„Ihr habt doch keine Ahnung!“ – Teil 1

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„Ihr habt doch keine Ahnung!“ – Teil 1

So ein kleiner Satz. Mit so großer Wirkung.

Was ich damit meine und wo das Problem liegt, lest ihr im ersten Teil dieses Posts. Genauso wie einen Versuch, das zu ändern.


„Du hast doch keine Ahnung!!!“ Fünf Wörter. Fünf kleine Wörter, die ganz viel kaputt machen können. Ich kann euch gar nicht sagen, wie Leid ich diesen Satz bin. Wie sehr ich ihn gerne packen und aus der deutschen Sprache verbannen möchte. Da versucht jemand, eine Brücke in unsere Köpfe zu bauen und wir nehmen diese verbalen Sprengladung und zerfetzen das Fundament bevor es überhaupt trocken ist.

Und doch habe ich ihn selber schon oft gesagt. Und noch viel öfter gedacht.

Mir fehlen die Worte …

Ja, es ist schwierig zu beschreiben, wie sich Borderline anfühlt; was Depression mit einem macht; was mit dir passiert wenn die Sucht dich fest im Griff hat.

Das erklärt man nicht mal eben so nebenbei.

Und man kann es manchmal auch einfach nicht. Wenn Wille und oder Kraft fehlen.

Mal ist die Kraft da, aber kein Wille. Wenn man gerade eine gute Phase hat. Und man einfach mal nicht dran denken möchte, wie es sich „dort“ anfühlt.

Mal ist der Wille da, aber keine Kraft. Dann möchte man sich so gerne mitteilen. Die eigene Welt erklären. Die Gefühle in Worte packen – aber allein die Vorstellung, einen Satz zu sprechen oder schreiben ist so kraftraubend, dass der Wille hinter der dunklen Wand und im Kopf eingesperrt bleibt.

Mal ist weder Wille noch Kraft da. Wenn man grad mitten drin steckt, dann hat man andere Sorgen als sich erklärende Worte abzuringen. Wenn der Kampf mit diesen Krankheiten dich anstrengt und aussaugt.

Und wenn Kraft UND Wille da sind? Dann fehlt eigentlich nur noch das richtige Gegenüber. Aber auch das ist gar nicht so einfach.

Es gehören immer zwei dazu

Jeder Betroffene hat wohl schon diese Gespräche hinter sich, die zu nichts geführt haben. In denen man versucht, jemandem zu erklären, was im eigenen Kopf passiert. Obwohl man es selber nicht versteht. Und immer wieder dran scheitert, dass es einfach keine richtigen Worte zu geben scheint. Keine Worte die dem Gegenüber wirklich vermitteln könnten, wie es sich anfühlt.

Oft enden diese Gespräche entweder mit gut gemeinten aber schwerst verletzenden Worten von Seiten des Angehörigen wie „Das wird schon wieder!“ – „Du musst einfach ein bisschen mehr Sport machen.“ – „Hast du es denn schon mal mit autogenem Training versucht?“ – „So schlimm kann das doch gar nicht sein – stell dich nicht so an!“ – „Hör doch einfach mit dem Grübeln/Trinken/Hungern/Ritzen auf!“.

Oder sie enden mit resignierten und manchmal ebenso verletzenden Worten von Seiten des Betroffenen. Weil es manchmal einfach die einfachere Lösung ist. Und dann wird sie doch wieder gezückt, die geheime Wortwaffe „Du hast ja keine Ahnung!“

Reinlassen statt Aussperren

Wir Betroffenen wissen, dass diese Worte praktisch niemals ihre Wirkung verfehlen. Wir sind gut darin, mit diesem Satz ganze Gespräche nie stattfinden zu lassen – oder sie zu einem jähen Ende zu bringen. Ich schreibe das nicht, weil ich stolz auf diese Tatsache bin. Oder weil ich sie richtig finde. Im Gegenteil.

Ich möchte, dass sich das ändert! Denn wenn jeglicher Austausch gezielt und mit sofortiger Wirkung unterbunden wird, wenn ernstes Interesse in wenigen Sekunden zerstört wird. Dann ist das nicht nur schade. Sondern es schadet. Demjenigen, dem wir den Satz an den Kopf werfen. Der Beziehung zu diesem Menschen. Und uns Betroffenen.

Was soll jemand ohne Depression, ohne Borderline, ohne Sucht denn darauf antworten?! Denn es stimmt ja. Die meisten Menschen wissen nicht, wie es sich anfühlt eine psychische Erkrankung zu haben. Sie haben wirklich keine Ahnung, wie sich der täglich wiederkehrende Kampf mit dem eigenen Kopf, mit dem eigenen Dasein anfühlt. Gott sei Dank!

Und es ist nicht ihr Fehler, dass das so ist. Und vor allem muss es nicht heißen, dass sie sich nicht dafür interessieren. Ich weiß auch nicht wie es sich anfühlt, ein Flugezeug zu fliegen bis ich mich mit einem Piloten unterhalte – und er mich teilhaben lässt. Ich weiß auch nicht, wie die Welt aus deiner Perspektive aussieht – egal ob du psychisch krank oder gesund, Pilot oder Eisverkäufer bist. Tatsache ist nun mal leider, dass wir nicht in unsere Köpfe gucken können. Also hilft nur eins: reden!

„Du hast doch keine Ahnung!!!“ Hinter dem Satz steckt eine ganze Wand an Gefühlen und Gedanken. Bitterkeit. Wut. Schmerz. Vorwürfe. Erschöpfung. Frust. Manchmal auch Stolz. Nicht verstanden werden wollen. Sich selber für so kaputt und krank zu halten, dass man über den Dingen steht. Genau so gut kann er aber auch zum Selbstschutz dienen.

Aber egal, aus welchem Grund er ausgesprochen wird: in den meisten Fällen folgt darauf betretenes Schweigen und ein holpriger Themenwechsel. Dabei wäre genau jetzt eine tolle Gelegenheit gewesen, die Wand abzutragen. Die schweren, undurchsichtigen Steine durch leichtes Glas zu ersetzen.

Willkommen auf der Grenze

Und wo wir gerade so nett beieinander sitzen lege ich doch gleich mal damit los, die Wand in meinen Kopf ein bisschen durchsichtiger für euch zu machen. Mir ist schon klar, dass das ein ganz schön schwieriges Anliegen ist. Aber davon lassen wir uns nicht entmutigen, oder? Im Grunde ist diese ganze Seite ja ein Blick hinter die Kulissen einer „Gestörten“; der Versuch euch mit Worten eine Brücke in meinen Kopf, in meine Welt zu bauen.

Fangen wir mit der Borderline an. Denn dieser Blog hat ja auch mit Borderline angefangen. Und ich habe auch schon viel über die einzelnen Symptome geschrieben – wie sie sich für mich anfühlen, wie sie sich auf mein Leben auswirken. Die vier, die mich im Alltag am meisten Energie und Kraft kosten sind

Viele Worte werde ich an dieser Stelle gar nicht über dieses Quartett verlieren – besser als in den jeweiligen Artikeln werde ich es kaum beschreiben können. Ich möchte lieber ein bisschen genereller werden.

Denken à la Borderline

Denn ob Wut oder Gefühle oder Selbstwahrnehmung – allen Symptomen gemein ist die Schwarz-Weiß-Problematik. Das Ganz-oder-gar-nicht-Problem, dass so typisch für Borderline ist. Meine Welt besteht aus Extremen. Dinge sind entweder Tiefschwarz oder strahlend weiß. Grautöne gibt es nicht. Liebe oder Hass.

Wenn ich etwas fühle oder denke, dann ist das absolut. Ich finde mich großartig (leider viel zu selten) oder ich verabscheue mich (leider viel zu oft); bin verzweifelt oder euphorisch; depressiv oder glücklich; finde ein Lied/einen Film/einen Ort grandios und möchte nicht loslassen oder verabscheue aus tiefstem Herzen; bin bis zum Rand mit Wut gefüllt – oder komplett leer. Auf einer 45-minütigen Fahrt mit dem Fahrrad kann ich das komplette Gefühlssprektrum mehrmals rauf- und runter durchleben. Von Suizidalität bis zum Glücksrausch.

Und wenn ich auf der einen Seite der Waage stehe, dann sehe ich die andere Seite nicht mehr. Der Abstand dazwischen ist unüberwindbar. Auch wenn ich innerhalb von Millisekunden wieder rüber gehüpft sein könnte. Wenn ich eine gute Phase habe, kann ich mir nicht mehr vorstellen, wie es ist, hoffnungs- und antriebslos auf der Couch zu sitzen. Wenn ich hoffnungs- und antriebslos auf der Couch sitze kann ich mir nicht mehr vorstellen, wie es sich anfühlt, eine gute Phase zu haben.

Gehirn auf der Überholspur

Für mich bedeutet Borderline, keine Kontrolle zu haben. Keine Ahnung wer da am Steuer der Achterbahn sitzt. Ich bin es jedenfalls selten. Meistens fühle ich mich wie ein Spielball meiner Empfindungen, Gedanken und Gefühle. Ich verstehe oft selber nicht, warum ich dies oder jenes gedacht/gesagt/getan habe; kann den heftigen Stürmen in mir drin oft selber keinen Namen geben; versuche einfach nur, irgendwie durchzukommen. Weiß nicht was als nächstes passieren wird.

Und die Achterbahn fährt schnell. Mein Borderline-Gehirn läuft pausenlos auf 200%. Gefühle, Gedanken, Emotionen, Bilder, Reize, Eindrücke – alles prasselt unaufhörlich und ungefiltert in doppelter Stärke auf mich ein. Ohne Pause. Nicht nur von außen. Sondern vor allem auch von innen.

Manche Leute sagen, es ist faszinierend, was ich alles mitbekomme; dass ich so ziemlich jeden Satz höre, der in einem 10-Meter-Radius um mich herum gesagt wird. Ja. Wirklich ganz toll *Sarkasmus*. Nur blöd dass das nicht nur mit Sprache, sondern mit allem anderen so ist – ob das Blicke, Emotionen oder Spannungen sind.

Meine Antennen sind einfach extrem fein eingestellt. Und die Filter im Gehirn, die bei „normalen“ Menschen dafür sorgen, dass nur das ins Bewusstsein tritt, was in dem Moment wichtig ist, die funktionieren bei mir anders. Die lassen mehr durch.

Film im Kopf

Kennt ihr diese Filmszenen, in denen zehn Leute auf eine Person einreden? Oft während der ganze Tross in hohem Tempo endlose Gänge entlang geht. Im Zentrum ist die Hauptfigur, von der alle etwas wissen wollen. Antworten brauchen. Fragen haben. Entscheidungen erwarten. Jeder hält sein Anliegen für das wichtigste, jeder versucht den Rest zu übertönen. Worte fliegen durcheinander. Handys werden in Sichtfeld gehalten. Mit Unterlagen gewunken.

Und dann biegt die Hauptfigur plötzlich ab. Ohne Vorwarnung. Geht durch eine Tür. Im klassischen Fall eine Toilettentür. Geht in eine Kabine. Schließt sich ein. Atmet tief durch. Und der Tross bleibt draußen.

Ein bisschen so ist es in meinem Kopf. Nur dass nicht immer eine Tür da ist, wenn ich eine brauche.

Seit ich das verstanden habe sind mir einige Sachen klarer geworden. Zum Beispiel warum soziale Situationen mit vielen Menschen mich so schnell überfordern. Warum so schnell alles zu viel wird und ich alles dafür tue, um auch nur für einen Moment ausbrechen zu können. Der Dauerflut für ein paar Augenblicke Einhalt gebieten – und sei es, dass ich kurz aufs Klo verschwinde. Es ist einfach zu viel. Ein Berg aus Reizen, der mich nach und nach unter sich begräbt.

Schnitt und aus 

Ich verstehe langsam, warum Meditation mir so gut tut. Warum ich gerne zwei Stunden alleine an der Isar laufen gehe. Warum ich manchmal meine Kopfhörer so laut mache, dass  keine Geräusche von außen zu mir durch können. Es sind Möglichkeiten, meinem überaktiven Kopf ein bisschen Ruhe zu gönnen. Die Reizüberflutung für eine gewisse Zeit zu dämmen.

Für diese Zeit fühlt es sich an, als hätte ich wenigstens eine Hand an der Steuerung der Achterbahn. Dann verliert sie an Tempo. Ich kann mich und das Chaos aus Reizen sortieren. Kraft tanken. Durchatmen.

Und dann kann ich auch wieder eine Weile über endlose Gänge laufen, mich dem Reizgewitter aussetzen. Bis zur nächsten Klopause.

Wenn ich das nicht mache, mir keine Auszeiten nehme, in denen ich sortiere, ruhe, runterfahre – dann steigt die Anspannung. Und die kurze Klopause reicht nicht mehr. Dann müssen drastischere Mittel zum Runterfahren her. Zum Beispiel Selbstverletzung. Oder Alkohol. Oder irgendeinem anderen schädlichen Impuls nachgehen.

Ein Ende der Ahnungslosigkeit

Jetzt aber mal genug von mir. Jetzt geht es um euch.

Zuerst: Meine lieben MitBorderliner und MitBorderlinerinnen, Co-Depressiven und Abhängigen – ich weiß wie verflucht schwer es ist, über all diese Dinge zu reden. Aber es zu tun macht nicht nur eurem Umfeld das Leben einfacher, sondern vor allem auch euch selbst.

Je mehr die Menschen um euch rum über euch und eure Krankheit wissen desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie angemessen mit dem Thema umgehen.

Und ja, es gibt Zeiten da ist es schon ein Erfolg, wenn man wenigstens „Du hast ja keine Ahnung!“ über die Lippen oder die Tastatur bringt. Aber ich rate und bitte euch: versucht einen Weg zu finden, anderen Menschen zu erklären, wie ihr euch fühlt. Sucht Bilder und Wege, die zu euch passen. Sprecht auf Band, macht Notizen, malt euer Innenleben. Baut Brücken.

Und: wartet nicht darauf, dass jemand die richtigen Fragen stellt, das richtige sagt, die richtige Vermutung hat! Nur weil ihr etwas denkt ist das für andere noch nicht sichtbar. Wir gehen viel zu oft davon aus, dass unser Umfeld doch wissen müsste, was in unseren Köpfen vorgeht. Dem ist aber nicht so! Sprecht die Dinge aus, egal wie selbstverständlich sie für euch sind. Für euer Gegenüber können sie ganz neu sein.

Versucht zu zeigen, wenn ihr bereit seid zu sprechen. Eröffnet eurem Umfeld die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Kommuniziert klar, was gerade geht und was nicht. Ihr müsst nicht in einem Gespräch alles erklären. Das geht auch nach und nach. Wichtig ist, dass wir damit anfangen!

Und an alle Angehörigen, Freunde, Partner und Interessierten: seid nicht verletzt, wenn eure Fragen, Sorgen oder Ratschläge nicht immer gleich im richtigen Ziel landen. Wenn ihr den „Du hast doch keine Ahnung!“-Joker zu hören bekommt. Werdet nicht böse oder reagiert eingeschnappt oder mit irgendeiner Floskel.

Atmet tief durch und sagt etwas wie „Es ist ok, wenn du jetzt gerade nicht reden willst. Und wahrscheinlich hast du recht, dass ich keine Ahnung habe wie du dich fühlst. Aber ich würde es gerne wissen. Und wenn du bereit bist, mir zu erklären wie das für dich ist, dann werde ich dir zuhören!“

Borderline ist erst der Anfang

Bevor es in die Werbepause vor Teil 2 geht muss ich noch eine Sache loswerden: Ja, mit Borderline hat alles angefangen. Je mehr ich aber schreibe und mich mit mir und „meinen“ Themen beschäftige desto deutlicher sehe ich, dass da noch so viel mehr ist.

Nicht nur, dass ich auch den anderen beiden Diagnosen, die einen großen Einfluss auf mein Leben haben, mehr Raum hier auf dieser Seite geben muss und will. Sie sind beide sowieso schon immer wieder hier und dort am Rande und in den Texten aufgetaucht – die Depression. Und auch die Sucht – die Abhängigkeit von Alkohol. Da werde ich in Zukunft wohl ein paar Worte mehr drüber verlieren.

Aber da  hört der Spaß noch nicht auf! Denn eigentlich geht es mir darum zu ändern, dass und wie wir über Borderline sprechen, sondern über psychische Krankheiten generell. Das ist ein Grund, warum ich meine Themen in Zukunft wohl immer weiter fassen werde. Natürlich habe ich zu „meinen“ Diagnosen einen besonders guten Zugang. Und sie werden weiter meinen Alltag beeinflussen. Und somit auch das, worüber ich schreibe.

Aber die Sache ist noch viel größer.

Schluss mit dem Tabu

Psychische Erkrankungen sind in unserer Gesellschaft immer noch und weiterhin ein großes Tabuthema – wenn sie nicht gerade in Trendumhänge gehüllt werden und schicke Namen bekommen. Wir reden über alles: Sex, Geld, Religion, unseren charmanten Darm – aber sobald es um die Innereien unseres Kopfes geht, hört der Spaß auf.

Da wird lieber ausgegrenzt statt zusammen gelebt. Lieber geschwiegen als offen geredet. Lieber Ausreden gefunden statt die Wahrheit zu sagen. Kurz gesagt: es wird fleißig und auf allen Ebenen stigmatisiert.

Meiner Meinung nach stecken aber selten böse Absichten dahinter. Sondern Unsicherheit. Unwissen. Nicht wissen, was man sagen soll. Nicht wissen, wie man sich verhalten soll. Dann lieber gar nichts sagen. So tun als ob. Auf Abstand gehen. Wegschauen.

Reden hilft!

In meiner Bachelorarbeit habe ich mich damit beschäftigt, wie man verhindern kann, dass Jugendliche psychisch kranke Menschen stigmatisieren. Und siehe da: es ist gar nicht so schwer. Man muss sie nur aufklären! Ihnen Wissen vermitteln. Fakten liefern, Erklärungsmodelle erläutern, Zusammenhänge aufzeigen. Ermöglichen, offen Fragen zu stellen.

