euch die Person also wichtig ist und ihre Narben vor euch nicht versteckt, dann sind das zwei wichtige Voraussetzungen für einen guten Austausch.

Wenn euch jemand mit frischen Wunden begegnet, dann bitte keine Kommentare wie „Oh Gott, was hast du denn gemacht?“. Wie oben gilt: vorsichtig nachfragen. Vielleicht erwähnen, dass man schon mal etwas von der Borderline Persönlichkeitsstörung gehört hat. Fragen, ob der oder die auch betroffen ist.

Wenn es einen ultimativen Ratschlag gibt , dann ist es, einfach zeigen und anbieten, dass man da ist. Egal ob gleich oder später. Und versucht, nicht zu urteilen und zu denken „Wie kann man so etwas nur tun?“. Die Person hat sich das nicht ausgesucht.

Wenn du naher Angehöriger bist, dann noch ganz wichtig: Mach dir keine Vorwürfe! Nach dem Motto „Hätte ich besser aufgepasst, dann wäre das nicht passiert!“ oder so. Doch. Wäre es. Nur vielleicht etwas später. Du hast keine Verantwortung und bist nicht Schuld!

Was hilft gegen den Drang?

Nein, ich habe nicht den ultimativen Tipp für dich, wie du dich nie wieder ritzt. Mein Kopf funktioniert anders als deiner. Andere Mechanismen, Muster und kaputte Schaltkreise. Deswegen kann mein Rat eher in eine allgemeine Richtung gehen.

Zu allererst: Verstehen, was dahinter steckt. Ein erster Ansatz können die drei Gründe oben sein. Woher kommt die Anspannung? Was kann ich gegen das Gefühl der inneren Leere tun? Warum finde ich mich so unausstehlich?

Diese Dinge alleine zu bearbeiten, ist bestimmt möglich, aber ich rate nicht dazu. Wenn du dich schon lange ritzt oder mit einer anderen Art der Selbstverletzung kämpfst, dann bitte ich dich von ganzem Herzen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Ich habe selber lange gedacht, dass ich das alleine in den Griff bekomme. Und zwischendrin sah es auch immer wieder so aus. Aber früher oder später habe ich es doch wieder gemacht. Und zwar, weil ich nicht an den Ursachen gearbeitet habe. Und das anzupacken, dafür brauchst du einfach erfahrenen Beistand. Oder sehr, sehr viel Mut, Kraft und Ausdauer. Denn egal ob mit oder ohne Hilfe, es wird Rückschläge geben. Und damit diese nicht dazu führen, dass du wieder genau dort landest, wo du angefangen hast, braucht es gewisse Fertigkeiten. Denn man kann die Rückschläge auch dazu nutzen, um noch mehr zu lernen und zu verstehen.

Eine Sache muss hier noch zum Thema Skills stehen: fang nicht einfach an, auf Chillischoten rumzukauen, weil du irgendwo gelesen hast, dass das hilft. Es kann helfen, das stimmt. Aber nur wenn man es richtig macht. Und genau dazu ist das Skills-Training da. Denn Skills brauchen viel Übung, damit sie Dinge wie das Ritzen ersetzen können.

Ich wiederhole mich, aber es ist nun mal zentral und wichtig: Ganz am Anfang muss die Entscheidung stehen, etwas ändern zu wollen. Und dann kann es weitergehen. Oder losgehen. Mit einer Therapie, mit dem Skills-Training, mit der Besserung.