Studien zeigen, dass Schüler, die an solchen, z.T. nur eintägigen Interventionen teilgenommen haben auch Jahre später andere Einstellungen zu Menschen haben, die psychische Probleme haben (ein Grund, warum ich mich bei Verrückt? Na und! engagiere).

Also Leute! Lasst uns was ändern! Lasst uns reden (Betroffene) und zuhören (alle anderen) – und wenn ich alt bin und im Schaukelstuhl sitze möchte ich auf diesen Artikel zurückblicken und fassungslos freudig den Kopf schütteln, wie zurückgeblieben die Menschen doch 2017 waren, wenn es um Psyche ging.

In Teil 2 dieses Post versuche ich, euch eine Ahnung von meiner Depression und meiner Abhängigkeit zu geben. Außerdem gibt’s ein paar mehr Ideen und Vorschläge, wie wir uns gemeinsam aus diesem Dilemma rausholen.

MHE Konferenz Dublin

Lesezeit: 9 minuten

MHE Konferenz Dublin

Meine erste Konferenz – zum Thema Mental HealthUnd dann gleich in Dublin. Hat sich gut angefühlt. Auch wenn dort nicht alles gut war. Warum ich den „Experten“ widerspreche – was mich frustriert, überrascht und gewundert hat – und warum ich noch härter arbeiten will und muss.


Nun war ich also auf meiner ersten Konferenz zum Thema psychische Gesundheit. Einer Einladung von Mental Health Europe (MHE) für ihr Capacity Building Event in Dublin folgend, die vor einigen Wochen in meinem elektronischen Posteingang gelandet ist.

Es war aber kein reines MHE-Event sondern fand in Kooperation mit Mental Health Ireland (MHI) statt, die ihren 50. Geburtstag gefeiert haben. Neben dem Jubiläum war Resilienz das große Thema der Konferenz. Also die psychische Widerstandsfähigkeit – was genau darunter zu verstehen ist, wie man sie stärken kann, und warum jeder Mensch ein bisschen (mehr) davon gebrauchen kann.

Und auch wenn die zweieinhalb Tage in Dublin kein reines Vergnügen waren muss ich euch sagen: es hat sich gut angefühlt. Es hat sich professionell angefühlt. Und genau davon brauche ich mehr. Von diesem Mental-Health-Profi-Gefühl. Was ich damit meine, darunter verstehe und warum das so ist werdet ihr hier lesen.

Vorher

Ich bin auf dem Weg nach Dublin. Zu meiner ersten, echten, offiziellen Mental Health Konferenz. Und ich bin so gespannt. Und ja, auch aufgeregt.

Als der Flieger gerade eben abgehoben hat, waren in meinem Kopf hundert Gedanken, die sich zu Knoten geformt, gegenseitig gejagt haben und auf- und abgesprungen sind; auf meinem Gesicht war ein breites Grinsen und in meinen Augen ein paar Freudentränen. Ja, ich fühle nun mal alles sehr intensiv. Auch wenn ich – mal wieder – gar nicht so genau weiß, was ich da gerade eigentlich so fühle.

Zur Aufregung gesellen sich Vorfreude, Angst, Unsicherheit, Neugier. Und Fragen. Viele Fragen

– Und die Antworten, die ich gefunden habe und die mich gefunden haben:

  • Wie wird die Stimmung sein? – gut, sachlich, familiär, etwas selbstbeweihräuchernd
  • Was für Menschen werde ich treffen? zu wenige in annähernd meiner Altersklasse
  • Wie viele Teilnehmer hat die Konferenz? ca. 200
  • Bin ich da überhaupt richtig? ja, schon
  • Wen werde ich kennenlernen? – Aurelija aus Litauen, Charlotte aus Belgien, Ophélie aus Frankreich, Romina aus Deutschland, Violetta aus Irland
  • Neben wem werde ich beim GalaDinner sitzen? (und hab ich die richtigen Klamotten dafür eingepackt?) – neben Aurelija, mein linker Platz war leer (und: Nein, definitiv nicht)
  • Gibt es eine schöne Laufstrecke für mich? Hätte es gegeben, direkt am Meer, aber mein Knie hat nicht mitgespielt
  • Hab ich genug Visitenkarten? – Mehr als genug
  • Ob da wohl noch andere Menschen aus Deutschland sein werden? Ja, eine: Romina aus der Pfalz
  • Kennen die sich alle schon von den letzten Konferenzen? Für den Großteil muss man das wohl mit „Ja“ beantworten

Jetzt sitze ich hier also im Flieger. Unter mir Wolken. Neben mir blauer Himmel. Und in mir wird es langsam etwas ruhiger – Achtsamkeit sei Dank.

Heute ist noch kein offizielles Programm, das geht erst morgen früh los. In Dublin gelandet heißt es erstmal zum Hotel fahren, abschmeißen und schnell wieder los. Ein bisschen was will ich ja schließlich von er Stadt sehen. Und mir bleibt nur der Sonntag dafür.

Erst wird also im wahrsten Sinne des Wortes eine sanfte Landung werden.

Nachher

Gleiches Spiel, nur umgekehrt. Gerade sitze ich im Flieger nach München. Das Meer und die Wolken unter mir. Der Himmel über mir. Und ein nicht endender Sonnenuntergang neben mir.

Es tobt nicht ganz so viel Euphorie und Glücksgewusel durch mich wie beim Hinflug. Dafür noch mehr Gedanken. Eindrücke, die verarbeitet werden wollen. Vorträge, die in die Regale meines Gehirns sortiert werden wollen. Meinungen, die geformt werden wollen. Zusammenhänge, die gefunden werden wollen.

Also schreibe ich.

Erstmal so allgemein: Ich bin super froh, dass ich zu dieser Konferenz geflogen bin. Ich werde keine pure Begeisterung auf euch loslassen – denn die wäre nicht angebracht. Dafür gab es dann doch zu viele Kritikpunkte meinerseits.

Aber ohne Frage war es toll, zu sehen, wie andere Menschen, andere Länder mit dem Thema „Mental Health“ umgehen (und ja, ich werde bei der englischen Bezeichnung bleiben, weil ich sie mag und passend finde).

Überblick

Von Dublin habe ich auf Grund der knappen Zeit und der eisigen Temperaturen leider nur einen kurzen Eindruck gewinnen können. Der war aber ganz erfreulich und neben der Kälte wird mir vor allem die irische Musik im Kopf bleiben, die an diesem frühen Sonntag Abend aus den zahlreichen Pubs entlang der schmalen, kopfsteingepflasterten Straßen ertönte.

Montag um 9:30 ging es nach einem ausgiebigen Frühstück und Abholung meiner Unterlagen endlich los.

Ab in „unseren“ Saal. Viele Stühle. Einige schon besetzt. Wo setzt man sich hin? Ich will ja üben, auf Leute zuzugehen. Also eine der wenigen Menschen ausgeguckt, die ungefähr meiner Altersklasse angehören und gefragt, ob das Plätzchen neben ihr noch frei sei. War es. Zum Glück.

Denn so habe ich Aurelija aus Litauen kennengelernt. Und ich muss sagen: sie hat für mich die gesamte Zeit meines Aufenthalts bereichert, die langweiligen Vorträge erträglicher gemacht, und die Pausen mit tollen Unterhaltungen gefüllt. An dieser Stelle wärmste und liebste Grüße und ein unglaublich großes Danke an Dich, Aurelija: Ačiū, brangusis Aurelija! Aš labai džiaugiuosi, radau jums šios konferencijos viduryje!

Die Vorträge

Was nach der Begrüßen folgte würde ich als zweitägiges Dauersitzen mit Dauerbeschallung bezeichnen. Manche Vorträge und Präsentationen waren kurzweilig, spannend und wirklich interessant. Andere dagegen langweilig, unspektakulär und zu Tagträumen und Gedankenexperimenten einladend. Aber ich denke, das ist wohl normal für Konferenzen.

Eine Sache, die ich schon erwähnt habe aber noch weiter ausführen muss: die Konferenz war quasi zwei Konferenzen in einer. Einerseits war es ein Capacity Building Event von Mental Health Europe. Aber zum anderen und zum eindeutig größeren Teil war es eine Feier/Konferenz anlässlich des 50. Geburtstages von Mental Health Ireland.

Diese Tatsache hat die ganze Konferenz gelenkt. Am Montag Vormittag fand das sogenannte Pre Conference Seminar statt und war von MHE organisiert. Und es war wirklich informativ und spannend. Besonders der Vortrag von Paul Kinderman, President der British Psychological Society. Nicht nur interessant, sondern auch sehr unterhaltsam.

Mit dem Lunchbreak und der gereichten Gemüsesuppe hat sich das dann aber leider geändert. Denn dann hat MHI übernommen. Und irgendwie ging es ab da nur noch bergab. Es folgten am Montag Nachmittag sieben und am Dienstag Vormittag noch einmal vier Talks unterschiedlicher Länge. Neben Professoren, Aktivisten und dem irischen Gesundheitsminister (der jünger ist als ich, by the way) standen diverse Doctors und Directors auf der Bühne. Und von denen hat mich – ich bin ehrlich – keiner auch nur annähernd packen können.

Es ging viel um Irland – klar, war ja auch deren Land und deren Geburtstag, quasi – und natürlich ist es interessant zu hören, wie andere Länder die Dinge anpacken und welche Wege sie gehen. Aber wenn es dann zu sehr ins Detail geht schaltet mein Gehirn eben leider ab.

Meine gesammelten Eindrücke

Soviel also nur kurz zu den Vorträgen. Darüber hinaus gab es aber noch ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind. Da meine gesammelten Eindrücke insgesamt ziemlich zahlreich und vielfältig sind geh ich da einfach nur mit Stichpunkten und kurze Erläuterungen drauf ein:

  • Wenig junge Menschen | Erschreckend wenig junge Menschen. Altersdurchschnitt: 60? Vielleicht 55. Von den ca. 200 Teilnehmern waren vielleicht 10 mein Alter +/- 5 Jahre. Das fand ich schon ein bisschen wenig.
  • Wenig Betroffene | (Im Englischen „service user“ oder nur „user“ genannt – finde ich ganz schlimm den Begriff). Ja, im Publikum saßen ein paar. Aber auf der Bühne standen hauptsächlich Professionelle, Psychologen, Professoren und so fort. Ich glaube, ich hatte mir das ganze etwas praktischer, interaktiver, „trialogischer“ vorgestellt. Alle Parteien treffen sich auf Augenhöhe und tauschen sich aus. Dem war aber leider nicht so.
  • Böse Diagnose | Was ist an dem Wort, dem Konstrukt „Diagnose“ so schlimm? Mehr als einmal wurde der Begriff und das Vergeben von Diagnosen geradezu verteufelt. Von wegen Schubladen und so. Ich habe das ganz anders erlebt. Für mich war es eine riesige Erleichterung, meine Diagnose(n) zu bekommen. Endlich hatte ich was, mit dem ich arbeiten konnte. Das Problem ist ja oft nicht die Diagnose, sondern der Umgang der Menschen damit.
  • Über statt mit | Auch mit so einigen anderen Meinungen auf der Bühne war ich nicht einverstanden. Das an sich ist ja noch kein Problem. Aber sobald es sich anfühlt, dass mehr über als mit den Betroffenen geredet wird (ein bisschen wie wenn man mit jemanden über eine dritte Person redet, die daneben steht und mit zuhört) dann läuft irgendwas verkehrt.
  • Peer-Arbeit | Also, (ehemalige) Betroffene weiterbilden und in die Versorgung anderer unterstützend miteinzubeziehen. Finde ich einen super Ansatz. Im Januar gehe ich zu einem Informationsabend für eine solche Ausbildung, die nächstes Jahr in München startet. Aber zurecht wurde kritisiert, dass diese „experienced user“ zwar bitte gerne helfen sollen, dafür aber selten angemessen entlohnt werden. Auf kritische Fragen aus dem Publikum kamen leider nur ausweichende Antworten. Mal schauen, wie das hier bei uns laufen wird.
  • Aus eins wird vier | so gut und unterhaltsam ich den Vortrag von Professor Kinderman fand, eine Sache fand ich bedenklich: es gibt ja diese Aussage, dass einer von vier (one in four) Menschen im Laufe seines Lebens von einer psychischen Krankheit betroffen sein wird. Laut Herrn Kinderman sollte diese Aussage geändert werden. Zu vier aus vier (four in four). Weil ja eigentlich praktisch niemand so komplett gesund im Kopf ist. Und die Frage, wie man sich seine Mental Health erhält ja auch für jeden „Normalo“ eine interessante und wichtige Sache ist. Ich sehe da aber die Gefahr, dass die Menschen, die mit wirklich ernsten psychischen Krankheiten kämpfen und zu tun haben im Zuge dieser neuen Devise untergehen und noch mehr stigmatisiert werden, ihr Leiden klein geredet wird.

Kritik aus meiner Sicht

Ein paar meiner „Kritikpunkte“ konnte ich zum Glück noch vor Ort mit Charlotte von MHE zur Sprache bringen. Und ich habe bei ihr offene Ohren eingerannt. Vor allem was die Alterstruktur der Veranstaltung angeht. Aus diesem Grund wollen sie nächstes Jahr eine Jugend Task Force ins Leben rufen. Da bin ich dabei. Mal schauen, wie lange ich bzw. sie mich noch zur Jugend zählen =)

Und auch beim Gesamtablauf konnte mich Charlotte ein wenig beruhigen als sie mir versicherte, die „reinen“ MHE Veranstaltungen seien eher anders konzipiert. Kleinere Gruppen, Workshops, praktischer – das hat mich wirklich erleichtert. Bin ich also doch richtig.

Und jetzt noch drei Punkte, die ich ansprechen bzw. loswerden muss, weil sie mich wirklich geärgert haben. Und auch jetzt noch ärgern, wenn ich darüber nachdenke:

  • stehen die da oben alle auf der Bühne und reden von Wellbeing und Community und dass man die Menschen aus den Institutionen rausholen, ein Miteinander schaffen soll – und dann schaffen sie es nicht, das Hotelpersonal beim Frühstück anständig zu behandeln. Unhöflich, respektlos, geringschätzig. Für mich fängt „Wellbeing“ aber hier an. Beim alltäglichen Miteinander und Zueinander.
  • beim „Gala Dinner“ waren nur Rotwein, Weißwein und Tafelwasser inklusive. Für alles andere musst bezahlt werden. Und das, nachdem immer wieder thematisiert wurde, was für eine ungesunde Beziehung die körperliche und geistige Gesundheit und der Alkohol haben. Fand ich dann doch ein wenig paradox.
  • ähnliches gilt beim Thema Physical Health: auf der Bühne betonen, wie wichtig diese für die Mental Health ist, dass man das den „usern“ doch endlich verständlich machen muss – dann aber selber bei einer Treppe schnaufen. Wenig glaubwürdig. Und mit körperlicher Fitness meine ich hier nicht, Marathon laufen zu müsse oder dünn und trainiert zu sein.

Aber diese Punkte fallen wahrscheinlich in die Kategorie „Das gilt ja nur für die Kranken“ – wir sind ja eh die besseren Menschen die unsere eigenen Ratschläge gar nicht befolgen müssen.

Ihr seht, diese Punkte regen mich immer noch auf.

Konferenz sei Dank

Ihr habt es inzwischen gemerkt – viele Eindrücke, viele Positionen, viele Meinungen, viele Beobachtungen. In gerade mal zwei Tagen. Seit meiner Rückkehr arbeitet es weiter in meinem Kopf. Wie denke ich eigentlich so über manchen Bereich? Was genau würde ich denn gerne mit meiner Arbeit erreichen?

Das finde ich gut, und das hat die Reise nach Dublin bei allen „Kritikpunkten“ auf jeden Fall gebracht.

Darüber hinaus habe ich aber während den Gesprächen und Vorträgen zum ersten Mal so wirklich realisiert, wie gut wir es eigentlich in Deutschland haben. Ja, auch hier bei uns gibt es noch das riesige Tabu um psychische Krankheiten. Es gibt Stigmatisierung, Ausgrenzung, Vorurteile. Lange Wartezeiten, zu wenige Therapeuten etc.

Aber die Versorgungslage ist im Vergleich zu manch anderem Land geradezu traumhaft. Und damit meine ich wohl vor allem, dass die Krankenkassen die Kosten für Behandlungen übernehmen. Was für ein Luxus. Und was für eine Rarität. Europa-, aber auch weltweit.

Natürlich läuft trotzdem nicht alles gut hier bei uns. Aber im Großen und Ganzen stehen wir verdammt gut da. Da kann Aurelija ein Lied drüber singen. Was sie so über die Lage in Litauen erzählt hat war stellenweise wirklich gruselig.

Und ich habe gemerkt, dass ich eigentlich kaum eine Ahnung habe, wie unser Land eigentlich so offiziell zum Thema Mental Health steht. Was sprechen eigentlich die Politiker, die Gesundheitsministerien und Pressemitteilungen so?

Genau das versuche ich gerade herauszufinden. Neben der Arbeit im Café, dem Fernstudium, der Selbstfürsorge, dem Schreiben, den Löchern und der Arbeit an meiner ersten Mental Health Präsentation surfe ich also durchs Internet und versuche, die Einstellung meines (Bundes)Landes zu greifen. Wie denkt Bayern über Psychos? Was hat die Politik für Ziele? Welche offiziellen Stellungnahmen gibt es?

Mehr Resilienz für mich

Die Arbeit, meine Ziele, meine Mission wird also nicht weniger oder kleiner.

Aber in gewisser Weise ist das ja sehr gut so. Denn in den vermehrten Löchern der letzten Wochen und Monate habe ich immer wieder gemerkt, dass eine der wenigen Sachen – neben Pizza und Cumberbatch – die immer gehen, die mir gut tun, bei denen ich aus meinem Loch rausschaue, auch das ist.

Aufklären, schreiben, was bewegen, was verändern – die Momente, in denen ich merke, dass ich Menschen erreiche, dass es was bringt, was ich mache, wo ich so viel Zeit rein stecke. Die sind gut. Das sind Momente, die meine Stimmung, meinen Tag retten können.

Helfen, verändern, schreiben, reden – wenn ich eines oder alles davon tue dann hat die dunkle Seite in mir schlechtere Chancen. Sie verschwindet nicht. Aber der Gedanke, das Leben von andern Menschen positiv verändern bzw. beeinflussen zu können ist einer der wenigen, die mich wirklich antreiben. Der die Kraft hat, mich aus einem Loch rauszuziehen. Und mich weitermachen zu lassen.

Und wie in Dublin betont wurde, ist das ein Baustein von Resilienz: das man etwas bewirken kann, an eine Sache glaubt, mit anderen zusammenarbeitet. So schöne Worte. Worte wie Sinnhaftigkeit, Selbstwirksamkeit.

Deswegen brauche ich davon mehr. Damit die Löcher weniger werden. Und ich nicht mehr so viel um mich selber, sondern für andere kämpfen kann.

Update von der Achterbahn

Lesezeit: 8 minuten

Update von der Achterbahn

Da hab ich mich ja jetzt selber fast ein bisschen erschrocken, dass der letzte Blogpost wirklich schon unendliche, weit entfernte und auch beschämende zwei Monate zurück liegt. Und dabei ist soviel passiert, über das ich schreiben könnte, sollte, müsste und will. Fangen wir mit einem kleinen Update an.


Was also ist in den letzten zwei Monaten so passiert? Seit meiner Zeit als Versuchskaninchen in Mannheim. Nun, um euch schon mal einen groben Überblick zu geben:

  • traveling | the | borderline  hatte den 1. Geburtstag
  • wir waren vier Wochen mit dem VW-Bus in England
  • ein Teil davon war das YEStival von Dave Cornthwaite
  • ich fliege im November zu einer Mental-Health Konferenz nach Dublin
  • ein Beitrag von mir wurde in einem Buch namens „A Day In My Head“ veröffentlicht
  • der Dr. Strange Kinofilm ist endlich draußen

Das mal so die wichtigsten Punkte auf einen Blick. Vor allem natürlich der letzte ;-)

Dazu gibt es jeweils gleich noch mehr. Am „wichtigsten“ für diesen Blog, für euch und eventuell sogar für mich ist aber natürlich noch die Frage, wie es mir und meiner Achterbahn in den letzten Wochen denn so ging.

Seit Bali geht es rund

Und da muss ich leider schreiben, dass es ganz schön rund ging. Es gab einiges gutes. Aber auch viel schlechtes. Ich komme gerade erst wieder frisch aus einem ziemlich tiefen, ekligen, dunklen, engen und fiesem Loch. Die gibt es also immer noch.

Meine Therapeutin hat vor kurzem die Bemerkung gemacht, dass es in den letzten Monaten bei mir eigentlich nie so richtig gut war. Seit wir von THE | trip zurück gekommen sind, genauer gesagt. Im Gegensatz zum Jahr davor. Gerade in den Monaten vor der Abreise nach Asien. war ich für meine Verhältnisse ziemlich stabil. Ja, hier und dort kleine Löcher oder Stolpersteine – aber das war es dann auch.

Seit unserer Rückkehr im März sieht die Sache aber irgendwie anders aus. Das ganze System ist instabiler. Ich kämpfe wieder härter an allen Fronten. Und kann noch nicht genau sagen, woran zur Hölle das liegt. Wenn ich so drüber nachdenke hab ich auf jeden Fall das Gefühl, dass neben der Borderline meine alte Freundin Depression viel und oft ihre Hände im Spiel hat. Genau so wie der Alkohol.

Altes Spiel mit neuem Nachspiel

Im Großen und Ganzen sieht das so aus: ein paar wenige Wochen geht alles gut. Dann kommen erste Wackler. Und dann geht es ziemlich schnell weit runter. Dann greift meine alte Taktik „Einmal richtig ins Loch und auf der anderen Seite ist dann alles wieder gut“. Und so ist es dann auch. Für ein paar wenige Wochen – und das ganze Spiel geht von vorne los.

Ein entscheidender Unterschied zu früher ist, dass das – in Ermangelung eines besseren Wortes – gute Gefühl nach einem Loch voller Dunkel, Depression, Selbstschädigung und dem ganzen Drumherum sich heute nicht mehr nur noch gut anfühlt. Sondern da ist jetzt ein fahler Beigeschmack. Ein Beigeschmack aus „Du weißt es doch eigentlich besser – warum passiert dir das immer wieder – Du willst doch gar nicht gesund werden“ und anderen solch netten Sätzen, die dann auf meinen Kopf einhämmern.

So scheiße es mir im Loch geht, das kenne ich und bisher konnte ich mich auf das gute Gefühl danach verlassen. Die Anspannung war erstmal wieder weg. Keine Gedankenkreise da. Ich hatte meine Ruhe. Und die wird seit neuestem gestört, diese Ruhe. Und das ist eben das Neue.

Der 1. Bloggeburtstag

Wirklich traurig, beschämt und auch enttäuscht von mir selbst war ich, als ich nicht mal zum 1. Geburtstag von meinem Blog einen Post veröffentlicht habe. Gründe dafür? Nun ja, ich war gerade mit der Fähre nach England übergesetzt und es gab so viel spannenderes zu sehen als meinen Rechner.

Aber natürlich hätte ich auch etwas vorproduzieren und planen können. Aber eine kurze Rückschau zeigt ja schon, dass ich in den letzten Monaten (in meinen Augen) viel zu wenig veröffentlich habe. Immer wieder kommen neue Themen, alte Artikel müssen warten – und so geht es jedem Artikel.

Vielleicht ist die worthafte Ruhe um mich auch ein Indiz für meinen wakeligen Gemütszustand. Vielleicht sogar mit ein Grund dafür? Eine meiner vorwurfsvollen Stimmen zieht mich auf jeden Fall gerne damit auf, dass ich schon wieder so lange nichts veröffentlicht habe.

Ich verspreche zu versuchen, mich zu bessern, das zu ändern und wieder öfter und regelmäßiger Artikel auf euch loszulassen. Vielleicht ist das aber eben auch so bei einem Blog über eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung: da ist eben alles Schwankungen unterlegen.

Vier Wochen England

Ich werde hier nicht in einen Absatz vier Wochen Roadtrip durch Südengland packen können – geschweige denn wollen. Da gibt es dann noch einen eigenen Post dazu. Oder auch mehrere, mal sehen.

In jedem Fall aber so viel: ich bin absolut verliebt! Es war noch viel schöner, als alle gesagt haben oder ich es mir erwarten konnte. Die Natur ist einmalig – mächtig, abwechslungsreich, wild, ruhig und aufregend. Die zum Teil sehr alten Städte und Gebäude haben mich mit ihrem steinernen Auftreten total in den Bann gezogen. Diese Kathedralen die man kaum noch gotisch sondern eigentlich super-mega-extra-gotisch nennen muss. Und oben drauf dann noch die Menschen: So. Unfassbar. Nett! Und so hilfsbereit.

Auch das Essen war gar nicht so schlimm, wie man hätte befürchten können oder es bis vor wenigen Jahren vielleicht noch war. Vor allem die Scones in Cornwall haben es mir angetan. Der typische Pint im englischen Pub hat dagegen mal absolut nicht unseren Geschmack getroffen (zu warm, zu schal) – die Pubs an sich dagegen sehr. Die Stimmung darin lässt sich wohl wenn überhaupt mit der in bayrischen Biergärten vergleichen – mit dem entscheidenen Unterschied dass eine niedrige Decke über einem hängt und ein Kaminfeuer neben einem prasselt.

London alleine verdient einen eigenen Blogpost. Wer schon mal da war, weiß dass es sich teilweise anfühlt wie durch eine Filmkulisse zu laufen. Und in der ganzen Stadt diese bunte, unaufgeregte Mischung aus Menschen und Gebäuden – alles lebt wild durcheinander gewürfelt und es funktioniert für alle. Und diese endlosen, schmalen Tunnel wenn man zwischen den Tube-Stationen umsteigen muss. Gruselig faszinierend. Ich könnte absätzelang so weitermachen …

YEStival

Direkt im Anschluss an London und sozusagen als Abschluss-Höhepunkt unserer Reise ging es dann zum YEStival, initiiert vom englischen Abenteurer a.k.a. Tausendsassa Dave Cornthwaite. Aus seiner „Say Yes More„-Initiative entstanden fand dieses Festival schon zum zweiten Mal statt. Dave hatten wir auf Bali getroffen, nachdem ich ihm und seinem Wirken bereits einige Zeit auf diversen Kanälen gefolgt war. Und seine Einladung bzw. sein Vorschlag, dass wir doch zum Festival kommen sollen war Auslöser und Grund der ganzen England-Reise.

Das YEStival lässt sich schwer beschreiben. Einmal fiel „A festival for positive change“ und das beschreibt die ganze Angelegenheit wohl ganz gut. Ein Festival für den positiven Wandel, also. Klingt auf deutsch gleich viel hölzerner.

Objektiv gesehen waren es rund 500 Menschen, die sich von Freitag bis Sonntag auf einem Uni-nahen Feld im Süden Englands getroffen haben, um in Zelten zu schlafen, am Lagerfeuer zu sitzen und sich inspirieren zu lassen. Während des Festivals gab es ungefähr 34 Redner, die aus allerlei Richtungen kamen.

Manche, so wie Dave selbst, lassen sich wohl am ehesten als Abenteurer bezeichnen. Die so Dinge machen wie einmal um die britische Küste schwimmen/paddeln/radeln. Oder von London nach Südafrika mit dem Fahrrad zu fahren. Oder von Rom nach London zu joggen. Und so weiter.

Aber nicht in allen Talks ging es um diese „großen Abenteuer“. Zufall oder nicht, in vielen Vorträgen ging es auch direkt oder indirekt um Mental Health, also psychische Gesundheit. Depressionen, bipolare Störung, Abhängigkeit, Selbstmord – viele ernste Themen kamen zur Sprache. Und als der erste mal angefangen hatte griffen viele das Thema in ihrem eigenen Talk auf.

Für mich toll zu sehen. Aber auch anstrengend. So viel Input, so viele neue Menschen, so viele Emotionen und Geschichten – da ist so ein kleiner, sensibler und empfindlicher Borderline-Kopf schnell überfordert. Trotzdem bin ich froh, dass wir da waren und sollte es nächstes Jahr wieder statt finden, werde ich wieder hinfahren.

Konferenz in Dublin

Noch während wir in England waren habe ich Nachricht bekommen, dass ich zu einer internationalen Konferenz nach Dublin fahren darf, bei der sich Menschen aus ganz Europa treffen und austauschen, die auf die eine oder andere Weise für psychische Gesundheit einsetzen bzw. sich mit psychischen Krankheiten beschäftigen.

Hintergrund: bei einer meiner vielen Informations-Flüge durchs Internet bin ich irgendwann auf der Seite von „Mental Health Europe“ (MHE) gelandet. Ich hatte davor durch diverse Aktionen schon immer mal wieder von MHE gehört, aber als ich mich dann mal wirklich mit auseinandergesetzt habe, womit die so ihre Zeit verbringen habe ich schnell gemerkt: Find ich super!

MHE setzt sich europaweit für die Belange von psychisch erkrankten Menschen ein, hilft bei Entstigmatisierung, berät die Politiker in Brüssel beim Thema und vernetzt Menschen, Organisationen und Verbände miteinander. Will ich mitmachen!

Also, E-Mails geschrieben, Antrag gestellt und nach wenigen Wochen Bescheid bekommen, dass ich dabei bin. Sehr cool! Auf meine Nachfrage, wie ich mich den mehr einbringen könne, wie ich MHE am meisten von Nutzen sein könnte, dass ich mich gerne vernetzen möchte und auch gerne bereit bin, aus meinem psychischen Nähkästchen zu plaudern kam erst viel positive Reaktion und dann die Einladung nach Dublin.

Zweimal jährlich veranstaltet MHE Konferenzen für alle Mitglieder in unterschiedlichen Orten Europas um den Austausch, die Zusammenarbeit und die Vernetzung zu unterstützen und leichter zu machen. Und da bin ich nun dieses Mal in Dublin dabei. Der ganze Spaß kostet für mich nichts, übernimmt alles MHE.

Und obendrauf fällt die Konferenz dieses Mal mit einem 50-jährigen Jubiläum von Mental Health Ireland zusammen. Was dann zu so Dingen führt wie einem Galadinner mit dem irischen Gesundheitsminister am Samstag Abend. Ich bin so gespannt.

Buchprojekt „A Day In My Head“

Wie ich da genau drauf gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls bin ich auf wunderbare Art und Weise in ein tolles Buchprojekt gestolpert, welches nach Monaten der Arbeit nun endlich veröffentlich wurde (eBook) bzw. bald wird (print).

Der Initiator heißt Aron Bennett und wie der Titel des Buches schon erahnen lässt geht es um „Ein Tag in meinem Kopf“. Aron hat sich einen beliebigen Tag gewählt, den 16. Mai, und hat Menschen, die unter einer psychischen Krankheit leiden dazu aufgerufen, von ihrem Tag zu erzählen. Von Schizophrenie über Angstörungen und natürlich Depression bis zu Borderline ist quasi das gesamte Spektrum vertreten.

Menschen von überall auf der Welt haben mitgemacht, was die breite Fächerung an Eindrücken und Geschichten noch breiter werden lässt. Und diese Beiträge sind nach sorgfältiger Auswahl und ein wenig Nachbearbeitung nun eben in Buchform erhältlich. Der Erlös wird für gute Zwecke genutzt und in den ersten Tagen hat das eBook auf amazon einen tollen Verkaufsstart hingelegt. Aron ist im Gespräch mit diversen Medien, die wohl auch bald noch über das Projekt berichten werden.

Tolle Sache, wie ich finde. Ich bin selber sehr gespannt, was darin so zu lesen sein wird. Über meinen eigenen Eintrag habe ich mir vorher keine Gedanken gemacht. Eher ungefiltert aufgeschrieben, was mir in den Kopf kam. Vielleicht unterstützt der ein oder andere von euch die Sache ja mit einem Kauf – Aron würde sich freuen. Und ich mich natürlich auch.

Benedict sei Dank

Auch wenn diese kurze Zeitreise in wenigen Absätzen wirklich nur einen Bruchteil abdecken kann – schon von außen gesehen waren die zwei Monate Beitragsstille gar nicht so still, sondern ziemlich ereignisreich. Dazu dann noch der turbulente Kopf und ein wackeliger Gemütszustand und schon haben wir den Borderline-Salat.

Da hilft dann nur noch Cumberbatch. Den hab ich ja schließlich oben in der kurzen Auflistung zu Beginn des Textes auch aufgeführt. Wenn auch getarnt als Dr. Strange. Nach wochen-, monatelangem Warten kam endlich dieser Film raus. Und für mich war er vermutlich wichtiger als für viele andere. Denn im Sommer, als ich mal eine wirklich dunkle Phase hatte und kräftig dabei war, mir um mich ernsthafte Sorgen zu machen habe ich mir gesagt „Naja, also bis zum Start von Dr. Strange musst du es jetzt auf jeden Fall noch schaffen“. Und das habe ich.

Und am. 1. Januar kommt die neue Sherlock-Staffel. Die darf ich auch nicht verpassen.

So hangle ich mich also gerade durch die Wochen. Passe meine Ansprüche der Tagesform an. Und versuche, mich auch mit den kleinen Dingen zufrieden zu geben, mich über sie zu freuen. Anstatt mich nur von der Größe der eigentlich wichtigen Dinge, meiner eigentlichen Ziele einschüchtern und lähmen zu lassen.

Das Ende vom Update-Lied also? Die Achterbahn hat mich viel durch die Gegend geschossen. Ein wenig Alltag. Viel England. Einiges Neues. So manch Altes. Viel runter. Aber auch immer wieder rauf. Und wenn ich mir das so anschaue, bin ich gar nicht mehr so verwundert bzw. erschrocken, dass es keinen neuen Post gab. Das Leben war einfach schneller als ich schreiben kann.

Versuchskaninchen in Mannheim

Lesezeit: 7 minuten

Versuchskaninchen in Mannheim

Wie es sich anfühlt, drei Tage lang in einer fremden Stadt Versuchskaninchen zu sein. Warum ich zwar nichts Neues über mich erfahren, trotzdem aber viel über mich gelernt habe. Und was die Mannheimer mit Hobbits zu tun haben.


Die letzte Studie ist geschafft. Das letzte Kreuzchen ist gemacht. Die letzte Frage ist beantwortet – jetzt darf der Kopf abschalten. Wenn man mich hier so sitzen sieht, Sonnenbrille im Gesicht, FlipFlops an den Füßen, Kaffee auf dem Tisch – man könnte fast denken, ich sei im Urlaub. Von oben scheint die Sonne, vor mir das bunte Treiben auf dem Mannheimer Marktplatz.

Ich bin ganz froh um diese Auszeit. Die letzten Tage waren doch ziemlich anstrengend. Auf jeden Fall mehr Arbeit als Urlaub. Und nun habe ich noch etwas Zeit, bevor mein Zug zurück nach München fährt. Also kann ich ein bisschen Gedanken sortieren.

Mein Weg nach Mannheim

Aber von vorne: Mannheim? Ja, richtig gelesen. Diese Stadt ist sowas wie der Hotspot Deutschlands wenn es um die Borderline Persönlichkeitsstörung geht. Also, was die Forschung dazu angeht. Warum Mannheim? Keine Ahnung, liegt vielleicht an Martin Bohus, den ich mal als die Koryphäe Deutschlands bezeichnen möchte, wenn es um Borderline geht. Und der sitzt eben hier.

Wie ich auf die Seite der klinischen Forschungsgruppe 256 gestoßen bin, weiß ich gar nicht mehr so richtig. Jedenfalls saß ich vor einigen Wochen an meinem Rechner vor einem Formular, mit dem man sein Interesse verkünden konnte, bei klinischen Studien zur Erforschung der Borderline Persönlichkeitsstörung teilzunehmen. Da ist die Dommi natürlich sofort dabei! Also, Formular abgeschickt. Dann folgten einige E-Mails und Telefonate und schließlich stand fest, dass ich im September für einige Tage zum Zentralinstitut für Seelische Gesundheit nach Mannheim fahren würde,um an diversen Untersuchungen und Studien teilzunehmen.

Seit ich auf den Link gestoßen bin habe ich keine Sekunde drüber nachgedacht, nicht wenigstens zu versuchen an den Studien teilzunehmen. „Kein Fortschritt ohne Forschung“ – würde ich mal meine Einstellung zusammenfassen. Eines meiner Ziele ist, die Situation für mich und alle anderen Betroffenen zu verbessern. Dazu gehört ein immer besseres Therapieangebot. Und das wiederum braucht eine Grundlage. Daten, Ergebnisse aus denen gelernt und dank derer die Behandlung immer gezielter, umfassender und erfolgreicher werden kann.

Und dafür braucht es eben uns Borderliner. Wahrscheinlich werden viele der Ergebnisse – so was kann ja leider Jahre dauern – mir selber gar nicht mehr zu Gute kommen. Aber all den Borderlinern, die nach mir kommen werden – und das werden leider ziemlich viele sein – denen können wir helfen, indem wir heute den Forschern Einblick in unsere Köpfe, den Mechanismen und Abläufen darin geben.

Und deswegen bin ich also am Dienstag Morgen am Hauptbahnhof in München in den Zug gestiegen. Um meinen Kopf der Forschung zur Verfügung zu stellen. Mit allem was da drin so abgeht.

Studien im Quadrat

Die Studien an sich will ich euch hier gar nicht im Detail nacherzählen – weiß auch gar nicht, ob ich das eigentlich dürfte. Ich saß auf jeden Fall viel über Fragebögen aller Art, habe Kreuzchen gemalt wie eine Weltmeistern. Saß vor Bildschirmen und Tastaturen, habe Kopfhörer aufgesetzt bekommen und mir wurde eine stumpfe Klinge samt Kunstblut auf den Arm gedrückt. Was genau welche Studie untersucht, worum es jeweils ging – keine Ahnung. Aber ist wahrscheinlich auch ganz gut so, denn sonst hätte ich vielleicht nicht mehr „echt“ agiert.

Alle Termine fanden in den Quadraten, also der Innenstadt von Mannheim statt. Nicht nur die forschenden Abteilungen sondern auch die psychiatrische Klinik an sich sind hier in der Innenstadt. Ziemlich ungewöhnlich, werden doch gerade diese Abteilungen gerne an den stadtrandigsten Stadtrand verbannt. Hier aber gilt: mittendrin statt nur dabei.

Von meinem Hotel direkt am schönen Wasserturm gelegen hab ich alles fußläufig erreichen können. Mehr als 20 Minuten war ich nie unterwegs. Und manchmal ganz dankbar für die Verschnaufpausen. Generell hatte ich zwischen den Terminen immer Gelegenheit, ein bisschen abzuschalten.

Die Organisation war wirklich super. Ich hatte eine sehr nette Ansprechpartnerin, die sowohl im Vorfeld als auch während meines Aufenthaltes für mich da war, mich am Bahnhof empfangen hat, die wichtigen Orte gezeigt und mein Feedback entgegen genommen hat. Auch alle anderen Menschen, die hier mit mir zu tun hatten, waren äußerst nett und immer darum bemüht, dass es mir gut geht.

Was die Kosten angeht: da hab ich natürlich keine. Von der Zugfahrt übers Hotel und den Eisbecher in der Mittagspause wird alles vom ZI übernommen. Darum muss man sich also keine Gedanken machen. Das heißt jetzt nicht, dass ich im teuersten Lokal vor Ort den Kaviar in rauen Massen bestellt habe. Aber es ist schon angenehm, sich nach der ein oder anderen intensiven Einheit mit einer Kleinigkeit selbstverfürsorgen kann, ohne ans Geld denken zu müssen.

Leben im Quadrat

Mannheim ist schon irgendwie eine abgefahrene Stadt. Das liegt hauptsächlich daran, dass es in der Innenstadt – den Quadraten – keine Straßennamen sondern nur Nummerierungen gibt. Ein bisschen wie beim Schiffe versenken. Das sieht dann so aus. Man wohnt hier also nicht in der Hauptstraße 7, sondern in M2. Das gilt zwar wirklich nur für die Innenstadt, aber die ist gar nicht mal so klein.

Der Stadtkern ist eine Mischung aus arabischen Supermärkten, der klassischen westlichen Einkaufsmeile mit H&M & Co, schicken und nicht so schicken Wohnhäusern und schön-schicken alten Gebäuden. An den Rändern kommen ein paar historische Prachtstücke wie das Schloss – in dem sich heute die Uni befindet – oder der Wasserturm dazu.

Und dann natürlich Wasser. In Form von Flüssen. Die Ufer von Rhein und Neckar werden nicht nur von mir zum Laufen benutzt. Naherholung vom Feinsten. Und perfekt um am Mittwoch zu Sonnenaufgang mit einer schönen 8-Kilometer Runde den Tag zu begrüßen. Am Horizont geht die Sonne auf, irgendwelche mittelgebirgigen Hügel am Horizont, der Fernsehturm wird nach und nach immer mehr angestrahlt – einfach toll.

Neben der höchste Dönerbuden-Dichte die ich je gesehen habe ist mir vor allem die Buntheit der Stadt aufgefallen. Definitiv laufen hier mehr Migrationshintergründe rum, als ich es aus München gewohnt bin. Ob das daran liegt, dass der Anteil hier so viel höher als in München ist oder weil die Stadt so viel kleiner ist, kann ich nicht sagen. Hier konzentriert sich eben alles auch auf einen kleineren Raum. Das ist mir aber eher so am Rande beim Rumschauen aufgefallen.

Von Hobbits und Elben

Viel mehr aufgefallen ist mir die gefühlte Offenheit. Ganz Reiseverrückte und Entdeckerin die ich nun mal bin habe ich die Zeit vor, zwischen und nach meinen Terminen genutzt, um die Stadt zu erkunden. Gehend, laufend, sitzend. Und dabei ist mir diese Atmosphäre immer wieder aufgefallen. Der entspannte, freundliche Umgang miteinander – da merkt man erstmal, wie zugeknöpft so ein durchschnittlicher Münchner eigentlich ist.

Irgendwie sind die Leute „normaler“ hier. An den Tischen um mich rum, die Menschen auf der Straße – wo ich jetzt so drüber nachdenke muss ich an die Hobbits denken. Nicht so geschniegelt und poliert wie die Münchner Elben. Sondern echter. Vielleicht einfacher, vielleicht auch ein bisschen rauher. Aber auch echter. Eben mehr wie die gutmütigen, lebensfrohen Bewohner des Auenlandes.

Und ich hab mal wieder gemerkt, wie sehr das schöne München mich verwöhnt – oder verzogen – hat. Mit seiner großstädterischen Art und Weise. Wie, es gibt nicht an jeder Ecke Bioläden und alternative Cafés?Aber ich hab auch gemertk wie schön es ist, mal aus der Münchner-Hipster-Blase raus zu sein. Keine Haidhausen-Mamis, die einen mit ihren Lastenrädern fast umfahren. Keine hinter riesigen Sonnenbrillen versteckten Gesichterhaufen. Hat halt alles so seine Vor- und Nachteile. Auch das Leben in der schönen Großstadt München.

Ich liebe München, nicht falsch verstehen. Aber so aus der Ferne fallen einem wohl einfach so manche Macken der eigenen Heimatstadt nochmal ganz anders auf.

Wer noch einen schönen Artikel über Mannheim lesen will – die ZEIT hat da vor einiger Zeit mal was ziemlich gutes und treffendes veröffentlich: Mannheim – Unterschätzt im Quadrat

Mein Resümee

Drei Tage – zwei Zugfahrten – zwei Nächte. Klingt nicht nach viel. War’s aber irgendwie doch. Denn ich hab nicht nur eine neue Stadt kennengelernt. Sondern auch wieder so einiges über mich gelernt.

Auf der einen Seite war nichts neues dabei. Aus den Diagnostik-Gesprächen hat sich nichts wirklich Neues ergeben. Keine Überraschungen für mich. Alles bekannt Diagnose-Kumpel von mir.

Was ich aber in den zum Teil intensiven Fragestunden quasi nicht mehr übersehen konnte: wie verdammt weit ich in den letzten Monaten gekommen bin! Wie oft habe ich mich in den diversen Interview sagen hören „Ja, früher war das so. Aber inzwischen kann ich damit ganz gut umgehen.“ oder „Ja, kenne ich. Ist aber heute nicht mehr so.“

Vor allem ist mir bewusst geworden, wie viel stabiler meine Stimmungen sind. Wie viel gelassener als früher ich bin. Wie viel selbstsicherer und auch mutiger ich geworden bin. Hauptverantwortliche für diese Veränderungen ist für mich ganz klar die Achtsamkeit. Seit sie und auch die Meditation in mein Leben getreten ist, hat sich so vieles so stark verändert.

So viel von meiner Anspannung, meiner Symptomatik und meinen Problemen hatte den Ursprung darin, dass mein Kopf mich so schnell in die Vergangenheit, die Zukunft, in Gedankenschleifen und Abwärtsspiralen ziehen konnte. Nun bin ich durch viele Stunden Meditation und Achstamkeitstraining also immer besser geworden, Herrin da oben in meinen Gehirnwindungen zu sein. Selber den Ton anzugeben anstatt irgendwelche Kurzschlüsse mein Innenleben bestimmen zu lassen.

Vielleicht darf ich mich also bald von der vollen Borderline- zur Borderline-akzentuierten Persönlichkeit abstufen lassen.

Wie das für mich wäre, was ich darüber denke, was das bedeuten würde – darüber hab ich mich schon so einige Gedanken gemacht. Die euch bald in einem eigenen Post erreichen werden.

Jetzt sitze ich also hier. Die Gedanken sind raus, aufgeschrieben und der Kopf somit ein gutes Stück sortierter. Und mir bleibt immer noch ein bisschen Zeit, bevor mein Zug fährt. Kann ich also wirklich noch ein bisschen Urlaubsfeeling genießen. Und mich und meine Fortschritte unter Mannheimer Palmen sitzend und umgeben von gutmütigen Hobbits zelebrieren.


Du bist Borderliner und möchtest auch deinen Teil zur Forschung beitragen?

Ich kann dir wirklich nur ans Herz legen, auch über eine Reise nach Mannheim nachzudenken. Die Forscher können noch so motiviert sein, ohne uns kommen sie nicht weiter.

Die ganze Teilnahme ist von vorne bis hinten wirklich super organisiert – die machen das dort auch schon eine ganze Weile. Schon im Vorfeld gibt es ausführliche Telefongespräche, in denen man nicht nur alle Fragen loswerden kann sondern bei denen z.B. auch ermittelt wird, für welche Studien genau man in Frage kommt. Die Betreuung vor Ort ist umfassend und professionell. Das sind alles keine Anfänger da. Die wissen, worauf man achten muss.

Und mir wurde immer wieder nahe gelegt, sollte meine Anspannung mal zu hoch sein, ich bei einem Versuch oder einer Frage ein schlechtes Gefühl haben, ich habe jederzeit die Möglichkeit, abzubrechen, abzusagen oder zu pausieren. Ziel des Aufenthaltes ist nicht, möglichst alle Studien abzuhaken oder durchzustehen. Sondern das im eigenen Rahmen mögliche zu tun, um zur Arbeit der Forscher beizutragen. Wie auch immer das aussehen mag.

Kosten wirst du – wie schon im Artikel oben geschrieben – keine haben. Fahrt, Übernachtung, Verpflegung – alles wird übernommen. Sogar Kino wäre mir bezahlt worden – aber dafür war das Wetter zu schön.

Also, hier ist noch mal der Link, diesmal direkt zum Formular https://www.kfo256.de/de/teilnahme/anmeldung/kontaktformular.html. Du kannst dich aber natürlich noch weiter auf der Seite informieren, bevor du es abschickst.

Musik auf der Borderline

Lesezeit: 6 minuten

Musik auf der Borderline

Ein Post über Musik. Darüber, was für eine Rolle sie in meinem (Borderline-)Leben spielt. Darüber, was sie mit mir machen kann. Und dass das nicht immer schön ist. Ich mir aber trotzdem einen Tag ohne Musik nicht vorstellen kann. Und auch nicht möchte.


Dieser Artikel liegt mir schon so lange auf den Tasten bzw. im Ohr. Weil es eine Sache betrifft, die mich praktisch jeden Tag in der ein oder anderen Weise tangiert.

Marsha Linehan, die Begründern der DBT-Therapie hat einmal gesagt “People with BPD are like people with third degree burns over 90% of their bodies. Lacking emotional skin, they feel agony at the slightest touch or movement.” (grob übersetzt: „Menschen mit Borderline sind wie Menschen, die an 90% ihres Körpers Verbrennung dritten Grades haben. Ihnen fehlt die emotionale Haut, bei den leichtesten Berührungen oder Bewegungen fühlen sie wahre Höllenqualen“). Ich stimme ihr da generell zu, da hat sie gute Worte gefunden. Aber beim Thema Musik stimme ich ihr wohl noch ein bisschen mehr zu.

Die Macht der Musik

Dass es mich oft und gerne und heftig zwischen Launen und Stimmungen hin- und her wirft, dürfte dem aufmerksamen Leser inzwischen bekannt sein. Dass die Borderline mich immer wieder in das unberechenbare und heftig aufgewühlte Meer meiner Gedanken und Gefühle wirft, auch.

Auslöser dafür können viele Dinge sein. Eine Erinnerung, die wie ein Blitz aufleuchtet. Ein Satz, der gar nicht böse oder zweideutig gemeint sein muss – von meinem Kopf aber einmal durch den Wolf gedreht und neu interpretiert wird. Ein Blick, durch den ich vielleicht gar nicht gesehen werde, der bei mir aber ins Tiefschwarze trifft.

Und eine weitere, für mich eine unglaublich wichtige, unterstützende, wunderbare und gleichzeitig gefährliche, fast böse Sache, ist Musik. Musik schafft es so zuverlässig wie wenig sonst bei mir auf Knopfdruck die unterschiedlichsten Emotionen, Stimmungen, Gefühle und Launen auszulösen. Ich weiss nicht, ob du das kennst – dass ein Lied dich in den Himmel oder die Hölle schicken kann.

Ich liebe Musik. Von Filmmusik bis Indie, von Electro bis Rock. Nicht umsonst habe ich fünf Jahre lang in einer Band gespielt. Musik ist wichtig. In ihr kann viel ausgedrückt werden, das Worte allein nicht beschrieben können. Und sie kann einfach Spaß machen und gute Laune bringen.

Oder schlechte Laune. Sehr schlechte. Und Hoffnungslosigkeit, Trauer, Verzweiflung, Schmerz. Es muss nicht immer eine Erinnerung oder eine bestimmte Emotion sein, manchmal ist es auch einfach ein diffuses Scheiß-Gefühl.

Ich laufe durch die Stadt, bin in der Arbeit, stehe in der Küche – und dann passiert es. Die ersten Töne kommen und sofort ist alles da. Das komplette Programm. Der Moment geht in den Standby-Modus und ich werde mitgerissen. Die Noten tragen meine Gefühle in eine dunkle Ecke. Die Worte schicken meine Gedanken auf Talfahrt.

Die Musik versteht mich!

In der Vergangenheit habe ich Musik oft genutzt, um mich absichtlich noch tiefer in mein Loch zu bringen. Denn lange habe ich nach dem Motto gelebt „Einmal richtig tief rein und dann ist danach aber auch wieder gut.“ Zu diesem Zweck hab ich mir ganze Playlists angelegt, die mich möglichst schnell in eine möglichst „kaputte“ Stimmung bringen konnten. Und können.

Die Frage „Bin ich traurig, weil ich diese Musik höre oder höre ich diese Musik, weil ich traurig bin?“ hat sich bei mir oft erübrigt. Ich habe Lieder genutzt, um auf der Klaviatur der miesen Gefühle wahre Miseren-Orgien zu vollbringen. Und manchmal werden auch die positiven Lieder weiter geschaltet, weil ich noch ein bisschen in meiner Dunkelkammer bleiben möchte

So manches Lied da draußen schafft es einfach, Dinge auf den Punkt zu bringen, die ich genau so empfinde, aber für die ich selber einfach nicht den richtigen Ausdruck finde. Trifft leider am meisten für die nicht so schönen Seiten meines Lebens zu. Das fühlt sich einerseits gut an, weil es ein bisschen dieses „Ich bin nicht alleine“- Gefühl ist. Auf der anderen Seite kann es auch furchtbar weh tun, sein eigenes „Leid“ so geballt um die Ohren zu gehauen bekommen.

Ich weiß, dass viele Betroffene nur allzugut kennen werden, wovon ich hier schreibe. Dafür habe ich schon mit zu vielen geredet und war in der Vergangenheit in zu vielen Foren auf der Suche nach Liedern, die meine dunkle Seite noch ein bisschen besser und treffender in Töne und Wörter packt. Wie oft ist da zu lesen „Chester versteht einfach, wie ich mich fühle!“ und ähnliches.

In „normalen“ Ohren und Köpfen mögen die Lieder ganz anders klingen. Eine ganz andere Bedeutung haben (oder auch gar keine). Ganz andere Bilder und Gefühle hervorrufen. Aber ich kann ohne Zweifel sagen, dass es eine gut gefüllte Liste an Liedern gibt, die wohl die meisten Borderline-Betroffenen auf ihren Handys und MP3-Playern haben. Das kann kein Zufall sein.

Achtsamkeitsgegner Musik

Wo ich so über Musik und mein Verhältnis dazu nachdenke, fällt mir auf, dass sie manchmal für mich wie eine Anti-Achtsamkeit ist. Es gibt Lieder, die schaffen es einfach mich augenblicklich aus dem Hier und Jetzt zu holen und mich in meine innere Welt aus gestern und morgen zu stecken.

Da bin ich dann wieder Mitten drin, in einer Erinnerung, einem Gefühl, einem Gedanken. Und wie immer bei mir sind diese Emotionen, Stimmungen, Gefühle und Launen dann auch absolut absolut (Wiederholung gewünscht). Ich denke dann nicht „Ah ok, beim nächsten Lied bin ich dann wieder gut drauf“ sondern für die Dauer des Liedes gibt es nur dieses Gefühl.

Und ja, falls das nächste Lied ein absoluter Power-Happy-Song ist kann sich diese ganze Fahrt auch innerhalb von Sekunden wieder umkehren. Und auch das wird sich wieder absolut anfühlen. Klingt anstrengend? Ist es auch. Und genau so gut kann ein Lied der Anfang einer richtigen Talfahrt werden, aus der ich dann nicht mehr hinauskomme. Sondern in mir umherirre wir in einem inneren Gruselkabinett.

Das soll nicht heißen, dass Achtsamkeit und Musik nicht auch ein wunderbares Duo sein können. Manchmal „gönne“ ich mir bestimmte Lieder geradezu. Dann setze ich die Kopfhörer auf oder drehe die Anlage laut auf. Die Augen werden geschlossen und für die nächsten Minuten gibt es nur das Lied.

Eine Art Musik-Meditation also. Wenn meine Gedanken abschweifen hole ich sie wieder zwischen meine Ohren zurück. Und genieße. Das sind dann meistens keine von meinen „bösen“ Liedern, schon klar. Und wie nach einer „normalen“ Meditation fühle ich mich danach erfrischt und glücklich. Musik kann eben vieles bewirken. Schlimmes und Schönes.

Musik und die anderen?

„Aber dann hör doch einfach die Lieder nicht mehr!“ sagen jetzt bestimmt nicht wenige von euch. Das ist natürlich eine sehr naheliegende und in gewissem Rahmen auch genau die richtige Lösung.

Und ok, wenn ich eine wackelige Stimmung habe, dann schaue ich inzwischen ab und zu, dass manche Lieder erst gar nicht bis an meine Ohren kommen. Drücke sie direkt weiter, wenn sie es doch mal tun. Aber ich bin eben nicht immer Herrin über die gespielte Musik. Denn da gibt es ja noch diese zwei Dinge: Radio. Und andere Menschen.

Und so passiert es leider gar nicht so selten, dass mich eines „meiner“ Lieder kalt erwischt. Und weghören kann ich dann nicht. Das kann ich bei Musik generell nicht, sie ausblenden. Ich muss dann also mit dieser Delle in meiner Stimmungskurve klar kommen. Und abwarten, was die nächsten Minuten und Lieder so mit mir anstellen.

Schwierig wird es auch, wenn andere Menschen über eines von „meinen Liedern“ sprechen. Sagen, wie toll es ist oder wie sehr sie sich darin wiederfinden. Da meldet sich in mir automatisch ein „DU HAST DOCH KEINE AHNUNG!!!“ Und ich würde das Lied am liebsten nehmen, ganz fest an mich drücken und sagen „Ist schon gut, ich versteh dich wirklich!“.

Mal wieder weiß meine Ratio, wie bescheuert das ist. Weder kann ich in die Köpfe der Menschen schauen, die das Lied bis zu mir gebracht haben. Ich kann nicht wissen, welche Absichten, Gedanken, Gefühle dahinter stecken. Ich kann nur interpretieren. Mit meinem Kopf. Und genau so wenig kann ich anderen Menschen absprechen oder am besten sogar verbieten, einen mir wichtigen Song für sich auszulegen. Wer bin ich denn?

So manch einer in meinem Umfeld mag mich für einen kleinen Musik-Nazi halten, weil ich bei dem Thema doch sehr bestimmend sein kann und oft versuche bzw. auch schaffe, meinen Willen durchzusetzen. Vielleicht versteht ihr dieses Verhalten nach der Lektüre dieses Artikels ein wenig besser. Musik kann einfach wirklich „gefährlich“ für mich sein – ich meine das auf keinen Fall böse. Es ist einfach eine Art Selbstschutz. Euch mag ein Lied nicht gefallen, mich kann es in ein Loch fallen lassen.

At the mercy of music

Also, was tun? Wie lautet die Lösung? Keine Musik mehr hören? Ne danke, dann könnte ich mich wirklich gleich selber ausschalten.

Ich möchte nicht auf Musik verzichten! Keinen Tag und schon gar nicht für immer. Ich möchte Musik auch nicht schlecht reden oder verteufeln. Viel mehr möchte ich euch klar machen, wie viel Macht sie haben kann.

Und ja, in diesem Artikel geht es nun hauptsächlich um die zerstörerische Macht. Aber Musik hat ja auch tolle Seiten. Nicht nur kann sie gute Laune machen. Sie kann verbinden, sie kann erzählen, sie kann motivieren – ich finde immer wieder erstaunlich, zu welchen Zwecken Menschen Musik so alles einsetzen.

Der dunkle Teil, über den ich hier schreibe, ist wahrscheinlich nur ein sehr kleiner Teil davon – so global gesehen. Aber in meinem Leben eben doch ein sehr wichtiger und entscheidender. Aber deswegen werde ich nicht aufhören, gewisse Bands oder so manchen Song zu hören.

Einige von den Lieder, die mich durch meine „dunklen“ Jahre begleitet haben, sind einfach schöne Musikstücke. Haben tolle Texte. Sind geil arrangiert. Drücken was Einzigartiges aus. Oder sind auf andere Weise hörenswert. Sie also einfach kaltherzig zu verbannen, fühlt sich irgendwie falsch an.

Eine Teillösung lautet wohl oder übel, dass ich lernen muss, mit diesen Faustschlägen in die Gefühlsgrube umzugehen. Ein zweiter Ansatz ist, dass ich, so wie früher die Runterzieh-Playlists, es nun auf meinen diversen Geräten auch Raufzieh-Listen mit jeder Menge Gute Laune Songs voll Power und Spaß und Freude gibt.

Vielleicht nicht der hilfreichste aller Artikel. Aber das musste mal raus. Und jetzt: Musik ab!

Von der Diagnose nach Hamburg

Lesezeit: 6 minuten

Von der Diagnose nach Hamburg

Wie ich zu meiner Diagnose gekommen bin, wisst ihr seit diesem Artikel. Wie es dann aber weiter ging, hab ich euch bisher noch nicht erzählt. Was macht es mit einem, wenn man so einen Diagnose-Brocken vor die Füße geworfen bekommt bekommt?


Endlich ist es an der Zeit, meine Geschichte weiter zu schreiben. Prinzipiell ist dieser ganze Blog ja ein einziges großes „Nach der Borderline-Diagnose“. Hier und heute wird es aber darum gehen, wie ich vom ersten „Borderline“ auf die Station 2E der Schön Klinik in Hamburg gekommen bin.

Es ist eine BPS!

Herbst 2013 – die Diagnose ist da. Es ist eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ. Herzlichen Glückwunsch! Wie ich schon in Mein Weg zur Borderline-Diagnose geschrieben habe, kam nach dem ersten Schock die große Erleichterung. Aber warum Erleichterung?

Ihr könnt euch das Gefühl nicht vorstellen, als ich wenige Tage nach der Diagnose das erste Mal in einem Buch über Borderline las. Einerseits zu erfahren, dass es andere Leute gibt, die genau die gleichen Macken haben wie ich. Die die gleichen Kämpfe mit ihrem Kopf führen. Die Erfahrungsberichte anderer Betroffener fühlten sich teilweise so an wie direkt aus meinem Leben raus kopiert.

Und das zweite tolle war, zu lesen, dass es Menschen gibt, die für die vielfältigen Probleme und die bunte Symptomatik der Borderline-Persönlichkeitsstörung Lösungsansätze haben. Dass es Therapien gibt. Dass es besser werden kann. Wenn ich heute daran zurückdenke habe ich noch genau das gleiche Gefühl im Bauch, wie damals. Ein „Du-bist-nicht-allein-und-es-gibt-Hilfe“-Gefühl.

Natürlich bleibt man auch nach einer Diagnose der gleiche Mensch. Aber ich muss schon sagen, dass ich mich danach mit anderen Augen gesehen habe. Die Diagnose-Brille lässt einen genauer hinschauen.

Es ist ein bisschen wie mit einer Maschine, die nicht rund läuft. Und wenn man kein Experte für diese Maschine ist, dann tut man eben sein bestes, um das Ding irgendwie am Laufen zu halten. Klebt hier ein bisschen Tape drauf, schmiert da ein bisschen Fett hin. Und die Maschine läuft weiter. Jeder Profi würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber man weiß es eben nicht besser und bemüht sich sehr.

Und dann kommt jemand und sagt „Die Maschine kenn ich – hier ist die Bedienungsanleitung.“ Kein blindes Rumprobieren mehr, sondern an den richtigen Stellen mit dem richtigen Werkzeug ansetzen. Natürlich heißt das nicht, dass die Maschine nun von heute auf morgen reibungslos funktioniert und alles rund läuft. Die Macken und Schwachstellen hatten schließlich lange genug Zeit, um im Material ihre Spuren zu hinterlassen. Aber trotzdem – es ist ein Anfang.

Einmal Bruch, bitte!

Aber eben erst der Anfang. Denn da saß ich nun also in München mit meiner neuen Bekannten, der Borderline-Diagnose, hab Bücher gelesen, das Web durchsucht, bin zu meiner Therapeutin. Und hab mich gefragt „Na, und jetzt?“.

Ich hab dann recht bald gemerkt, dass das so nichts wird. Alles läuft weiter wie bisher, mit dem einen Unterschied, dass ich einmal die Woche zur Therapie laufe. Es muss sich was ändern. Nicht schleichend und langsam, sondern mit einem Knall.

Die Diagnose aka Bedienungsanleitung alleine reicht noch nicht. Sie will durchgearbeitet, verstanden und angewendet werden. Und für mich hieß das ohne langes Überlegen – aus allem raus. Von allem weg. Einmal reset, sozusagen. Und an diesem Punkt tauchte dann – vielleicht zwangsläufig – irgendwann das Wort „stationär“ auf.

Man könnte denken, der Gedanke, sich über mehrere Wochen selber in eine Klinik zu stecken, muss einem Angst machen. Bei mir war es genau das Gegenteil. Eine Mischung aus Vorfreude, Aufregung, Nervosität – und ja, natürlich – ein bisschen Bammel war schon auch dabei.

Der größte Schritt für mich war wohl, das erste Mal in meinem Leben keine Rücksicht auf andere zu nehmen. Jetzt sollte es mal nur um mich gehen. Bisher stand immer jemand anders auf Platz 1 meiner Wichtigkeits-Liste. Mich selber ohne Kompromisse in meinen eigenen Mittelpunkt zu stellen – das stand jetzt mal an.

Freunde & Familie

Ich hatte weder das Bedürfnis noch sah ich einen Grund, meine Entscheidung an die große Glocke zu hängen. Dazu war die Diagnose und meine Entscheidung wohl auch noch zu frisch. Ein paar wenige enge Freunde hab ich eingeweiht. Und da gingen die Reaktionen von bewundernd über Respekt bis zu erschrocken, würde ich mal zusammen fassen.

Die Freunde, denen ich was gesagt hab, wussten zu dem Zeitpunkt aber immerhin alle wenigstens ein bisschen Bescheid, was mit mir los ist. Keiner alles und wahrscheinlich auch niemand, wie schlecht es mir wirklich ging. Aber meinen Arm zum Beispiel hab ich vor ausgewählten Kreisen irgendwann aufgehört zu verstecken.

Ganz im Gegensatz zu meiner Familie. Die hab ich wohl am meisten mit der Sache überrascht. Bisher hatte ich meine kleinen und großen Problemchen ziemlich komplett für mich behalten. Sozusagen im Stillen gekämpft. Ob sie oder irgendjemand anders irgendwann mal was geahnt hat, kann ich heute nicht sagen. Jedenfalls hat mich nie jemand angesprochen.

Wie ich hier und da schon angedeutet habe, war für mich lange Zeit das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte, dass meine Familie irgendwas davon mitbekommt, wie sehr ich immer wieder am kämpfen bin. Dass ich mich selbst verletzte. Und auch sonst ziemlich selbstschädigend unterwegs war.

Und deswegen war dieser Teil für mich wohl auch der schwierigste. Den ich auch nicht persönlich übers Herz gebracht habe, sondern nur per E-Mail. Und erst, als ich schon in Hamburg war. Leicht war es natürlich trotzdem nicht – aber im Nachhinein nicht annähernd so „schlimm“ wie ich es mir die Wochen, Monate, Jahre zuvor vorgestellt hatte. Gegen Ende der Therapie hab ich dann auch familiären Besuch in Hamburg bekommen bzw. zugelassen. Alles andere muss bis zu einem anderen Post warten.

Jeder, der sich nicht durch gute Freundschaft, Familienzugehörigkeit oder andere Umstände für die Wahrheit qualifizierte – und den interessierte, wo ich denn die ganze Zeit steckte – hat eine sehr vage „Praktikum-in-Hamburg“-Variante aufgetischt bekommen. Das war’s.

Das Organisatorische

Und dann gab es ja auch noch so Thema Uni bzw. Arbeit. Man muss vielleicht von Glück sprechen, dass ich zum Zeitpunkt des Beginns meiner stationären Therapie bereits in meinem letzten Bachelor-Semester war. Alle Seminare, Vorlesungen und Prüfungen hatte ich schon hinter mir – übrig war nur noch die Bachelor-Arbeit.

Hier war also ein weiteres Hosen-runter angesagt. Vor meiner Dozentin und meinem Betreuer. Hab gar nicht versucht, lange drum herum zu reden sondern ihnen gesagt, ich müsse Anfang Mai eine stationäre Therapie machen. Warum genau, das hab ich nicht gesagt. Nicht, weil es mir unangenehm oder peinlich gewesen wäre, sondern einfach, weil ich finde, dass sie das nichts angeht.

Durch meine Abwesenheit würde ich Seminare verpassen, die im Rahmen der Bachelor-Arbeit eigentlich Pflicht sind. Darin geht es aber „nur“ darum, die Kommilitonen und die Dozenten auf den neuesten Stand zu bringen, wie weit man mit den Vorbereitungen der Bachelor-Arbeit schon ist. Sobald diese Veranstaltungen durch sind, geht die „offizielle“ Bearbeitungszeit los. Und auch während dieser würde ich eben in Hamburg sein.

Begeistert waren meine zwei zuständigen Dozenten nicht. Aber ich habe die ganze Sache nicht als Frage oder Option dargestellt, sondern klar gesagt, dass das so sein muss. Lediglich die mündliche Prüfung konnte ich nicht im gleichen Zeitraum wie meine Kurs-Kolleginnen absolvieren, das hab ich dann erst nachholen können als ich aus Hamburg zurück war.

Da saß ich dann also in Hamburg, und hab auf Station zwischen meinen Therapien, Sitzungen und Terminen an meiner Bachelor-Arbeit gesessen. Und dann irgendwann eine Druckerei in Hamburg gesucht, das gute Stück drucken und nach München schicken lassen. (Wen’s interessiert: Bachelorarbeit 2,3, Disputation 1,7 – find ich für die Umstände ganz passabel)

Und dann gibt es da natürlich noch die Themen Arbeit und Geld. Bei dem Café, bei dem ich damals gearbeitet hab, habe ich gesagt, ich bräuchte jetzt all meine Zeit für meine Bachelorarbeit. Ich hatte zwar keine großen Ersparnisse im Vorfeld der Therapie ansammeln können, dafür ging das dann alles doch zu schnell, aber durch die „Rundumversorgung“ in der Klinik und etwas Unterstützung von Arvid habe ich dann auch das hinbekommen.

Der Weg nach Hamburg

So, Uni geregelt, Arbeit klar, Umfeld mehr oder weniger informiert – aber wie bin ich denn jetzt nach Hamburg gekommen? Ist ja nun nicht die nächste Klinik.

Stationär sollte es also sein. Von Anfang an war klar „Nicht in München“. Ich wollte wirklich einen Cut, einen Bruch, eine klare Kante zu meinem bisherigen Alltag. Und dann begibt man sich auf die Suche durch das große, weite Internetz. Und findet da auch was. Aber nicht wirklich viel, um ehrlich zu sein.

Neben „Nicht-München“ war für mich klar, dass ich wohin möchte, wo nicht nur das Thema Borderline, sondern auch das Thema Alkohol professionell angepackt wird. Denn dass der bei meiner ganzen psychischen Problematik kräftig seine Finger im Spiel hat, konnte auch ich quasi nicht mehr übersehen. Anspannungs-Regulations-Mittel erster Klasse und Güte.

Wenn man nach dieser Kombination sucht, dann findet man (oder zumindest war es damals, als ich gesucht habe) genau drei Kliniken. Hamburg, Erlangen und irgendwo in der Mitte Deutschlands. Nach Erlangen bin ich sogar gefahren und hab mir die Station angeschaut – war aber irgendwie gruselig. Und da ich eh noch nie in Hamburg war, den Norden aber prinzipiell mag und die Klinik auch noch einen „netten“ Eindruck machte – hab ich mich dort beworben.

Telefonate, ein sehr langes und detailliertes Bewerbungsschreiben meinerseits – und dann kam der Zuschlag. Früher als erwartet bekam ich nach nur wenigen Wochen – statt wie angekündigt mehreren Monaten – den Bescheid, dass ich am 03. Mai 2014 meine stationäre DBT-S-Therapie auf der Station 2E der Schön Klinik in Hamburg-Eilbek beginnen könnte. Ich wusste ja noch nicht, was mich erwarten würde.

BPD Symptome erklärt | N°9

Lesezeit: 6 minuten

Was gucken die denn alle so?“ – „Wer?“ – „Na, alle!“

BPD Symptome erklärt | N°9

Last but not least Symptom: Paranoia und Dissoziation. Hier erwartet euch vielleicht nicht ganz, was ihr erwartet.

In der Reihe BPD Symptome erklärt möchte ich euch nach und nach anhand der „offiziellen Kriterien“ des DSM die Symptome der Borderline Persönlichkeitsstörung vorstellen. Wie bei allen Beiträgen auf meiner Seite gilt: hier geht es um meine Welt, um meine Erfahrungen, um meine Ansichten. Heute geht es zu Kriterium N°9:

Vorübergehend paranoide Vorstellungen oder dissoziative Gefühle wie Selbstentfremdung infolge von Belastungssituationen


Das 9. und damit letzte Symptom auf der „offiziellen“ Diagnose-Liste ist mal wieder eines, was mich (zum Glück) nur so halb trifft. Die paranoiden Vorstellungen kenne ich sehr gut. Dissoziative Gefühle dagegen kaum. Was genau darunter jeweils zu verstehen ist und wie ich die Dinge erlebe, lest ihr nun hier.

Paranoia wer?

Paranoia – was ein schweres und hartes Wort. Beim ersten Mal überfliegen der klassischen Symptomauflistung habe ich diesen Punkt geradezu überlesen. Ich bin doch nicht paranoid. Ha! Denkste. Denn gerade in Bezug auf Borderline hatte ich ein ziemlich falsches Bild der Sache.

Unter Paranoia habe ich verstanden, die eigene Wohnung nicht mehr zu verlassen aus Angst vor Menschen, Aliens, Bakterien oder Strahlung. Oder sich alle zwei Schritte aus Angst vor Verfolgung umzudrehen. Und so weiter. Das stimmt zwar irgendwie auch alles, bzw. kann stimmen. Aber paranoide Vorstellungen können auch viel „kleiner“ ausfallen.

Wikipedia drückt es so aus: Die Betroffenen leiden an einer verzerrten Wahrnehmung ihrer Umgebung in Richtung auf eine feindselige (im Extrem bösartig verfolgende) Haltung ihrer Person gegenüber.

Und das trifft es dann schon besser. Auch wenn es sich bei Borderlinern meist „nur“ um paranoide Vorstellungen und keine ausgewachsene Paranoia handelt, kann dieses Symptom einem das Leben ganz schön schwer machen. Bei mir – und auch bei vielen anderen Betroffenen – äußert sich das so, dass man einfach ständig denkt, alle um einen herum beobachten einen. Sprechen über einen. Machen sich lustig. Lästern. Ob die Kommilitonen im Hörsaal, die besten Freunde wenn man vom Klo kommt oder Fremde auf der Straße, die einem „so einen komischen Blick“ zuwerfen.

Mein Erleben des Symptoms in einem Absatz: Alle beobachten mich. – Alle sind gegen mich.Keiner mag mich wirklich. Das sind wahrscheinlich drei der zentralsten Gedanken, die meine paranoiden Vorstellungen angeführt haben. Und die beiden zentralen Strategien im Umgang mit diesen Gedanken sind 1. Sich zu verstellen, keinem zeigen, wer man wirklich ist, dann haben sie nichts gegen mich in der Hand. und 2. Niemandem vertrauen, keinem zu nahe kommen, lieber alleine bleiben – sonst wird man nur enttäuscht, verletzt, vorgeführt oder alles zusammen.

Scheinwerfer an!

Als hätte man einen riesigen Scheinwerfer über sich, der einen permanent in strahlen helles Licht taucht. Und dazu steht man noch auf einem Podest. Damit auch wirklich ALLE einen sehen können. So hat es sich für mich lange angefühlt, durchs Leben zu gehen.

Dieses ständige Gefühl des Beobachtet-Werdens, das einen durch den Alltag begleitet und nicht loslässt, ist enorm belastend. Es verursacht einen hohen Druck, keine Angriffsfläche zu bieten. Bloß keine Fehler. Keine Mängel. Keine Ausrutscher. Sonst ist man das Gespött aller. Noch mehr als man es sowieso schon ist.

Ich hab mich in der Gegenwart von anderen Menschen nie „frei“ gefühlt – sondern immer befangen. Nie entspannt sondern immer auf der Hut. Dieser Stress hat bei mir dazu geführt, dass ich mich einfach lieber von anderen Menschen fern gehalten habe. Für mich alleine geblieben bin. Während meines Studiums zum Beispiel nicht in die Mensa gegangen bin – sondern allein im Englischen Garten Pause gemacht habe. Im Hörsaal immer ganz hinten saß. Abstand herstellen. Denn dann fällt dieser ganze Druck zwar auch an, aber geringer. Entfernter. Situationen, die für andere normal sind, lösen bei mir Anspannung und Hochstress aus.

In Gesellschaft anderer verstellt man sich oft, um sich den Vorstellungen, die man über die Vorstellungen der anderen hat, anpassen zu können. Um das Gerede und Geläster möglichst klein halten zu können. Das ist anstrengend, aber eine wirkliche Alternative gibt es nicht. Und für jemanden, der sowieso ein sehr instabiles Selbstbild hat, macht dies das Leben natürlich nicht einfacher.

Freund und Feind

Wer jetzt denkt, dieses Symptom beschränkt sich nur auf Fremde, Zufallsbegegnungen oder entfernte Bekannte, den muss ich leider enttäuschen. Wie oben schon angedeutet gelten die gleichen Regel auch für die Familie, die Kollegen und auch die engsten Freunde. Niemand ist vor den paranoiden Gedanken eines Borderliners sicher.

Und genau das macht jede Art von Beziehung zu einem Betroffenen auch oft so schwer, oder so anstrengend. Wie soll man ein Vertrauensverhältnis aufbauen wenn eine der beiden Parteien ständig an den Grundlagen der Beziehung zweifelt.

Auch die nettesten, liebsten und best gemeinten Worte habe ich umdeuten können – oder tue es heute noch ab und zu. Automatisch. Bis sich meine Ratio einschaltet und versucht, die Sache zu beenden.

Bestimmt spielt diese ganze Geschichte auch bei dem mir unbekannte Zugehörigkeitsgefühl aus Borderline goes München eine Rolle – so wie sich die einzelnen Symptome an vielen Stellen mischen und zusammenarbeiten. Wer seiner Umwelt unterschwellig immer böse Absichten und einen doppelten Boden unterstellt, dem wird es schwer gelingen, sich einfach mal irgendwo aufgenommen, angenommen und entspannt zu fühlen.

Dissoziationen

„Richtige“ Dissoziationen kenne ich zum Glück nur von anderen Betroffenen. Auch wenn ich also (leider) nicht aus eigener Erfahrung berichten kann, möchte ich das Thema trotzdem kurz behandeln.

Auch hier greife ich zum besseren Verständnis auf wikipedia zurück. Dort heißt es Der Begriff Dissoziation beschreibt in der Psychologie die Trennung von Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten, welche normalerweise assoziiert sind. Hierdurch kann die integrative Funktion des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und der Identität beeinträchtigt werden. und weiter Bei Dissoziationen handelt es sich um eine vielgestaltige Störung, bei der es zu einem teilweisen oder völligen Verlust von psychischen Funktionen wie des Erinnerungsvermögens, eigener Gefühle oder Empfindungen (Schmerz, Angst, Hunger, Durst, …), der Wahrnehmung der eigenen Person und/oder der Umgebung sowie der Kontrolle von Körperbewegungen kommt. Der Verlust dieser Fähigkeiten kann von Stunde zu Stunde unterschiedlich ausgeprägt sein.

Aus der Klinik und Büchern kenne ich Betroffene, die regelmäßig dissoziieren, sich dann nicht an Minuten, Situationen, Erlebnisse oder Begegnungen erinnern können. Nach außen hin sind diese dissoziativen Zustände schwer zu erkennen. Das gelingt oft nur Profis und auch nur wenn sie den Betroffenen schon lange kennen oder intensiv mit ihm gearbeitet haben. Mehr zum Thema Dissoziation und Borderline findet ihr zum Beispiel bei der borderline-plattform oder hier.

Meine Besserung

Mir hat erstmal wieder sehr gut getan, als ich nach meiner Diagnose in Büchern gelesen und in Hamburg gelernt habe, dass viele andere Betroffene das Gefühl des ständigen Beobachtet-Seins kennen. Wissen, wovon ich spreche.

Inzwischen habe ich verstanden, dass die meisten Menschen die meiste Zeit einfach so sehr mit sich selber beschäftigt sind, dass sie weder Zeit noch Energie noch Interesse an meiner Person haben. Es gibt keinen Scheinwerfer und auch kein Podest. (Hier war ein wichtiger Moment für mich, als ich gegen Ende meines Studiums zum ersten Mal mit einer bestimmten Kommilitonin gesprochen habe und ich mir sicher war, sie würde mich kennen und so etwas sagen „du sitzt doch immer da hinten oben, ganz links“ und sich dann herausstellte, dass sie überhaupt nicht wusste, dass ich seit fast drei Jahren mit ihr studierte. Für andere wäre dies vielleicht ein trauriger, enttäuschender oder schmerzhafter Moment gewesen. Für mich war er aber irgendwie sehr erleichternd und befreiend.)

Das war deswegen vielleicht am Anfang schwer zu verstehen, weil ich – ob das jetzt typisch Borderline ist oder einfach ich bin, weiß ich nicht – extrem offene Sinne habe. Meine Antennen stehen immer auf vollen Empfang, ich bekomme mehr von meiner Umwelt mit, als die „normalen“ um mich rum. Und lange dachte ich, jeder Mensch ist so.

Ich habe es inzwischen geschafft, entspannter mit mir und damit, wie mich andere wahrnehmen, umzugehen. Gelernt, dass die Welt nicht gleich untergeht wenn jemand über mich redet.

Auch heute noch können mich schräge Blicke in der Bahn (vielleicht sogar plus Getuschel), zweideutige Kommentare in der Arbeit oder von Freunden sehr schnell sehr unsicher werden lassen. Dann springt alles alte wieder an – „die mögen dich eigentlich gar nicht“. Manchmal kann ich das schnell wieder abschütteln, machmal bleibt es ein bisschen an mir kleben. Das Wichtige aber ist: die paranoiden Vorstellungen haben keinen so großen Einfluss mehr auf mein Leben, mein Verhalten – so wie sie es über viele Jahre hatten. (Alleine in ein Yoga-Studio auf Bali gehen, in dem ich noch nie war, in dem ich niemanden kenne? Wäre früher unmöglich gewesen! Aber genau das habe ich vor wenigen Wochen getan!)

Nach wie vor finde ich es unangenehm, wenn ich unfreiwillig in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerate – weil ich etwas peinliches gemacht oder das falsche gesagt habe. Und nach wie vor kämpfe und hadere ich mit solchen Situationen vermutlich stärker als andere. Manchmal auch noch eine Woche, zwei Monate oder drei Jahre später. Aber zu einem gewissen Teil habe ich wohl akzeptiert, dass ich das das nie ganz abstellen können werde.

Ein wirkliches, 100-Prozentiges Vertrauen in eine andere Person, in eine Freundschaft oder Beziehung werde ich vielleicht nie erreichen können. Es werden immer die Verzerrung ins Feindselige, die Zweifel und nagenden Stimmen in meinem Kopf bleiben. Aber heute sind da auch andere Stimmen und Erklärungen, die mir dabei helfen, mich nicht mehr so davon beeinflussen zu lassen.

Was hilft?

Angehörige können mal wieder vor allem durch helfen, dass sie dem Betroffenen Rückmeldung zu seiner Wahrnehmung geben. Eine zweite Sicht aufzeigen, alternative Interpretationen der Situation liefern und dem Borderliner so zeigen, dass seine (paranoide) Wahrnehmung nur eine mögliche Variante ist.

Mit Worten zu beteuern, dass man den Betroffenen wirklich mag/liebt/schätzt bringt aus meiner persönlichen Erfahrung nur bedingt etwas. Die Zweifel bleiben. Natürlich kann man versuchen, durch seine Worte und Taten die Zweifel im Borderline-Kopf nicht noch weiter anzufachen, aber das darf nur so weit gehen dass der Angehörige sich nicht selber einschränken muss.

Rücksicht darf und sollte da sein. Aber ich kann jedem Angehörigen nur raten, sich nicht aus Angst oder Umsicht anders zu verhalten – auch das schafft der Borderline-Kopf im Zweifelsfalle nur zu seinen Zwecken zu deuten.

Den Betroffenen will ich sagen – dieser Punkt ist bei mir nach Therapiebeginn mit am schnellsten besser geworden. Der wichtigste Schritt ist wohl wieder, sich die Mechanismen überhaupt mal bewusst zu machen. Damit man dann etwas hat, an dem und mit dem man arbeiten kann.

In diesem Falle „Mein Kopf verzerrt die Realität und meine Beobachtungen oft ganz schön ins unrealistische und negative – und immer zu meinen Ungunsten.“

So, und jetzt geh ich raus aus euren Köpfen.

Recovery und Relapse – B

Lesezeit: 6 minuten

Recovery und Relapse – B

Part B | Immer noch geht es um Recovery und Relapse. Darum, was sich mit fortschreitender Recovery verändert und was bleibt. Dass nicht immer alles nur besser wird aber ich trotzdem weiter mache.

Gerade als dieser Artikel in meinem Kopf langsam Gestalt annimmt erreicht mich der neue Blogpost einer britischen Blogger-Kollegin, die ebenfalls über ihre Erfahrungen mit Borderline schreibt. Diesmal trägt ihr Text den Titel „The battle inside my head“. Als ich ihn gelesen hatte musste ich ihr sofort schreiben, wie sehr ich mich in ihren Worten wiedergefunden habe. (Und weil ich gerne teile lest ihr in diesem Post mehrere Zitate aus ihrem Artikel, über einen Besuch auf ihrer Seite freut sie sich aber bestimmt trotzdem.)

Als ich einmal angefangen hatte, über all die Dinge die gerade so in meinem Kopf sind, zu schreiben, gab es gar kein Ende mehr. Und damit ich euch nicht mit einem langen Text erschlage habe ich diesen Post zweigeteilt. Dies hier ist der zweite Teil, der erste Streich nennt sich Recovery und Relapse – A


Am Ende von Teil 1 dieses Textes ging es darum, wie ich aus meinen Relapse-Löchern wieder herausfinde. Und eigentlich nur darum, dass ich mich da immer irgendwie selber an den Haaren draus rausziehen muss. Vielleicht hat sich der ein oder andere gefragt, wie es denn eigentlich mit Hilfe von außen ist. Kann man mir helfen, wenn ich im Loch sitze?

Gute Frage – einfach zu beantworten. Bestimmt kann man mir irgendwie helfen. Aber bisher habe ich dieses irgendwie noch nicht gefunden. Und ich gebe zu: ich habe auch nicht wirklich danach gesucht. Denn ich würde dieses Wissen sowieso nicht anwenden. Ich bin einfach nicht besonders gut darin, um Hilfe zu bitten.

In der Klinik und auch in meiner ambulante Therapie geht es immer wieder um Glaubenssätze. Das sind verinnerlichte Ansichten, die einen seit der frühesten Kindheit begleiten. Am Anfang dachte ich noch, so was gäbe es bei mir nicht. Hach, wie falsch ich da mal wieder lag. Denn es gibt so einige. Und der Glaubenssatz, der mich wohl am meisten steuert und kontrolliert ist „Ich schaff das alleine.“ Egal was.

Woher dieser Glaubenssatz kommt, warum er da ist – spielt keine Rolle. Für mich bedeutet er, kurz und knapp gesagt: ich will nicht, dass mir jemand helfen muss. Ich hasse es, zu zeigen, dass es mir nicht gut geht. Dass ich gerade kämpfe. Dass ich gerade in einer Wolke aus Depression umherlaufe. Oder dass ich seit Tagen immer wieder denke „Ritzen wäre ne gute Idee.“

Ich wehre mich schon genug dagegen, mit diese Dinge selber einzugestehen. Da muss ich sie nicht auch noch jemand anderem auf die Nase binden. Ich hasse es zu spüren, dass ich jetzt vielleicht gerade Hilfe gebrauchen könnte. Und ich möchte auch nicht, dass ich mir selber helfen muss. Meine Armee aus Kraft und Wissen an die unzähligen Fronten schicken muss, damit sie Kriege führen, die ich schon lange als beendet gewähnt hatte.

Kein weiß ohne schwarz

Was die Sache vielleicht gerade noch schwerer macht ist, zu wissen, wie es auch aussehen kann. Früher waren die endlosen Gedankengefechte in meinem Kopf, die Gefühlsturbulenzen im Herz, die Wut- und Anspannungsbälle im Bauch einfach das einzige, was ich kannte. Hoffnungslosigkeit, Selbsthass, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Selbstzweifel waren meine täglichen Begleiter. Eigentlich meine einzigen Bekannten. Heute weiß ich, dass es da noch viel mehr gibt. Dass es ein Leben, einen Alltag geben kann, in dem ich nicht ständig an allen Fronten gegen mich selber kämpfe.

Sometimes I tell myself – at least there is a battleground. At least it is a fight rather than a walkover. Because it wouldn’t be without the battle. In the past, the emotions I was feeling and the words that I was hearing in my head, would have felt like the only possibility and the only reality. They would have been experienced as fact, without question.

Life in a Bind

Früher gab es für mich nur die kaputte Dommi. Die komische Dommi, die irgendwie nichts hinbekommt und es nur mit Hilfe einer ordentlichen Dosis selbstschädigenden Verhaltens schafft, auf Kurs zu bleiben. Ich habe nicht geahnt, dass da noch viel mehr ist.

Man sagt immer so schön, dass man die Hochs des Lebens erst so richtig genießen kann, wenn man auch die Tiefs kennt. Dass man nur glücklich sein kann, wenn man auch traurig kennt. Dass man sich erst so richtig über die Sonne freut weil man weiß wie doof Regen sein kann und so weiter.

Die eine Seite kenne ich zur Genüge. Die andere habe ich vor kurzem erst entdeckt. Und manchmal scheine ich diese neue, gute Seite – die „heile“ Dommi, die läuft und Yoga macht und sich gesund ernährt und den Skill „Entscheidung für den neuen Weg“ so richtig und wichtig findet – gar nicht mehr loslassen zu wollen.

Ich kämpfe damit, dass die Wechsel normal sind. Dazugehören. Dass es gesund ist, nicht immer auf einem Level zu verharren. Leider bedeuten bei mir die Ausschläge nach unten oft gleich richtige Talfahrt. Und nicht nur eine kurze Delle. Aber immerhin kenne ich jetzt die Kehrseite. Ich weiß also, wofür ich jeden Tag mit mir selber kämpfe. Und das alleine ist eigentlich schon eine ganz schön tolle Sache.

Authentizität vs. Wunschbild

Nach außen sind diese ganzen Kämpfe, die ich da mit mir austrage, eigentlich nie sichtbar. Weil ich nicht anders kann oder will – auch das ist eine andere Frage.

Auf jeden Fall trete ich heute sehr oft sehr selbstsicher auf, wenn es um das Thema Borderline geht. So, wie ich darüber rede bekommen meine Gegenüber wohl schnell den Eindruck, dass ich erfolgreich austherapiert bin und mich jetzt einfach noch weiter damit beschäftige. Oder vielleicht noch mit den Nachwehen meiner Persönlichkeitsstörungen zu tun habe. Wenn überhaupt. Es wird einfach sehr gerne vergessen bzw. ausgeblendet, dass ich eine ganz schön ernsthafte Erkrankung mit mir herumtrage. Immer.

I walk around in an ordinary way, doing ordinary things; but I am the walking wounded, only half alive because so much energy is being drained away, dealing with what is happening inside.

Life in a Bind

Und irgendwie ist das ja auch gut, ich möchte auf keinen Fall immer als „die Borderlinerin“ gesehen werden. Aber mittlerweile habe ich fast ein schlechtes Gewissen meiner Umwelt gegenüber, Wenn ich eine neue Runde auf der Relapse-Bahn drehe. Wenn der Schalter von Recovery auf Relapse springt. Wenn die Borderline mal wieder am Steuer der Achterbahn sitzt. Wenn die Depression sich auf meiner Couch einnistet.

Die „gesunde Dominique“ ist wie die „kranke Dominique“ ein Teil von mir. Ich bin nicht „geheilt“. (Siehe auch Grundkurs Borderline zum Thema Heilung) Ich bin nach wie vor Borderlinerin. Auch wenn ich über die letzten Monate verdammt viel gelernt habe. Arbeit in mich gesteckt habe. Und ganz klar: ja, es geht mir heute besser als früher. Irgendwie.

Ich will gleichzeitig authentisch sein und nicht am Bild der „heilen, starken“ Dominique rütteln. Es fühlt sich falsch an. Und das führt dann wiederum verstärkt dazu, dass ich mich in schlechten Phasen wieder sehr zurückziehe, von allen distanziere und meine dunklen Kriege mit mir alleine führe. Und erst recht nicht um Hilfe frage.

Schwarz-Weiß-Denken

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung bringt es mit sich, dass für Betroffene die Welt, eine Sache, ein Mensch oft entweder NUR gut, super, toll ist oder NUR schlecht, scheiße und unbrauchbar. Das kann im Minuten-, Stunden-, Tage- oder Wochentakt wechseln. Und irgendwie blende ich oft aus, wie sehr dieses Schwarz-Weiß-Denken mein Leben, mein Erleben, meinen Alltag, meine Interaktionen mit anderen Menschen prägt. (Und jetzt gerade merke ich, wie sehr ich darüber mal einen Artikel schreiben möchte und müsste. Kommt!)

Aber zurück: Dieses Entweder-Oder-Denken wirkt sich eben auch auf mein Recovery-Relapse-Erleben aus.

Das heißt also, wenn es mir gut geht, wenn ich gerade eine Aufwärts-Phase habe, dann ist alles gut: mein Selbstbild, mein Selbstvertrauen, meine Pläne, meine Vorhaben. „Mir ging es mal schlecht? – Ach, so schlimm war das doch nicht. Alles halb so wild.“ 

Klingt doch gar nicht schlecht? Stimmt, aber leider funktioniert es genau so, wenn es mir nicht gut geht. Nur eben in die andere Richtung. Dann ist alles schlecht: Ich bin scheiße, kein Selbstvertrauen in mich vorhanden, meine Pläne unbrauchbar, meine Zukunft zum Vergessen. „Mir ging es mal gut? – Kann nicht sein, das wüsste ich. Gut? Wie fühlt sich das an?“

In den letzten Monaten habe ich nun dank Therapie (hier werde ich langsam besser im Hilfe annehmen) gelernt, nach den Grautönen zwischen den beiden Polen zu suchen. Und überhaupt: ich habe gelernt, dass ich, dass mein Kopf, mein Denken, so funktioniert. Und dass ich, mein Kopf, mein Denken mir da was vormacht. Ich versuche, mich gerade nicht mehr so von diesen beiden Seiten mitreißen zu lassen. Sondern öfter meine Ratio und damit Objektivität einzuschalten.

Ich lerne also langsam, dass selten alles nur gut ist. Aber genau so selten alles nur scheiße.

The battleground means that resistance is alive – on both sides. Resistance to the self-sabotaging parts of myself and the negative thoughts and emotions; but also resistance to any positive external or internal influence that tries to show me that I have choices, and that all is not as it seems. The battleground means that I’m not just accepting what my inner thoughts are telling me; that I’m not just absorbing every emotion that wants to carry me away.

Life in a Bind

Auf zur nächsten Runde

Wie ich es schaffe, alle Seiten unter einen Hut zu bringen, sie zu einem stimmigen Gesamtbild zusammensetzen, in dem alle Teile und Phasen ihren Platz finden, daran muss ich in den nächsten Monaten noch arbeiten. Und zwar nicht nur in Bezug auf meine Recovery, sondern generell.

Wenn ich das geschafft habe, dann werden mich hoffentlich auch die großen und kleinen Relapse, die der Alltag und das Leben so für mich bereit halten, nicht mehr ganz so doll aus der Bahn werfen können. Weil ich weiterhin weiß, dass die Sonnenseite immer noch da ist, auch wenn ich sie gerade nicht sehe.

Die nächste Talfahrt wird kommen, die nächste Depression irgendwann vor der Tür stehen, das nächste Loch mich irgendwann erwarten. Meine treuen Begleiter aus alten Tagen werden mich irgendwann wieder in ihre Arme schließen. Einzeln oder in Kombination. Und ich werde nicht viel tun können. Außer zu wissen, dass ich schon mal dort war. Und also schon mal wieder rausgekommen bin.

There is also the war with helplessness, hopelessness, desperation, self-criticism and ultimately with the desire to die. I remind myself that I have been here before, that I will see beyond this. But my biggest ally in these times tends to be not words, but waiting; hanging on for dear life until I can once again see that life is dear, or at least liveable with.

Life in a Bind

Also, abwarten und Yogi-Tee trinken.

Recovery und Relapse – A

Lesezeit: 7 minuten

Recovery und Relapse – A

Part A | Ein Artikel über die Kämpfe und Kriege, die eine Recovery so mit sich bringt. Wie sich der Kopf mit den Schlachten ändert. Und warum Rahmen und Routinen für mich lebenswichtig ist.


Gerade als dieser Artikel zu den Tücken der Recovery in meinem Kopf langsam Gestalt annimmt erreicht mich der neue Blogpost einer britischen Blogger-Kollegin, die ebenfalls über ihre Erfahrungen mit Borderline schreibt. Diesmal trägt ihr Text den Titel „The battle inside my head“. Als ich ihn gelesen hatte musste ich ihr sofort schreiben, wie sehr ich mich in ihren Worten wiedergefunden habe. Und weil ich gerne teile, lest ihr in diesem Post mehrere Zitate aus ihrem Artikel, über einen Besuch auf ihrer Seite freut sie sich aber bestimmt trotzdem.

One of the hardest parts of my recovery from BPD is enduring the battleground in my head. The constant, ceaseless, unremitting war of words, its assault deafening my thinking space, and its fallout poisoning the air around my heart. I suspect this is true of many with a mental health condition, irrespective of their diagnosis.

Life in a Bind

Ich bin in Recovery – klingt erstmal toll. Ist es aber nicht immer. Recovery klingt nach guten Tagen, nach alles super, nach „Ich hab’s geschafft!“.

Gerade hab – oder vielleicht hatte – ich einen Relapse – klingt erstmal scheiße. Ist es aber nicht immer. Relapse klingt nach miesen Tagen, nach alles wieder beim Alten, nach „Ich muss nochmal ganz von vorne anfangen“.

Dass ein richtiger Recovery-Relapse-Prozess aber weder das eine noch das andere in Reinform ist, das merke ich grad mal wieder. „Rückfall“ bedeutet nicht immer gleich „zurück zum Anfang“. Sondern diese Rückschritte und Ehrenrunden sind meistens viel kleiner. Manchmal dauern sie nur Momente. Manchmal Stunden. Manchmal Tage. Und manchmal eben Wochen.

Und dann kann es sich auch mal so anfühlen, als hätte man in drei Jahren noch überhaupt nichts erreicht. Als wäre die Lage genau so aussichtslos wie sie am tiefsten aller Tiefpunkte mal war. Dann kommt einem das Wort Recovery wie ein spöttischer Geselle vor, der eigentlich nur dazu da ist, einen auszulachen.

Zwischen den Wörtern

Manchmal bin ich eine Borderlinerin wie sie im Buche steht. Vollblut-Borderlinerin. Wutausbrüche, instabiles Selbstbild, Anspannung. Manchmal nur kurze Momente, manchmal für Stunden, manchmal einen ganzen Tag. Oder mehrere. Und manchmal bin ich Vollblut-Gesund. Achtsam. Yoga-Fan. Läuferin. Meditierende.

Manchmal bin ich nur eines dieser vielen Dinge. Manchmal alles. Mir fällt es oft selber schwer zu erkennen, in welcher Phase ich eigentlich gerade stecke. Wie soll das dann jemand Außenstehendes erkennen?

Bin ich noch krank? Oder schon gesund? Was trifft auf mich zu? Welches Wort passt? Wie will, kann und darf ich meinen Zustand gerade beschreiben? Manche werden vielleicht sagen „Ist doch egal, du bist halt wie es grad ist“. Ich nenne Dinge aber gerne beim Namen. Es hilft mir, zu sortieren. Mit mir zu arbeiten. Ich stehe nicht mehr vor der Borderline. Aber ich bin auch noch nicht drüber. Ich bin auf dem Weg.

Und für diesen Zustand finde ich in der deutschen Sprache einfach nicht das richtige Wort. Im englischen Recovery dagegen finde ich mich wieder. Das Wort beinhaltet alle störrischen deutschen Übersetzungen in einem – Erholung, Gesundung, Besserung, Rückgewinnung, Bergung. Für sich gesehen alles sehr nette Worte. Aber nicht genug um zu beschreiben, wie ich mich fühle. Ich mag an Recovery besonders den „Re“-Teil. Ich hole mir etwas zurück. Und gleichzeitig lege ich andere Dinge ab, decke zu – cover.

Und auch mit Relapse fühle ich mich deutlich wohler als mit dem deutschen Rückfall. Denn Rückfall wiederum ist ganz schön negativ besetzt. „Lap“ bedeutet Runde. Relapse bedeutet für mich, dass man noch eine Runde dreht. Sich nochmal aufmacht. Aber ich bleibe weiter auf dem Weg. Ich kehre nie ganz zum Ausgangspunkt zurück. Ich gehe nicht zurück zum Los. Sondern halte immer ein paar Felder Abstand zwischen mir und dem Vorher.

Hätte ich nicht auf die englische Sprache ausweichen können, hätte ich auf Deutsch wohl am ehesten so etwas gewählt: zwei Schritte vor, einer zurück. Einen Schritt vor, drei zurück. Vier Schritte vor, zwei zurück. Und immer fröhlich so weiter. Oder euch einfach das Bild hier gezeigt:

Recovery - Expectations and Reality | Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
Recovery – Expectations and Reality | Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.

Die ganze Recovery-Geschichte ist im Endeffekt also doch eine Linie, die irgendwie immer bergauf geht. Auch wenn man das nicht immer sehen mag. Manchmal muss man aber vielleicht genau die paar Schritte wieder zurück gehen, damit man erkennt, wie weit oben man eigentlich schon mal war. Und zu merken, dass man da wieder vorbei kommen kann. Vorbeikommen wird.

Krieg im Kopf

„Was genau macht es denn jetzt so schwer? Dir geht’s doch offensichtlich besser als früher? Und du bist gut drauf, warst gerade vier Monate in Asien – so schlimm kann das doch alles gar nicht sein?!“

Meine Antwort: Mit Borderline kämpfst du ständig gegen dich selbst. Egal ob du noch mitten in der Krankheit, vor der Diagnose oder auf Therapie-Kurs bist. Dein Kopf bleibt der selbe. Und feuert weiter. Greift dich an. Lässt dich zweifeln. Und je mehr du dich in Richtung Recovery bewegst, desto entscheidender scheinen die eigenen Gedanken dich manchmal sabotieren zu wollen.

It is exhausting to be fighting with myself; or, as sometimes happens, to feel like an observer of a fight between parts of myself. To be under attack and have to constantly try and defend, push back, stave off, but also rationalise, encourage, remember. To try to summon up words both to retaliate against the offensive and to build up and strengthen the defense. 

Life in a Bind

Das was es heute manchmal noch so viel anstrengender macht, ist das Bewusstsein über die Spannungen, Konflikte, Positionen, Kämpfe und Wirbel in mir drin. Früher waren sie da. Und ich musste wohl oder übel mitmachen. Durch alles, was ich in den letzten Jahren gelernt habe, ist mir vieles von dem, was in mir drin so vorgeht, sehr viel bewusster als früher.

Sometimes I feel as though I’ve exchanged the emotional exhaustion of the rollercoaster of intense and changeable feelings, for the mental exhaustion of being aware of the rollercoaster and trying to persuade myself not to get on it

Life in a Bind

Irgendwann hab ich mal zu irgendwem gesagt, dass eigentlich nicht die Tage, an den ich gegen mich selbst verliere – also mich in irgendeiner Art und Weise selbst schädige – als Niederlage sehe, sondern jeden Tag an dem ich nichts dergleichen tue, als Erfolg. Denn sich ergeben und die weiße Fahne der Niederlage zu hissen wäre ganz klar der einfachste Weg.

Am Ende des Tages sind alle Sachen, die mir nicht gut tun, nach wie vor am wirkungsvollsten. Ob das jetzt SVV oder Trinken oder Frieren oder Verkriechen oder Hunger ist. Und es braucht enorm viel Kraft, diesen Verführungen jeden Tag zu widerstehen. Sich nicht einfach zu ergeben und zu sagen „ihr habt gewonnen“.

Und manchmal bin ich einfach müde. Müde vom gegen mich selber kämpfen. Erschöpft vom Auf und Ab. Geschwächt vom Hin und Her. Dann geht für eine Weile einfach nichts mehr. Dann geht nur noch Loch. Ich krieche heute meistens nicht mehr ganz so tief ins Loch wie früher. Und bleibe da auch nicht mehr so lange. Aber die Löcher kommen noch.

Rückfall á la Borderline

Wie die Löcher aussehen? Was für mich ein Relapse ist? Ein Rückfall? Nun, erster Gedanke: zu viel trinken. Ja, kommt auch vor. Aber für mich sind Relapse noch viel mehr. Es sind Gedanken ans Ritzen. Und Tage, an denen mich die Depression so fest umklammert dass ich nicht mal mehr von der Couch aufstehe. Geschweige denn aufstehen möchte. Relapse sind Momente, Tagen und Phasen, in denen mich die Borderline mal wieder mit voller Wucht in ihre Achterbahn presst. Mit allem, was dazu gehört. Das sind die richtig fiesen Rückschläge.

Dann wackelt nicht nur meine Stimmung und Laune, sondern (so zum Beispiel in den letzten Wochen) leiden darunter mein Selbstbild, mein Selbstvertrauen, meine Zukunftspläne, meine Aussichten, meine Zuversicht. Ich stelle alles in Frage, alles. Und verliere jegliches Vertrauen in mich, in meinen Blog, in meine Mission, in meine Zukunft. Und wenn ich erstmal an diesem Punkt bin, dann kann ich sicher sein, dass die Depression bald vorbeischaut um es sich mit mir und der Borderline auf der Couch so richtig gemütlich zu machen.

Wenn ich dann auf dieser Couch, in diesem Loch sitze, kann ich mir absolut nicht mehr vorstellen, dass es jemals wieder anders werden wird. Oder dass es schon mal anders war. Dann verwandelt mein Kopf alle meine Fortschritte, Errungenschaften und Erfolge in Hirngespinste und Nichtigkeiten um. Und dann dauert es auch mal drei Wochen, bis ich euch einen neuen Artikel schicken kann. That’s Borderline-Life.

Routine bitte. Die Routine bitte!

Wie ich da wieder raus komme? Nun, die nette, positiven, bestärkenden Stimmen in meinem Kopf wohnen ja noch nicht lange dort, scheinen sich da aber ziemlich wohl zu fühlen und machen nicht gern lange Urlaub. Und selbst wenn sie nicht selber da sind, haben sie eine Art Urlaubsvertretung in Stellung, die mich dazu bringt, für mich zu sorgen. Nicht komplett nachzulassen. Weiter zu laufen. Weiter Yoga zu machen. Weiter genug zu schlafen. Weiter zu meditieren. Weiter gesund zu essen.

Ob es dann dem Duo aus Depression und Borderline irgendwann zu langweilig wird, weil ich mich nicht mehr zu so spaßigen Sachen wie Ritzen, Betrinken und Nächten vor dem Fernseher breitschlagen lasse, oder ob mein „guter Kopf“ einfach irgendwann seinen Urlaub beendet, sich in seinen Chefsessel schwingt und sagt „So, Kinder. Jetzt machen wir mal wieder Ordnung hier und klettern weiter Richtung Recovery“.

Was mir aus der Misere raus hilft ist also wieder einmal meine Ratio, die mich zwischen drin erkennen, aufsagen lässt und mir vor Augen führt, was sich alles in meinem Leben geändert hat. Was ich erreicht habe. Wie viel besser ich heute mit meiner Anspannung umgehe. Und wie viel souveräner mit den Borderline-Symptomen generell. (Beispiel: Alleine in ein Yoga-Studio gehen. Das ich nicht kenne? Wo mich keiner kennt? Früher wäre das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Heute nicht nur auf Bali, sondern auch in München geschafft. Ein kleiner Schritt für „normale“ Menschen – ein SEHR großer Schritt für die kleine, unsichere, paranoide, selbstzweiflerische Dommi!)

Und die andere Sache, die mir hilft, aus der Misere raus (oder idealerweise gar nicht erst rein) zu kommen, ist Routine. Programm. Termine. Disziplin. Nennt es, wie ihr wollt. Zusammengefasst ein Rahmen, der dafür sorgt, dass ich in der Spur bleibe, an dem ich mich festhalten kann und der den Gedanken nicht zu viel Platz lässt, um frei herumzulaufen. Leerlauf heißt ganz oft Gedankenattacken.

I meet every attack with a riposte; every pessimistic comment with a different reading; every negative interpretation with a reminder of a past positive event or word; every urge to self-destruct with a suggestion for an alternative course of action. Every barb must be dealt with; every challenge, challenged-back – if not, the words settle in, start to sink below the surface, and start to infect other parts of me.

Life in a Bind

Und genau das ist dann der Anfang allen Übels. Der erste Abzweig Richtung Relapse. Das muss ich verhindern. „Immer wachsam!“ wie Mad-Eye Moody so schön sagt. Nicht nachlassen. Dran bleiben. Auch wenn’s anstrengend ist. Und viel Kraft kostet. Aber die Alternative lautet Loch – und dann kämpfe ich doch lieber.

Als ich einmal angefangen hatte, über all die Dinge die gerade so in meinem Kopf sind, zu schreiben, gab es gar kein Ende mehr. Und damit ich euch nicht mit einem langen Text erschlage habe ich diesen Post zweigeteilt. Dies hier ist der erste Teil, den zweiten Streich lest ihr hier: Recovery und Relapse – Part B.

BPD Symptome erklärt | N°8

Lesezeit: 8 minuten

„Könntest du mir mal bitte …“ – „HALT’s MAUL! DU KANNST MICH MAL!!!“

BPD Symptome erklärt | N°8

In der Reihe BPD Symptome erklärt möchte ich euch nach und nach anhand der „offiziellen Kriterien“ des DSM die Symptome der Borderline Persönlichkeitsstörung vorstellen. Wie bei allen Beiträgen auf meiner Seite gilt: hier geht es um meine Welt, um meine Erfahrungen, um meine Ansichten. Heute geht es zu Kriterium N°8:

Unangemessene, sehr heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren

Das vorletzte Symptom auf der Liste ist die Wut. Und zwar eine Wut, die häufig viel zu heftig ist, plötzlich kommt und sich schwer zügeln lässt. Aber sie nicht rauszulassen, ist auch keine Lösung – denn dann sammelt sie sich im Inneren an. Eine Gratwanderung.


Da ist sie wieder – die Wut. Als alte Bekannte und stetige Begleiterin von mir hat sie sich schon in diverse andere Artikel geschlichen. Vor allem bei Symptom N°2 hat sie sich schon ordentlich eingemischt, sie hat ein inniges Verhältnis zur Anspannung und von der Achterbahn aus Symptom N°6 ist sie offensichtlich großer Fan. Jetzt also bekommt sie endlich ihren eigenen Text.

Wann kommt die Wut?

Wut ist definitiv ein zentrales Thema in meinem Alltag, meinem Leben. Und zu sagen, wann sie kommt ist schwer bis unmöglich. Es passiert wirklich von einem Moment auf den anderen – wie mit allen Gefühlen und Emotionen auf der Achterbahn. Gerade noch war alles schön und happy, und plötzlich scheine ich wie ausgewechselt, habe einen riesigen Knäuel aus Hass, Verachtung, Ärger und Wut in mir, der die Kontrolle übernimmt und mich wie eine Puppe benutzt. Ich denke und sage Sachen, die ich selber nicht glauben kann.

Was danach folgt ist die übliche Scham, Selbstvorwürfe und Co. Was ist da denn gerade schon wieder mit mir passiert? Und warum hab ich nichts dagegen getan? Ich bin ein schlimmer Mensch und niemand sollte in meiner Nähe sein! Und so fort.

Das ist jedenfalls die eine Variante. Dass ich die Wut, in dem Moment, in dem sie über mich kommt, rauslasse. Das ist meistens nicht sehr schön für mich und meine Umgebung (meistens Arvid), aber die Sache ist insgesamt dann doch recht schnell wieder vorbei.

Die zweite Variante ist allerdings die, mit der ich eigentlich mehr Erfahrung habe. Und bei dieser Variante darf die Wut nicht raus. Äußerlich merkt man mir kaum etwas an. Aber in mir drin kocht und tobt und schreit es. Dass ich mit dieser Variante sehr viel vertrauter bin als mit dem Rauslassen, hat hauptsächlich zwei Gründe:

  1. Meine Ratio. Mein Verstand. Meine Erziehung. Mein Über-Ich. Mein pausenloser Kopf – egal, wie ich es nenne, was bei raus kommt kommt aufs gleiche raus: ich bin mir durchaus bewusst, dass es Situationen, Orte, Umgebungen und Momente gibt, in denen es einfach nicht angebracht ist, auszuflippen. Rumzupöbeln. Laut zu werden. Unfreundliche Dinge zu sagen. Bei anderen Betroffenen ist das nicht so und durch ihr Verhalten schießen sie sich so immer wieder ins Aus. Bei mir hat das Nicht-Rauslassen andere Konsequenzen, wie ihr gleich lesen werdet.
  2. Vor meiner Diagnose – und zum Teil auch jetzt noch – wollte ich einfach nicht, dass jemand etwas merkt. Merkt, dass ich „komisch“ bin. Merkt, dass ich „verrückt“ bin. Merkt, dass es es mir nicht gut geht. Ich wollte mit allen Mitteln vermeiden, dass mir jemand Fragen stellt. Fragen zu mir. Und unbegründete Wutausbrüche oder ähnliche wut-motivierte Verhaltensweisen hätten definitv zu Fragen geführt.

Nicht rauslassen…

… ist auch keine Lösung. Denn nur weil ich die Wut nicht zeige, heißt es nicht, dass sie nicht da ist. Und vor allem nicht einfach so verschwindet. Nein, ganz im Gegenteil. Die Nicht-Beachtung macht die Wut nur noch größer. Die Wut wird noch wütender. Und kommt dann in einem Moment wieder raus, in dem meine Abwehr unten ist.

Wie es aussieht, wenn ich schreie oder laut werde oder schimpfe kann man sich wahrscheinlich leicht vorstellen. Aber wie es sich anfühlt, diesen riesigen schwarzen Klumpen in mir drin zu halten – da wird es schon schwerer. Wenn der ganze Körper tobt und pocht und platzen möchte, man aber weiter ruhig aussieht. Wenn Hirn und Geist Worte formen, mit krassen Gedanken um sich schmeißen. Wenn die Gefühle und Emotionen wie eine Horde hungriger Kampfhunde aus dem Fassaden-Gefängnis raus möchten. Wenn das Herz so wild schlägt, dass sich das Blut anfühlt als wäre es aus Blei, weil man es überall spüren kann und man jeden einzelnen Pulsschlag merkt.

Und sich dann nichts anmerken lässt.

Lange lief das bei mir so. Ich habe die Wut heruntergeschluckt. Immer und immer wieder geschluckt. Bloß nicht rauslassen. Bloß nicht zeigen. Bloß nicht auffallen. Bloß keine Fragen. Das Ergebnis gleicht dann einem Kochtopf. Je mehr Wut, desto voller wird der Topf. Je öfter ich die Wut einsperre, desto heißer wird die Platte. Bis der Topf irgendwann zu klein wird und die Wut sich ihren Weg bahnt. Das war dann oft der Moment an dem die Selbstverletzung oder andere selbstschädigende Verhaltensweisen die Bühne betreten.

Dann richte ich alle Wut, die ich eigentlich mal auf andere hatte, gegen mich selbst. Statt anderen böse Worte an den Kopf zu werfen mach ich mich selbst kaputt. Und leider hilft bzw. funktioniert das mal wieder verflucht gut. Das Loch war da. Der Topf ist wieder leer. Das Spiel kann von vorne los gehen.

Wirklich Wut?

Ach ja, ihr fragt euch bestimmt noch: Wut auf was? Auf mich, auf andere, auf das Leben, auf eine Kleinigkeit, auf ein Wort, auf einen Satz, auf einen Blick, auf ein Ereignis, auf Nichts. Da gibt es kein Rezept. Oder anders gesagt: nichts, wirklich gar nichts, ist sicher vor der Wut. Nicht mal „nichts“ ist sicher vor der Wut. Denn oft ist genau das der Auslöser. Nichts. Nichts bestimmtes. Nichts greifbares. Nichts objektives. Sondern sie ist einfach da.

Aber so ganz stimmt das wohl nicht. Denn wie ich inzwischen gelernt habe, ist die Wut bei mir und vielen anderen Borderline-Betroffenen eigentlich ein Folgegefühl.

Folgegefühle sind eine vertrackte Sache, da sie so gut darin sind, den eigentlichen Ursprung zu verbergen. Die Wut legt sich gerne über ihre Gefühlskollegen. Besonders oft über Trauer, Unsicherheit, Ängste, Schmerz und ähnliche Kumpanen. Denn all diese Gefühle sind (für Borderliner) noch weitaus unangenehmer als Wut. Mit Wut kann man umgehen. Wut kann man rausschreien. Für Wut kann man Worte finden.

Sich mit den eigentlichen Gefühlen zu beschäftigen, ist da noch weitaus unangenehmer. Also passiert es zum Beispiel, dass ich Arvid anschreie wenn ich eigentlich gerade ängstlich, traurig oder verletzt bin. Das zu erkennen Bedarf viel Übung und hilft in dem Moment direkt nicht viel weiter.

Was man aber tun kann, ist, sich nach einem Wutausbruch zu fragen, ob es einen Grund für die Wut gab oder ob dahinter vielleicht was anderes steht. So lernt man sich und seine Mechanismen nach und nach besser kennen und kann an wunden Punkten arbeiten, die lange einfach mit Wut übergepinselt wurden.

Für Betroffene und ihre Angehörigen ist es daher enorm wichtig zu versuchen, hinter die Wut zu schauen.

Mein Wut-Weg

Die Wut steht im Weg – aber je mehr ich mich über sie ärgere, desto mehr freut sie sich. Was tun also? Ich kann versuchen, sie immer wieder an die Hand zu nehmen und zurück in ihr Zimmer zu bringen. Und die Tür zu machen. Abschließen geht nicht. Den Schlüssel hab ich weggeworfen. Denn eine Zeit lang hab ich es ja genau damit probiert: sobald die Wut da war, hab ich sie in ihr Zimmer geschickt. Türe zu. Schlüssel rum damit draußen Ruhe ist. Aber damit war die Wut ja nicht weg. Sie hat sich in ihr Zimmer gesetzt und geschmollt. Und heimlich Einladungen an ihre Freunde geschickt.

So stand ganz bald zwar nicht die gleiche Wut, aber eine sehr ähnliche bei mir vor der Tür.  Ich konnte das nicht unterscheiden, Für mich stand meine Wut also bald wieder da, überraschend und unerwartet. Dieses Spiel wiederholt sich dann ein paar Mal. Bis das Zimmer irgendwann zu voll wird und die Wut-Bagage eine spontane, unerlaubte Party veranstaltet und mich ins Loch schickt.

Was Meditation, Selbstfürsorge und Co erreichen können ist, dass die Wut nicht mehr so oft aus ihrem Zimmer kommen möchte.  Ich richte der Wut das Zimmer quasi schön ein, damit sie gar nicht mehr raus kommen will. Besonders, wenn draußen so fleißige Türsteher-Gesellen wie Gelassenheit und Achtsamkeit warten. Da wollen dann auch die Wut-Freunde irgendwann nicht mehr vorbei kommen.

Meine Wut hat sich also inzwischen verändert. Sie ist quasi erwachsen geworden. Lange Zeit gab es für die Wut nur einen Weg – nach innen. Und dann durch selbstschädigendes Verhalten wieder raus. Das passiert auch heute noch, aber nur noch 4 Mal im Jahr statt 4 Mal in der Woche.

Zum Einen habe ich heute andere, bessere, wirksamere, gesundere Wege, um angestaute Wut abzubauen. Vor allem Sport. Und Schreiben. Und zum Anderen hat mir besonders die Achtsamkeit dabei geholfen, nicht mehr ein ganz so hilfloses Opfer für die Wutausbrüche zu sein wie früher.

Heute gelingt es mir öfter, einen Schritt zurück zu treten. Quasi von außen zu beobachten, was mit mir los ist. Ich kann Abstand von meinen Gefühlen nehmen und so sehen, dass ich eine Wahl habe.

Ich bewerte heute wesentlich weniger als früher. Auch eine Folge von Achtsamkeit und Meditation. Denn „Die Bewertung ist der Weg ins Gefühl“. Wenn ich denke, der Mensch vor mir geht viel zu langsam. Und bestimmt macht er das um mich zu ärgern. Und schon ist da ein negatives Gefühl. Objektiv betrachtet geht der Mensch vor mir langsam. Und dann habe ich die Wahl, mich darüber zu ärgern, ihn zu überholen, oder selber auch langsamer zu gehen.

Diese Wahlfreiheit ist ein großes Geschenk und hart erarbeitet. Und hat mein Leben enorm erleichtert.

Borderline-Wut oder normale Wut?

An dieser Stelle hab ich auch das Gefühl, nochmal eine „Warnung“ aussprechen zu müssen. Und zwar eine Warnung davor, dass nach einer Borderline-Diagnose jedes Gefühl und jedes Wort auf die Störungs-Waage gelegt werden. Borderliner sind auch – und vor allem in erster Linie – nur Menschen. Die auch wütend sein dürfen.

Wenn jemand ungerecht zu mir ist, mich angreift oder es sonst einen Grund gibt, wütend zu werden, dann darf ich das auch. Ohne gleich Angst vor der Borderline haben zu müssen. Wie jeder andere kann ich mich über meine Mitmenschen ärgern oder über sie schimpfen.

Der Unterschied zur Borderline-Wut ist, dass es bei der „normalen Wut“ einen Grund gibt, so wütend zu sein. Und zwar einen objektiven Grund, den die meisten anderen Menschen nachvollziehen können. Ganz anders bei der Borderline-Wut. Oft findet sich hier zwar ein (fadenscheiniger) Grund, aber warum genau man in dem Moment so unglaublich wütend ist, kann man eigentlich gar nicht erklären. Neben dieser Grundlosigkeit sind vor allem Unangemessenheit in Zeitpunkt und Heftigkeit Merkmale der Borderline-Wut.

Was tun? | Angehörige

Bei Wut-Variante 1, wenn sie raus darf, ist das Blödeste, dass sie für mich als Betroffene oft genau so schnell geht wie sie gekommen ist – ein altbekanntes Problem bei der Borderline Persönlichkeitsstörung: Ich bin schon wieder fünf Gefühls- und Gedankenwelten weiter während mein Gegenüber immer noch versucht zu verdauen, was ich ihm da gerade an den Kopf geworfen oder geäußert habe.

Das heißt für die Angehörigen mal wieder: Ruhe bewahren. Wenn irgendwie möglich. Lasst euer kleines Rumpelstilzchen eine, zwei oder auch fünf Minuten toben. Setzt euch imaginäre Schallschutzkopfhörer auf, denkt an einen lustigen Film oder ruft euch Momente in den Kopf, wenn es schön und entspannt war mit eurem Borderliner. Versucht, hinter die Wutfassade der Krankheit zu sehen und den Menschen zu suchen, der euch wichtig ist. Lasst euch nicht mitreißen vom schwarzen Strom – wahrscheinlich wisst ihr besser als jeder andere, dass euer Boot in wenigen Minuten wieder in ruhigen Gewässern sein wird.

Wenn die Wut sich aber erst gar nicht nach außen zeigt, dann könnt ihr als Angehöriger erstmal wenig tun. Was ihr in Zusammenarbeit mit eurem Borderliner probieren könnt, ist, nach einem Ausbruch der eingesperrten Wut den Weg zurückzugehen, Situationen durchzusprechen, Missverständnisse zu klären und so weiter.

Was tun? | Betroffene

Den Betroffenen möchte ich vor allem zwei Dinge raten:

  1. Senkt eure Grundanspannung, denn dann kann die Wut auch seltener durchbrechen. Ich weiß, einfach mal die Grundanspannung senken ist nicht drin – aber durch eine gute Therapie, Meditation, Achtsamkeit und einer Portion Selbstfürsorge könnt ihr viel bewegen und erreichen. Ich werde und kann euch nicht versprechen, dass ihr die Wut los werdet. Bei mir hängen all diese Dinge sowie Anspannung und Wut sehr eng zusammen. Aber ich habe für mich und bei mir festgestellt, dass die Wut mich nicht mehr so oft mitreißen kann wie früher.
  2. Keine Entscheidungen, Nachrichten, Käufe oder sonstige, nur schwer zurücknehmbare Dinge tun. Wenn die Wut neben dir steht oder sitzt oder geht, dann akzeptier das in dem Moment. Und sei dir klar, dass du gerade nicht du selbst bist. Sondern unter dem Einfluss von ihr stehst. Die Wut möchte ziemlich viel Aufmerksamkeit – wenn du sie also akzeptierst und so gut es geht ignorierst, wird ihr schnell langweilig und sie verschwindet wieder.

Ziele einer Behandlung müssen sein

  • andere Ventile für die angestaute Wut finden – Skills statt Selbstschädigung
  • mit professioneller Hilfe ergründen, welche Gefühle sich hinter der Wut verbergen
  • durch Achtsamkeit lernen, der Wut nicht mehr so einfach die Kontrolle zu überlassen

Auf borderlinepersonalitytreatment haben sie noch ein paar weitere Tipps zusammengestellt, wie man als Betroffener mit der Wut umgehen kann.

So, liebe Wut. Ich hoffe du bist zufrieden mit deinem Artikel. Und jetzt geh in dein Zimmer.